Von Klaus Hammer
Er war ein Bahnbrecher der modernen Baukunst, seine Ideen hat er nicht nur an seine Schüler an der Akademie der Bildenden Künste, sondern an die internationale Fachwelt weitergegeben. Er hat sie auf die lapidare Formel gebracht: „Was nicht brauchbar ist, kann auch nicht schön sein“. Das war 30 Jahre vor der Gründung des Weimarer Bauhauses, das diese Ideen popularisieren sollte. Wien bot Otto Wagner (1841-1918) eine Klientel, die reiche Privatleute waren, die die Verwaltung, die Finanzwelt oder den Hof repräsentierten, und man ließ ihm in der Ausführung meist völlig freie Hand. So entstanden das Gebäude der Länderbank Am Hof, das Kaufhaus Neumann, die Stationen der Wiener Stadtbahn (1894-1897) und der diesen zuzuzählende Hofpavillon in Hietzing, schließlich (1905) die Postsparkasse mit ihrer Freiheit der Raumgestaltung und der großzügigen Verwendung von Glas, Stahl und Aluminium. Am Ankerhaus (1894) am Hohen Markt hängen Glasscheiben vor Stützpfeilern – Otto Wagner hatte den Jugendstil schon seit dessen Geburt in sein Werk integriert und ihm an jenen Teilen seiner Bauten dekorative Entfaltung zugestanden, wo keine Beeinträchtigung der architektonischen Linien drohte. Als Dekorationsmaterialien dienten ihm vorwiegend Keramik und Metall, meist Schmiedeeisen. Auf diese Weise gelang es dem Architekten, Konstruktionen von rationeller Kargheit mit Jugendstilakzenten zu versehen.
Es bedarf nicht des Hinweises, dass Wien mehr zu bieten habe als nur den Wiener Walzer oder das Rezept für Mozartkugeln – an den Bauten von Otto Wagner kommt kein Wien-Besucher, mag er noch so ahnungslos sein, vorbei. Auf dem Karlsplatz fallen ihm unweigerlich die Pavillons ins Auge. An der Linken Wienzeile kann er nicht vorbeigehen, ohne die Ornamentik der Wagner-Häuser zu bewundern. Und ebenso wenig wie das ganz mit Keramik verkleidete und florale Motive in gedeckten Farben zeigende Majolika-Haus ist das Postsparkassenamt mit seinen ungewöhnlichen äußeren Merkmalen zu übersehen. Die Kunsthistorikerin und Universitätsprofessorin M. P. A. Sheaffer, eine Kennerin Otto Wagners und des Jugendstils, lädt den Leser – und natürlich den Wien-Besucher – ein, mit ihr auf den Spuren Otto Wagners in Wien zu wandeln. Auf neun Entdeckungstouren begibt sie sich kreuz und quer durch Wien, von den Außenbezirken über die ehemalige Vorstadt in die Altstadt, beschreibt anschaulich die Wagner-Bauten und vergisst dabei auch die Fahrtwege mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und die Zeitangabe für jede Tour nicht.
Gleich die Tour 1 beginnt mit einem Paukenschlag: die beiden Wagner-Villen in der Hüttelbergstraße, die Villa Vojcsik in der Linzer Straße und die eindrucksvolle Kirche am Steinhof, ein Zentralbau mit kreuzförmigem Grundriss. Diese gibt hoch oben am Berg mit ihren strahlenden weißen Wänden und ihrer goldenen Kuppel, den Heiligen und Engeln ein prachtvolles Bild ab. Ihre Kuppel erinnert noch an Barocklösungen, aber die Gliederung seiner Marmorflächen, das einfache Gesims mit Kranzfries und die figürlichen Dekorationen weisen sie, wenn auch im Kirchenbau ungewohnt, als eine Schöpfung des Wiener Sezessionsstils aus. Die Verfasserin vergleicht sie mit der Heilig-Geist-Kirche von dem Wagner-Schüler Josef Plecnik auf der Schmelz, der ersten Kirche in Wien, in der Eisenbeton verwendet wurde. Sieht diese von außen wie ein griechischer Tempel aus, so erinnert das Innere an eine frühe christliche Basilika und macht einen hellen, strahlenden Eindruck. Die Tour 2 führt dann zu Wagners Nußdorfer Wehr, nicht nur ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, sondern auch ein Gesamtkunstwerk, wie es ganz Wagners Vorstellung entsprach: Es sollte eine triumphale Einfahrt zu Wasser in die Kaiserstadt des Habsburgerreiches bilden.
Immer gibt die Verfasserin dabei auch Tipps, wo sich Wagner noch aufgehalten hat bzw. wo seine weiteren Wirkungsstätten waren, welche anderen Sehenswürdigkeiten man auf dem Weg nicht vernachlässigen sollte, wo man getrost einkehren kann usw. Dabei verwirren allerdings die vielen „oder“, die immer andere Routen und Alternativen vorschlagen, nicht wenig. Eine Konzentration auf die Wagner-Objekte wäre doch praktikabler gewesen, denn welcher Wien-Besucher folgt schon exakt den in einem Reiseführer angegebenen Wegen. Jeder stellt sich doch selbst seine eigenen Erkundungswege zusammen.
Einem ganz „anderen“ Wagner begegnet der Leser auf Tour 3: dem durch seine barocken und klassischen Merkmale majestätisch wirkenden Hofpavillon (Kaiserpavillon) – er überbrückt die obere Wientallinie, auf der jetzt die U4 nach Hütteldorf verkehrt, und ist heute Teil des Wien Museums – und dem Hietzinger Friedhof mit den beeindruckenden Grabstätten Wagners (mit ihrem kunstvollen schmiedeeisernen Dachaufsatz und Zaun) und Gustav Klimt (mit dem Schriftzug, wie Klimt seinen Namen schrieb). „Im Gleichschritt mit der Sezession“, so lautet der Titel von Tour 4, begibt man sich nun zu den Wagner-Häusern auf der Linken Wienzeile 38 und 40 und in der Köstlergasse 3, zu dem von Josef Hoffmann entworfenen Wagner-Denkmal unweit der Akademie, an der Wagner gelehrt hat, und des von Joseph Maria Olbrich, dem damaligen Chef-Konstrukteur in Wagners Zeichenbüro, geschaffenen Sezessionsgebäudes, und zu Wagners spektakulären Karlsplatz-Pavillons. Dass Wagner auch soziale Anliegen verfolgte, zeigt sich in eindrucksvoller Weise im so genannten Majolika-Haus (Linke Wienzeile 40). Dieser Bau mit seiner betont einfachen, nüchternen Fassade ist straßenseitig ganz mit Keramik verkleidet, die florale Motive in gedeckten Farben zeigt. Die große Linie der Schmiedeeisenbalustrade setzt sich seitlich an den Balkonen fort. Strukturelle Strenge paart sich mit Phantasie, einem dekorativen Einfallsreichtum, der dazu bestimmt ist, den Bewohnern des Hauses ein wenig Fröhlichkeit zu schenken.
Auf Tour 5 besuchen wir Ring, Kai und Donaukanal und nehmen hier die Wohnhäuser in der Bellariastraße 4, eines der ersten Wohnhäuser, das Wagner allein baute, in der Stadiongasse 6-8, in der Rathausstraße 3, im Schottenring 23 mit den klassischen „Tribünen-Balkons“, ein polychromes Gebäude in Terrakotta und Schwarz, das Schützenhaus, das einzige noch bestehende Gebäude der Staustufe Kaiserbad, die Station Roßauer Lände in Augenschein. Tour 6 führt vom Wohnhaus Universitätsstraße 12, wegen der vertikal über die Stockwerke herunterhängenden Ziergirlanden auch „Hosenträgerhaus“ genannt, dem Haus Garnisongasse 1 mit dem wunderschön dekorativen Eisenportal zum imposanten Gebäude der Österreichischen Länderbank, deren Apsis-Struktur dazu beiträgt, dass „die „Fenster ohne Augenbrauen“ (ohne Umrahmung) fast bündig mit der Wandoberfläche abschließen und viel natürliches Licht in den Innenraum hineinlassen. Hinzu kommen noch Wagners vornehme U-Bahn-Station Währinger Straße und weitere von ihm geschaffene Bahnstationen und Haltestellen, die bezaubernde St. Johannes-Nepomuk-Kapelle am Gürtel, deren Hauptkuppel hinten durch eine Halbkuppel und einen angeschnittenen Turm harmonisch ergänzt wird, und die majestätische, monumentale Brücke über die Zeile, die sich über die Wien spannt und die Stadt in noch nie da gewesener Weise durch zwei Bahnlinien verbindet.
Tour 7 gilt Bauwerken des Meisters und seiner Schüler und Kollegen wie dem Artaria-Haus am Kohlmarkt 9 von Max Fabiani, der Wagners Beispiel folgte und unterschiedliche Materialien für die Dekoration der Fassade verwendete, dem Goldman & Salatsch Haus am Michaelerplatz von Adolf Loos, der sich im Sinne Wagners auf das Wechselspiel edler Materialien stützte, und dem Zacherlhaus an der Brandstätte 6 von Josef Plecnik (mit den Atlanten von Franz Metzner), das durch die Verwendung von Vertikalen, die sich im mittleren Bereich über alle Etagen ziehen und die Granitplattenverkleidung strukturieren, eine dreidimensionale Wirkung hervorruft. Der Tour 8 sind die letzten Werke und das zukunftsweisende Design von Wagner vorbehalten, so die Wohnhäuser Neustiftgasse 40, Döblergasse 4 und der Wagner-Pavillon 24 in der Lupusheilstätte – hier steht das Design für eine absolute Reinheit der Form und für Rationalität –, aber auch die Stadtbahn-Projekte Wagners mit ihren weißen Stationsgebäuden, die „Inseln der Schönheit im geschäftigen Alltag der Benutzer und im Stress des Stadtlebens“ (M.P.A. Sheaffer) sein sollten.
Krönender Abschluss bildet die Tour 9 mit dem Stadtpalais Wagners am Rennweg 3, einem Renaissancegebäude im Palazzo-Stil, und dem wohl unbestreitbaren Hauptwerk des Meisterarchitekten, der Postsparkasse in Wien, deren Schauseite fast ausschließlich aus dreiteiligen Fenstern ohne Umrahmung besteht. Ein Risalit bildet den Mittelteil, über dem Hauptgesims befindet sich eine an den Ecken mit Figuren gekrönte Attika. Der Eingang wird durch ein Vordach und einen darüber angeordneten Balkon betont. Farbige Verkleidungen überziehen die Flächen der Fassaden. Besonders schön und richtungweisend für die Weiterentwicklung ist der Kassenraum. Dort gibt es keine dekorativen Elemente mehr. Nur die diszipliniert eingesetzten Bauformen dominieren, die organische Einheit der Eisen- und Glasarchitektur tritt klar zutage.
Nützlich ist das dem Wien-Führer beigegebene Glossar architektur- und kunsthistorischer Begriffe wie der Namen der im Band erwähnten Architekten, aber noch viel nützlicher wäre ein Register der hier erläuterten Wagner-Bauten gewesen, die man nun sehr umständlich in den einzelnen Touren aufsuchen muss.
Nebenbei gesagt, bei ihren Aufenthalten in Wien nimmt die Verfasserin Quartier in einem der Wagner-Häuser, ein Privileg, das dem Benutzer ihres so instruktiven Buches verwehrt bleibt.
Literaturangabe:
SHEAFFER, M. P. A.: Jugendstil. Auf den Spuren Otto Wagners in Wien. Deutsch und Englisch. Pichler Verlag, Wien 2010. 232 S., 24,95 €.
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