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Ligetis „Gesammelte Schriften“

© Die Berliner Literaturkritik, 20.01.09

 

Der in Siebenbürgen geborene Komponist György Ligeti kam 1956 aus Ungarn in den Westen und wurde alsbald durch eine spezifisch musikalische Kombinationstechnik von Ahnung, Bewusstheit und Kenntnis bekannt, wie es Ulrich Dibelius 1988 in seinem Ligeti-Porträt schreibt: „Es ist, als habe Ligeti versucht, sich selbst zu entkommen, noch mehr freilich den bedrängenden Erwartungen anderer.“ Und in der Tat widerspiegelt sein Werk gewisse Widersprüchlichkeiten und Richtungswechsel – das macht es auch umso interessanter. Während sich in seinen berühmt gewordenen „Atmosphères“ (1961) alsbald eine musikalische Sackgasse zeigt, kennzeichnen seine „Aventures“ (1962) ein Ausscheren aus jeder Tradition. Sein „Requiem“ (1963) ist ein Ausbruch aus jeglichem möglichen musikalischen Fundament. Als die „Atmosphères“ in Donaueschingen uraufgeführt wurden, war die Irritation groß: Polyphone Einzelstimmen summieren sich hier zu kontinuierlichen Klangfolgen und dabei ist diese Komposition genau definiert und unterscheidet sich in ihrer Restauration von Akkordfolgen gänzlich von zeitgemäßen amorphen Klangansammlungen.

In ihrem Vorwort zu der jüngst erschienenen Ausgabe der „Gesammelten Schriften“ von György Ligeti spricht die Herausgeberin von der „heroischen Zeit“ der Nachkriegsavantgarde in Mitteleuropa, und meint damit die Kompositionskunst der fünfziger und sechziger Jahre. Die Neue Musik sei von einer verschworenen Gemeinschaft in Köln und Darmstadt, München und Donaueschingen, Paris und Mailand kämpferisch durchgesetzt worden. Dass die Herausgeberin ausgerechnet Köln als den ersten Ort dieses „Kampfes“ nennt, hängt wohl mit ihrer eigenen Person zusammen: Sie ist Mitbegründerin der (Kölner) Gesellschaft für Neue Musik und lebt dort seit vielen Jahrzehnten.

Dass Sie nun die Theorie Ligetis herausgeben kann, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass dieser Musiker neben seinem umfangreichen Kompositionswerk erstaunlich viele Texte geschrieben hat zur – wie es Lichtenfeld nennt – „kritischen Reflexion und Rechtfertigung.“ Dass Ligeti ein großer Theoretiker der „Neuen Musik“ war, ist unbestritten. Sein Aufsatz über „Form in der Neuen Musik“ (1965) beeindruckte namentlich Adorno. Ligetis Schriften strahlten ihre ganz eigene Faszination seit den ersten Jahren seiner „westlichen“ Existenz aus, so die Herausgeberin. Dabei unterschlägt sie, dass auch die Texte aus den vierziger Jahren (etwa über Neue Musik aus Ungarn) für den Komponisten ebenso wichtig waren. Sie sieht einen Bruch in Ligetis Schaffen seit seinem Umzug in den Westen und nennt es die „historische Konstellation seines Neubeginns“. Zudem behauptet sie, der Komponist sei während der ersten Jahre seines Aufenthalts im Westen primär als Theoretiker wahrgenommen und rezipiert worden. Das würde heißen, dass seine so berühmten „Métamorphoses nocturnes“ (1953) nicht gehört worden seien. Erst mit „Apparitions“ (1960) und mit „Atmosphères“ (1961) sei er auch als Komponist wahrgenommen worden. Diese allzu subjektive Ansicht – Monika Lichtenfeld bleibt ihrem Gegenstand erstaunlich unkritisch nah –  sollte eigentlich nicht in einer kritischen Edition stehen. Leider beschränkt sie sich nicht auf ihre vornehmliche Aufgabe als Editorin, sondern wird gleichzeitig zur Interpretatorin ihrer eigenen Edition.

Das Problem dieser Textausgabe ist die Editorin selbst. Bevor der Autor überhaupt zu Wort kommt, märt sich Lichtenfeld in einem vierzig Seiten umfassenden Vorwort mit dem allgemeinen Titel „Komposition und Kommentar“ aus. Sie stellt Behauptungen auf, die sie in einen biografischen Kontext bringt und mit sechsundneunzig Fußnoten belegt, inhaltlich bleibt sie jedoch deutlich ungenau. So schreibt sie beispielsweise: „Schon seit Mitte der fünfziger Jahre war als zweite große Vaterfigur der Moderne, auf die sich die junge Darmstädter Komponistengeneration (...) mit Nachdruck berief, Debussy in den Blickpunkt des Interesses gerückt.“ Diese Aussage ist so allgemein, dass sie in jedem Zeitungsartikel Platz finden könnte, sicherlich aber nicht in einem Editionsprojekt dieser Couleur erwähnt werden sollte. Lichtenfeld begründet ihre Aussage fortführend kurz und knapp: „Man entdeckte Ansätze innovativer Form- und Klangkonzeptionen, die man für die eigene Arbeit produktiv nutzen oder emphatisch als Vorbild reklamieren konnte.“ Das ist so nichtssagend geschrieben, dass es auf beinahe jeden Komponisten zutreffen könnte.

Woran liegt es, dass die Editorin derart versagt? Sicherlich nicht an mangelndem Fachverständnis, denn schließlich ist die promovierte Musikwissenschaftlerin seit fünfzig Jahren als Musikpublizistin tätig, zudem Mitbegründerin der Kölner Gesellschaft für Neue Musik und Mitglied des jährlich zu vergebenden Karl-Szuka-Preises. Zu reklamieren ist vielleicht, dass die Autorin seit ihrer (schmalen) Dissertation von vor vierzig Jahren nie mehr den Atem für eine größere Arbeit gefunden hat; sie schreibt für Programmhefte und Musikzeitschriften. Neuerdings ediert und übersetzt sie György Ligeti und Henri Pousseur (alles im Auftrag der Paul Sacher Stiftung). Das Versagen ist vermutlich darin begründet, dass sie ihrem Editionsgegenstand deutlich zu nahe steht. Sie betont mehrfach ihre Freundschaft zu Ligeti und ist eitel genug, eine Fotografie drucken zu lassen, die sie mit Evangelisti, Kagel, Ligeti und weiteren Komponisten beim Internationalen Ferienkurs für Neue Musik in Darmstadt 1958 zeigt: die einzige Frau unter Männern! Es bleibt zu fragen, was diese Fotografie in einer kritischen Edition zu suchen hat. Hier bewältigt Lichtenfeld ihre Vergangenheit – und das ganze wirkt auf den Betrachter bedrückend. Nicht zuletzt will ein potenzieller Leser schließlich etwas über Ligeti und nicht über Lichtenfeld erfahren. Die Editorin versammelt in ihrer Ligeti-Ausgabe 180 Textbeiträge, ungefähr die gleiche Anzahl wird in der beigegebenen Bibliografie nachgewiesen, diese kommen aber leider nicht zum Abdruck. Dass also nur circa fünfzig Prozent der Ligeti-Texte überhaupt veröffentlicht werden, begründet Lichtenfeld mit dem unhaltbaren Argument, „der Autor habe diese als obsolet oder marginal ausgeschieden, andere seien zu ähnlich und weitere seien Gespräche und Interviews und darum nicht abdruckberechtigt“. Nun ist bekannt, dass Autoren, die noch zu Lebzeiten ediert werden, gern an ihrem Denkmal mitbauen, dass sich die Herausgeberin das Zepter jedoch derart aus der Hand nehmen lässt, ist unbegreiflich. Sie steht ihrem Editionsgegenstand in keiner Weise kritisch gegenüber, sondern erscheint bedauerlicherweise als editorische Erfüllungsgehilfin.

Die hier edierten Texte sind eingeteilt in sechs Gruppen, die da heißen „I. Geschichte, Ästhetik, Kompositorisches Metier“, „II. Vorbilder Zeitgenossen, Freunde“, „III. Autobiographisches“, „IV. Rückblicke, Bekenntnisse, Ausblicke“, „V. Zur eigenen Arbeit“ und „VI. Werkkommentare“. Die Einteilung mutet merkwürdig an, denn es muss zwangsläufig zu Überschneidungen kommen. Selbst die Titelgebung zu diesen Gruppen führt in die Irre: Was ist etwa mit „Bekenntnissen“ gemeint? Das Ganze wirkt allzu willkürlich, verstärkt durch die Tatsache, dass die Editorin keine Rechenschaft darüber ablegt, wie es zu dieser Einteilung und Titelgebung kommen konnte. In den einzelnen Gruppen wird nach keinen strengen Editionsprinzipien sortiert; so ist Einiges chronologisch geordnet, anderes nicht. In der ersten Gruppe stammt der erste Text über Neue Musik aus Ungarn von 2002, darauf folgt ein ähnlich klingender Text aus dem Jahr 1946/49. Der erste Text der zweiten Gruppe über Dissonanzen bei Mozart ist von 1990/91, darauf folgt ein Beitrag zur Musik Mahlers von 1971/74. Einigen Komponisten (Bartok und Webern) sind ganze Untergruppen gewidmet, anderen ebenfalls möglichen Kollegen (Cerha und Kurtag) nicht. In der fünften Gruppe spricht der Komponist über seine „Artikulationen“, die „Aventures“ und die „Nouvelles Aventures“ – in der sechsten Gruppe der Werkkommentare ebenfalls. Auch insgesamt fehlt der Edition die Ausgewogenheit. So bringt der erste Band das 40seitige Vorwort der Editorin und 480 Seiten edierten Text zum Abdruck; der zweite Band zeigt 310 Seiten edierten Text und die von Lichtenfeld erstellten Bibliografie (16 Seiten) und Register (16 Seiten). Das Verhältnis von knapp 800 Seiten Editionstext und 70 Seiten Editorenwort erscheint wenig ausgewogen. Zudem stellt sich die Frage nach der Veröffentlichung in zwei Bänden (die nicht durchpaginiert sind). Die heutige Druck- und Bindetechnik schafft es spielend, ein 870 Seiten umfassendes Buch herzustellen.

In ihrem Vorwort endet Lichtenfeld mit den Worten: „Es wurde möglichst sparsam annotiert, um die Lektüre nicht unnötig zu befrachten. (...) Denn der Lektüre einer interessierten Leserschaft soll diese Edition in erster Linie dienen.“ Da bleibt nur anzumerken, dass der Wunsch der Editorin an der Realität vorbeigeht: Wer bitte soll das lesen, außer ein (musik-) wissenschaftlich interessiertes Publikum? Dass es dieses Publikum gibt, gesteht Lichtenfeld zum Schluss selbst ein, wenn sie sagt: „Eine wissenschaftliche Aufarbeitung muss späteren Studien vorbehalten sein.“ So stellt sie sich selbst das Armutszeugnis aus, denn es wäre ihre Chance (und Aufgabe) gewesen, diese „wissenschaftliche Aufarbeitung“ mit einer kritischen Edition anzustoßen. Mit der vorliegenden Edition bleibt die Frage unbeantwortet, ob nach dieser zukünftig überhaupt zitiert werden kann. „Eine wissenschaftliche Aufarbeitung kann erst sinnvoll geleistet werden, wenn weitere Quellen, namentlich Gespräche und Interviews, Mitschnitte oder Aufzeichnungen von Vorlesungen und Seminaren und womöglich auch Briefe, editorisch erschlossen sind.“ Es fragt sich – wenn die Herausgeberin all das schon erkennt –, warum sie mit ihrer Edition nicht zugunsten einer großen Ligeti-Ausgabe gewartet hat, namentlich einer kritische Edition, in der all das enthalten ist und die entsprechend alle Texte sorgfältig nachweist und in kritischer Distanz und mit ausführlichem Kommentar zum Abdruck bringt.

Die Edition der „Gesammelten Schriften“ von György Ligeti wäre eine große Chance gewesen, die die Herausgeberin Monika Lichtenfeld nicht genutzt hat. Editorische Standards sind inzwischen so hoch wie nie zuvor; keinen dieser Standards erfüllt sie mit dieser Textausgabe. Es scheint ein gegenwärtiges Editionsproblem zu sein, wenn ein jeder glaubt edieren zu können, ohne es gelernt zu haben. In den philologischen Fachbereichen vieler deutscher Universitäten gibt es editionswissenschaftliche Studiengänge, die eben das unterrichten. Eine Edition wie die vorliegende wirft die Bemühungen der Textologie um Jahrzehnte zurück und ignoriert auf fatale Weise deren mühsam erworbene wissenschaftliche Standards.

Von Achim Schleif

Literaturangaben:
LIGETI, GYÖRGY: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Monika Lichtenfeld. Schott Music, Mainz 2007. 2 Bände, 876 S., 69 €.

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