Von Susanna Gilbert-Sättele
Eine berühmte Miniatur von Frederic Chopin heißt „Minutenwalzer“, weil sie komponiert wurde, um den Augenblick festzuhalten. In Anspielung auf das Klavierstück wurde die deutsche Übersetzung des neuen Romans von Richard Mason ebenfalls „Minutenwalzer“ tituliert, spielt doch Zeit und ihre Vergänglichkeit eine eminente Rolle in diesem Familiendrama um eine erfolgreiche, bindungsscheue Investmentmaklerin, die ihre greise Mutter in einem Seniorenheim parkt und in eine tiefe Lebenskrise rutscht. Zwei Frauen, zwei Generationen und viele Schatten der Vergangenheit geben sich in der liebevoll beobachteten und verhalten erzählten Geschichte ein Stelldichein.
Die burschikose Eloise geht in ihrer Arbeit als Investmentmaklerin auf, nachdem sie vor langer Zeit vor ihrer Liebe zu dem französischen Wissenschaftler Claude geflüchtet ist. Der Bruder hat sich nach Australien abgesetzt, und so ist es an ihr, ihre alte Mutter Joan zur Aufgabe ihrer Wohnung und Übersiedlung in ein Seniorenheim zu überreden. Um ihr Gewissen zu beruhigen, reist sie mit Joan nach Südafrika, der Heimat ihrer Mutter. Als Eloise nach dem katastrophalen Scheitern eines von ihr eingefädelten Finanzcoups vorzeitig nach London zurückfliegt, sucht die zurückgebliebene Ältere auf eigene Faust nach den Spuren ihrer Vorfahren. Sie entdeckt das Tagebuch ihrer Großmutter, die während des Burenkriegs in einem britischen Konzentrationslager interniert war und dort wegen der unmenschlichen Lebensbedingungen mehrere Kinder verloren hat.
Zurück in England und einquartiert im Pflegeheim verliert sich Joan zunehmend in der Geschichte ihrer Familie. Immer weniger weiß sie zwischen Fantasie und Realität zu unterscheiden. Derweil glaubt ihre Tochter vor den Scherben ihrer Existenz zu stehen: Im Vertrauen auf einen sensationellen wissenschaftlichen Durchbruch ihres früheren Geliebten Claude hat sie ihre Investmentfirma zu halsbrecherischen Aktionen verleitet. Das schlechte Gewissen ihrer Mutter gegenüber und das Bewusstsein vom eigenen verpfuschten Leben ohne Liebe lassen sie zudem tief in ein seelisches Loch stürzen. Bis sie schließlich erkennt, was im Leben wirklich zählt.
Packend ist der Familienroman vor allem in seinen Passagen über Joans Afrikaander-Vorfahren, die während der beiden Burenkriege im zu Ende gehenden 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts alles verloren haben, deren Farmen abgefackelt und Besitz geraubt wurde, und die unter menschenverachtenden Bedingungen zu überleben suchten.
Überzeugend schildert der Brite Mason, der selbst in Südafrika geboren wurde, wie die Demenz von seiner Protagonistin Joan Besitz ergreift, und zwar so allmählich, dass selbst versierte Leser die ersten Symptome noch für den Ausdruck der blühenden Fantasie einer Künstlerin – Joan war Pianistin – halten.
Glänzend arbeitet er die Zerrissenheit der alten Dame und ihrer Tochter heraus, Joans Konflikte zwischen Halluzination und Wirklichkeit sowie beider Dilemma zwischen ihren widerstreitenden Emotionen und Beziehungen zueinander. Dagegen nähert sich der Autor seinen anderen Figuren nicht wirklich an. Auch werden die einzelnen Handlungsstränge der Geschichte zu bemüht miteinander verbunden.
Literaturangaben:
MASON, RICHARD: Minutenwalzer. Kindler Verlag, Reinbek b. Hamburg 2008. 630 S., 19,90 €.
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