MÜNCHEN (BLK) – Nach der Sommerpause erscheint im September 2011 bei Riemann „Können Sie strippen? Aus dem Alltag einer Jobvermittlerin“ von Ina Freiwald. Freiwald schrieb unter anderem „Stützstrümpfe unterm Minirock. Das harte Leben der Frauen über 30.“
Klappentext: Joblos glücklich? Wenn das so einfach wäre ... Was Arbeitslose ärgert, antreibt, und was die Arbeit mit Ihnen so anstrengend macht. Arbeitslosigkeit kann jeden treffen. Da gibt es Hape. Er hat mit 25 Jahren drei abgebrochene Lehren hinter sich und rebelliert gegen das System. Die Porno-Branche erscheint ihm als reizvoller Arbeitgeber. Ex-Filialleiter Heiko Bloom musste kürzlich erst seinen Porsche verkaufen, Zirkuskind Nelly saß zwei Jahre wegen Drogendelikten ein. Die zwei Cousins aus Kasachstan beantworten Fragen stets mit einem Lächeln, denn sie verstehen kein Wort Deutsch. Adriano erscheint eine feste Stelle so abstrakt wie eine Besteigung des Mount Everest, schließlich leben Vater und Großvater seit Jahren von der ARGE. Und dann sind da noch die schrullige Ulla Schubert, mit 51 Jahren zu alt fürs deutsche Arbeitsleben, und der fusselhaarige Björn, der sich mit Tollpatschigkeit und Tobsuchtsanfällen vor jeder Job-Chance drückt. Was sie gemeinsam haben? Sie werden von ihrer ARGE-Fallmanagerin dazu verdonnert, an einem Trainingsseminar bei Ina Freiwald teilzunehmen, das sie wieder fit für den Arbeitsmarkt machen soll. Die ehemalige Klatschreporterin und inzwischen profilierte Dozentin bietet neben dem üblichen Programm wie Bewerbungsgespräche, Lebensläufe und Praktika auch Goethelesungen und Hausbesuche. Hier erzählt sie von ihren Erlebnissen mit der schrägen Realität des Sozialstaats Deutschland. Wer wissen will, was sich hinter den geschönten Statistiken der Agenturen wirklich verbirgt, sollte dieses Buch lesen.
Ina Freiwald ist studierte Theaterwissenschaftlerin, freie Journalistin und Autorin. Sie veröffentlichte schon mehrere Frauenbücher und gibt neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit Seminare in Rhetorik und bietet darüber hinaus Schreib- und Bewerbungskurse an.
Leseprobe:
©Riemann©
Das Heiligste, das der Deutsche hat, ist die Arbeit. Kurt Tucholsky, deutscher Journalist und Schriftsteller, 1890 -1935
Prolog
Was sagt ein arbeitsloser Physiker zu einem, der Arbeit hat?
„Eine Tüte Pommes, bitte!“
Jaja, haha. Nicht wirklich komisch. Dass Akademiker Taxi fahren oder Kinotickets abreißen, ist schließlich nichts Neues.
Seit ich aber als Dozentin und Jobvermittlerin auch Physiker bei ihrer Jobsuche begleite, ebenso wie zahlreiche Metaller und Schweißer, Lageristen oder Büro- und Einzelhandelskaufleute, seitdem weiß ich mit Sicherheit: Kein arbeitsloser Physiker würde einen so begehrten Job wie Pommesverkäufer bekommen.
Unsere Auftraggeber sind in erster Linie die Arbeitsagenturen und Jobcenter (ARGEn). Für die Glücklichen, die noch nie mit solchen Institutionen zu tun hatten: Die Agenturen für Arbeit kümmern sich um Leute, die direkt aus dem Job heraus Arbeit suchen und das noch nicht länger als ein Jahr. Die ARGE (Abkürzung für Arbeitsgemeinschaften nach dem SGB II, auch bekannt als „Jobcenter“) sind für die angehenden oder bereits etablierten Langzeitarbeitslosen zuständig. Während Erstgenannte das klassische Arbeitslosengeld zahlen, beziehen die Betreuten der ARGE Hartz Vier. Da die staatlichen Arbeitsvermittler unter Erfolgsdruck stehen, weisen sie uns gerne sogenannte „Karteileichen“ zu: Teilnehmer, die aus unterschiedlichen Gründen äußerst schwer zu vermitteln sind. Der Vorteil für unsere Auftraggeber: Sie müssen sich einige Wochen oder Monate nicht um diese arbeitslosen Kunden kümmern und haben sie gleichzeitig aus der Statistik. Denn komplett alle an Bildungsträger vermittelten Arbeitslosen wie Ein-Euro-Jobber, Kurzarbeiter oder mit ARGE-Geldern unterstützte sozialversicherte Geringverdiener sind offiziell in Arbeit.
Obwohl sich viele Teilnehmer (vor allem Langzeitarbeitslose) zu uns Bildungsträgern abgeschoben fühlen und nicht wirklich freiwillig mitmachen, haben sie meist etwas von unserer Arbeit. Wenn sie wollen, können wir viel erreichen. Wenn sie nicht wollen, können sie mir das Leben zur Hölle machen. Und sich selbst übrigens auch.
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ERSTES KAPITELl
Ich bin alt, und ich brauche das Geld
Wie ich mich selbst in einen neuen Job vermittele
Angstvoll starre ich in meinen Kleiderschrank. Sind das wirklich meine Sachen? Graue Blazer, schwarze Blazer, Blazer mit dunkelblauen Nadelstreifen. Als ob ich mein halbes Leben im diplomatischen Dienst verbracht hätte. Die andere Fraktion: verwaschene Gammelklamotten mit ausgebeulten Knien und ausgefransten Ärmeln. Äußerst bequem beim Telefonieren, Zeitunglesen und In-die-Tasten-Hacken.
Mein Kleiderschrank verweigert sich. Er versteht meine neuen Ansprüche nicht. Ich brauche ein Aussehen, das mich sicher und gleichzeitig sympathisch macht. Nicht zu überheblich wirkend und dennoch taff und souverän. Empathisch und verständnisvoll. Mit einer Riesenschulter zum Anlehnen, vielleicht auch zum Ausweinen. Etwas wirklich Soziales. Knuffiges, Aufmunterndes. Ein Outfit, das zu Arbeitslosen passt.
Denn heute ist mein erster Tag als Jobvermittlerin. Acht Wochen lang plus fünfwöchiger Erprobungsphase werde ich eine Gruppe Arbeitsloser coachen, mit ihnen ihre Bewerbungsunterlagen erstellen, sie mental aufbauen und dann ins Praktikum bringen beziehungsweise am besten gleich in einen sozialversicherten Job.
Was Arbeitslose wohl selbst so tragen? Gibt es für sie interne „No goes“? Oder andersherum: Klamotten mit Wiedererkennungseffekt? Mit heimlichen Codes? Nach dem Motto: „Hey, guck mal, die mit dem braunen Rolli, das ist ja eine von uns! Mensch, seit wann bist du denn ohne Job? Lass mich raten – drei Jahre? Siehst du, da lag ich richtig. Habe ich einzig und allein an deinem Rolli erkannt …“ Auf jeden Fall müssen Arbeitslose bestimmt ziemlich sparen. Sieht man ihnen das an, oder wirken sie äußerlich noch perfekt angepasst?
Einige von akuter Arbeitslosigkeit Betroffene kenne ich zwar auch, aber das sind gut situierte Akademiker aus meinem Freundeskreis. Die tragen ihre Wollpullis mit Kashmiranteil einfach weiter und antworten auf die Frage „Wie geht‘s dir denn so?“ entspannt, fast gelangweilt: „So eine Zwangspause ist wie eine kleine Flucht, herrlich!“
Die richtigen Arbeitslosen haben in meiner Vorstellung etwas bedrückend Hoffnungsloses. Weil sie rauchen, ständig Cola trinken und sich schlecht ernähren, sind sie aufgeschwemmt oder viel zu mager, und von ihren Rucksäcken baumeln zum Trost gegen die Alltagstristesse ausgeblichene Diddl-Mäuse. Wahrscheinlich sind sie wütend und hassen mich. Hassen den Unterricht, und dass sie da sein müssen. Statt auszuschlafen, Nutella direkt aus dem Glas zu löffeln, Hotlines abzutelefonieren, Gerichtsshows zu gucken. Ihre Blicke auf mich und meine Mission werde ich ab heute aushalten müssen. Dumpfe Blicke, schwer und hassgeladen.
Ich greife nach einem Paar Röhrenjeans und einer Blümchenbluse. Richtig arbeitslos war ich selbst übrigens noch nie. Nur selbständig. Erfolglos selbständig. Tatsächlich verlief mein Leben die letzten sieben Jahre nicht gerade staatstragend. Tag für Tag hockte ich schon frühmorgens an meinem Rechner. Nach ungefähr einer Stunde Tippen waren meine Finger auch bei sonnigem Wetter und hochgedrehter Heizung Mini-Eiszapfen, mein Gesicht halb abgefroren. Diese absurde Körperreaktion nennt man „Schreibkälte“. Dann griff ich meine beigefarbene, von Wollknubbeln übersäte Strickjacke und zog meine grauen Armstulpen mit dem Zopfmuster über.
Vormittags so gegen zehn und nachmittags so gegen drei ergänzte ich meine Erscheinung einer obdachlosen Depressiven mit lilageblümten (damals absolut unhippen) Gummistiefeln, weil unsere Hündin Gwendolyn dringend raus musste. Da ich sowieso draußen war, fuhr ich vom Wald aus häufig bei unserem Dorf-Edeka vorbei. Dort habe ich dann oft erst bemerkt, dass ich anders aussah als die anderen Frauen mit ihrem strahlenden Teint unter den akkuraten Helmfrisuren.
Ich war zwar nicht arbeitslos, aber ich sah so aus. Und sie, das ist das Schlimmste, bemerkten es auch.
Eifrig und unermüdlich schrieb ich Texte für Frauenzeitschriften, Politmagazine und Tageszeitungen. Verarbeitete einen verkorksten Dänemarkurlaub mit einem anderen Pärchen in einem Artikel mit dem Titel „Psychofalle Ferienhaus“, berichtete von der gruseligen Renaissance der Bogenjagd in deutschen Wäldern und recherchierte nach dem Errichten eines Funkmastes in unserer Straße über die Strahlenbelastung in den Zügen der Deutschen Bahn.
Arbeitslos war ich nicht, aber mein Stundenlohn entsprach manchmal nicht einmal dem meiner babysittenden älteren Tochter. Bis zu einer Woche brauchte ich im Durchschnitt für eine ausgebuffte Idee, die anschließende Recherche und das Verfassen des Artikels. Die schlecht zahlende Tagespresse ließ dafür 150 Euro springen, gut zahlende Zeitschriften höchstens 800.
Mein Karriereknick ist jetzt elf, tanzt und singt gerne und heißt Leona. Bei ihrer Entstehung war ich Ende dreißig, hatte bereits zwei schon deutlich ältere Kinder und gerade einen unbefristeten Vertrag bei einer auflagenstarken TV-Zeitschrift abgeschlossen (die dritte Redaktion in sechs Jahren). Die Unterschrift des Chefredakteurs war noch nicht trocken, zack, war ich wieder schwanger. Nicht von langer Hand geplant, aber kurzfristig gewollt. Der arme Kerl dachte wahrscheinlich auch: Lieber Himmel, ist die blöd, die alte Kuh.
Eine feste Bank bilden im Rahmen meiner journalistischen Selbständigkeit die monatlich fünf bis zehn Artikel für die örtliche Tageszeitung. Statt früher im Bayerischen Hof mit Heinz Hoenig Whisky zu schlürfen, sitze ich jetzt auf Jahreshauptversammlungen der Feuerwehren und Proklamationen der örtlichen Schützenvereine. Ich portraitiere Paare, die seit 75 Jahren verheiratet sind, und auf der klischeebeladenen Kaninchenzuchtausstellung habe ich mich auch schon getummelt. Vorteil: Ich ärgere mich nicht mehr über Textchefs, und meine Texte werden genauso abgedruckt, wie ich sie schreibe. Nachteil: Ich bin wieder genau auf dem Karriereniveau, auf dem ich vor zwanzig Jahren meine journalistische Laufbahn startete.
In besagter Zeitung entdeckte ich eines Tages die Anzeige: „Bildungsträger sucht Dozent/in“. Flugs stellte ich meine Bewerbungsunterlagen zusammen und ließ mich von meinem Ehemann in günstigem Licht fotografieren. Das Vorstellungsgespräch mit dem Bildungszentrumsleiter dauerte zwanzig Minuten und war gänzlich unproblematisch. Er bot mir einen Kaffee an, blätterte in meinen Unterlagen, nickte, freute sich über mein abgeschlossenes Theaterwissenschaftsstudium, meine drei Bücher sowie über meine zwölf Jahre Erfahrung mit Rhetorik- und Schreibkursen bei regionalen Volkshochschulen. Nach dieser Hürde durfte ich quasi von heute auf morgen als Jobvermittlerin durchstarten.
Die telefonische Vorbesprechung mit der Standortleiterin Vera Twesten war ebenfalls recht knapp verlaufen: „Du coachst eine Gruppe von 14 Teilnehmern. Sechs Nationalitäten, darunter ein Ehepaar – das wird anstrengend. Der Kurs beginnt am 19. April und endet am 23. Juli. Mitte Juni dürfen alle ins fünfwöchige Praktikum.“
Es regnet. Ist das ein gutes oder schlechtes Omen?
©Reimann©
Literaturangabe:
FREIWALD, INA: Können Sie strippen? Aus dem Alltag einer Jobvermittlerin. Riemann Verlag, München 2011. 250 S., 16,95 €.
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Riemann