MÜNCHEN (BLK) – Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat im Mai 2011 der Roman „Blaufeuer“ von Alexandra Kui herausgegeben.
Klappentext: Es herrscht Ebbe an der Nordsee. Der Bootsbauer Erik Flecker fährt mit dem Jeep ins Watt hinaus, um eine Boje zu reparieren. Als er hineingreift, um den Leuchtkörper auszuwechseln, erfasst ihn etwas: Sein Arm hängt in einer Fuchsfalle fest. Ihm ist klar, dass das ein brutaler Anschlag ist. An dieser Stelle im Watt wird er die letzten Stunden seines Lebens verbringen und einen schrecklichen, aussichtslosen Überlebenskampf führen. Die Familie steht vor einem Rätsel: Wer hat Erik getötet? Wer kann ihn so sehr gehasst haben? Er war allseits beliebt. Bald steht fest: Der Anschlag galt Eriks Vater. Dieser beschließt, die Polizei vorerst aus dem Spiel zu lassen und gemeinsam mit seiner Adoptivtochter Janne zu ermitteln.
Alexandra Kui wurde 1973 in Buxtehude geboren. Sie studierte Soziologie in Hamburg und arbeitete für verschiedene Tageszeitungen, bevor sie ihren ersten Kriminalroman schrieb. Heute lebt sie als Autorin, Musikerin und Journalistin auf der Geest bei Hamburg.
Leseprobe:
©DTV Verlag©
PROLOG
Nichts ist ohne Glanz am Ende des Tages, wenn das Meer die Sonne verschlingt. Was im gleißenden Licht des Tages abstoßend war – die skrupellos geröstete Haut der Touristen,die verbleichen- den Fassaden der Hotels, die Armada der Strandkörbe und sogar die schaufenstergroßen Verbotsschilder der Kurverwaltung, die jedes aufkommende Gefühl von Grenzenlosigkeit verhöhnen –, all das verliert sich in einem sanften Schimmer aus Pastelltönen. Täglich staunten wir über die Schönheit des Sonnenuntergangs an heißen Sommertagen, da unterschieden wir uns nicht von den Feriengästen. Wir liebten die Schlieren von Rosa am Himmel, die sich in den feuchten Wattflächen spiegelten, das mattsilberne Blau der Nordsee und das flirrende Aufeinandertreffen von Feuer und Wasser am Horizont. An vielen Orten werden in der Dämmerung die Konturen schärfer, an der Elbmündung bei Ebbe lassen sie nach.
Hast du einen Blick dafür gehabt, als du an jenem Abend ins Watt gefahren bist – wie unzählige Male zuvor? Oder hattest du nur dein Vorhaben im Kopf, das Leuchtmittel an einer der Bojen auszutauschen, die das Versuchsgelände der Austernzucht markierten? Hat die Sonne geschienen? Mit Sicherheit hat sie, dieser Sommer gönnt sich kein frühes Ende, weshalb er schon zum Vor- boten des nahenden Weltuntergangs ausgerufen wurde – keine schlechte Prognose, zumindest was die Familie betrifft. Aber das konntest du zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Ich sehe dich in dem alten Jeep über den mit Sand durchsetzten Schlick rumpeln, du bist schnell unterwegs, das warme Wasser in den Prielen spritzt, Tropfen schlagen dir ins Gesicht, aber das stört dich nicht. Der Weg ist weit.
Es kostet mich Kraft, aber keine Mühe, dich vor mir zu sehen. Vielmehr ist es unmöglich, mich abzuwenden, nicht hinzusehen, wie du eine Vollbremsung machst, aus dem Auto springst und dir die Schlammspritzer von der Stirn reibst. Dein sandblondes Haar könnte mal wieder einen Schnitt vertragen, aber das ist dir nicht wichtig. Du hast diese nachlässige Art, unwiderstehlich aus- zusehen, die sich die Markenjeansträger in den Großstädten so gern aneignen würden, was ihnen mangels Nachlässigkeit nie gelingen wird.
Ich schweife ab. Du bist also ausgestiegen, stapfst barfuß durch das blausilbern schimmernde Watt auf das künstlich angelegte Riff aus Tonziegeln zu, auf dem die Austern ums Überleben kämpfen. Mit konzentriertem Blick pflückst du eine ab und überprüfst ihren Wuchs. Das Licht der untergehenden Sonne lässt dich die Augen zusammenkneifen. Was du siehst, überzeugt dich nicht.Niemand hielt etwas von Paul Fleckers Vorhaben, den Reichtum der Familie durch Austernzucht zu mehren. „Bootsbauer sind doch keine Muschelzüchter“, hast du gesagt. Aber noch ist der Vater derjenige, der die Entscheidungen trifft, und du akzeptierst seinen Führungsanspruch aus Liebe und aus Respekt vor seinem erstaunlichen Lebenswerk.
Ich habe mich schon wieder ablenken lassen.
Du brauchst kaum Werkzeug, um das Leuchtmittel – genauer gesagt, den Akku – zu erneuern, der das Blinklicht in der Boje mit Strom versorgt. Nur einen Spezialschlüssel zum Öffnen der Inspektionsluke. Und kräftige Finger.
Der Bewegungsablauf ist Routine, die einzelnen Handgriffe erfordern wenig Aufmerksamkeit, was dir die Möglichkeit gibt, dich dem Sonnenuntergang zuzuwenden – für ein paar gestohlene Sekunden.
Hast du an die Sommerabende deiner Kindheit gedacht? Viel- leicht hast du dich daran erinnert, wie du dir am Zeitungskiosk wässriges Erdbeereis am Stiel gekauft und dich damit auf die kniehohe Mauer am Strand gesetzt hast. Das Eiswasser tropfte auf deine braungebrannten Beine und hinterließ giftrote Flecken im warmen Sand.
„Blutspur“, hast du gewitzelt. Das fand niemand komisch. Als deine Hand in der Inspektionsluke verschwunden ist, stoßen deine Finger gegen einen Widerstand, der früher nicht da war, und in der gleichen Sekunde spürst du einen Schmerz wie nach einem Biss oder einem Stich, nur viel heftiger. Du denkst an die messerscharfen Scheren eines Krebses. Was sollte es sonst sein, dort draußen im Watt?
Der Schmerz fährt durch die Glieder, dir bricht der Schweiß aus, aber als du nachsehen willst, was passiert ist, stellst du fest, dass deine Hand gefangen ist. Sie lässt sich keinen Millimeter weit bewegen,nicht vor und nicht zurück.Du bist verwirrt, musst womöglich sogar lachen. Die Inspektionsluke ist zu eng, um die zweite Hand zur Hilfe zu nehmen.
In deinen Gedanken taucht das Bild einer rostigen Falle auf, einer Fuchsfalle, wie ihr sie auf dem Gelände des Ferienhauses in Schweden benutzt. Plötzlich glaubst du, dich an ein schnappen- des Geräusch zu erinnern, als wäre eine gespannte Feder zusammengeschnellt, Metall auf Metall geschlagen. Und dieser Ein- druck fügt sich mit der Intensität des Schmerzes in deiner gefangenen Hand zu einem furchtbaren Verdacht zusammen: Jemand hat es auf dich abgesehen, spielt ein perfides Spiel mit dir. Denn wie sollte eine Fuchsfalle versehentlich oder gar zufällig in eine Boje geraten? Es muss sehr mühselig gewesen sein, sie dort zu verstecken. Hast du zu diesem Zeitpunkt noch an einen üblen Streich geglaubt, oder wusstest du schon, dass es um Leben und Tod geht? Sicher ist dir der Begriff Mord nicht in den Sinn gekommen. Denn wer könnte dich so sehr hassen? Ausgerechnet dich – den bescheidensten und liebenswürdigsten Sohn, den die Familie Flecker seit Generationen großgezogen hat.
Du willst es nicht wahrhaben, tastest mit den Fingern der verletzten Hand das Innere der Boje ab und fühlst einen Metallrahmen. Außerdem spürst du Blut. Der Schmerz ist dumpfer und somit erträglicher geworden. Ein Gefühl von Taubheit lässt die Finger erlahmen. Allmählich wird dir bewusst, dass du Hilfe brauchen wirst. Du greifst in die Tasche deiner Arbeitshose, willst das Handy hervorholen, aber da ist es nicht. Du hast es mal wieder auf dem Beifahrersitz liegen lassen. Wut, Angst und Schmerz bringen dich kurzfristig um den Verstand, und du schreist einfach los, schreist, so laut du kannst.
Ich bin mir ganz sicher, dass du geschrien hast.
Ich kann es hören, weißt du. Oft gehe ich ins Watt, wo deine Schreie sind. Irgendwann wirst du dich zusammengerissen haben. Du wirst nachgedacht haben, was du tun kannst, um dich zu befreien.
Da stehst du also im warmen Wind. Du siehst dich um. In weiter Ferne, außer Rufweite, sind Menschen im Watt unterwegs, die du nur schemenhaft erkennen kannst: Wanderer auf dem Rückweg von der Insel Neuwerk. Die Flut kommt. Und spätes- tens jetzt wird dir bewusst, wie groß die Gefahr wirklich ist. Du bemerkst, dass die Boje so am Meeresgrund befestigt wurde, dass sie unmöglich mit dem Wasser aufsteigen kann. Damit ist auch klar, worum es geht: Draufgehen sollst du. Verbluten oder ersaufen, egal, Hauptsache langsam.
Nun ist deine Wut größer als die Angst, sie übertrifft auch den Schmerz.Du wirst nicht kampflos krepieren. Jemand wie du gibt sich nicht auf. Du versuchst, die Falle zu kanten, aber jetzt, wo dein Arm darin gefangen ist, ist die Inspektionsluke eindeutig zu eng. Der Teufel flüstert dir einen Plan ins Ohr, den du nach kurzer Überlegung für den einzigen Ausweg hältst, und du zögerst nicht, ihn umzusetzen.
„Manche Dinge muss man schnell erledigen, oder man wird es nie tun.“ Diesen Satz, Originalton Paul Flecker, hast du gern zitiert.
Leider ist es unmöglich, sich mit einem gewöhnlichen Taschenmesser schnell den Unterarm zu durchtrennen. Es liegt nicht an dir, du gibst wahrlich alles, schonst dich nicht, wirst ohnmächtig und kommst wieder zu dir, versuchst es weiter. Das Wasser steigt, dein Blut rinnt und färbt die See rosarot. Wie der Himmel. Die Sonne ist untergegangen, aber noch umgibt Licht deinen Kampf. Pastellfarben. Dein Sterben – weich gezeichnet.
Du hast bis zum Schluss gekämpft. Stundenlang. Sie haben Wasser in deiner Lunge gefunden, was bedeutet, dass du ertrunken bist. Keiner von uns, die wir damit weiterleben müssen, wird jemals darüber hinwegkommen. Schon deshalb nicht, weil wir nun die ganze Wahrheit kennen.
Nichts ist ohne Glanz, wenn das Meer die Sonne verschlingt. Und der Tod?
MEERSALZ
Daran, wie er ihren Namen sagt, erkennt Janne, dass es ihm ernst ist. Viel zu ernst für ihren Geschmack, und sie beeilt sich mit dem Milchkaffee, um dem gemeinsamen Tag im sommerheißen Berlin ein schnelles Ende bereiten zu können. Zu viel Zucker. Beim Trinken sieht sie auf die Uhr, was ihm nicht entgeht.
„Was ist los?“, fragt er. Er gibt sich ungezwungen, aber Janne registriert einen weinerlichen Unterton in seiner Stimme.
„Nichts ist los. Aber ich will gleich heim.“ „Kann ich mitkommen?“ „Nein, besser nicht“, sagt sie. Er zögert den Augenblick des Abschieds hinaus, indem er seinen Erdbeerkuchen mit der Gabel in dermaßen winzige Stücke zerteilt, dass Janne ihn lachend fragt, ob mit seinen Zähnen alles in Ordnung sei.
„Als Teenager hatte ich eine feste Spange“, sagt er.
„Also bis vor kurzem“, entgegnet Janne, und er verzieht das Gesicht.
„Das ist es also. Du findest, ich bin zu jung für dich.“ Janne lächelt und schweigt. Soll er doch glauben, ihre Zurückhaltung sei dem Altersunterschied zwischen ihnen geschuldet. Anfang oder Ende zwanzig – dazwischen liegen tatsächlich Welten. Allerdings kommt er ihr deutlich älter vor wegen seiner Verbindlichkeit, die sie so schreckt. So wie er war sie nie, auch nicht vor acht Jahren. Sie lässt es lieber entspannt angehen.
„Es war schön heute“, sagt sie munter und rückt ihren Stuhl aus dem Halbschatten. Sie will die Sonne genießen, solange es geht, bald ist der Sommer vorüber. Seit dem Frühstück im Café Adlon sind sie durch Berlin gezogen, vorbei an bröckelnden Mauern mit Einschusslöchern vom Häuserkampf, aufpolierten Baudenkmälern und postmodernen Glasfassaden, errichtet auf Minenfeldern – sie hatten nur Zeit für das Pflichtprogramm, aber das hat Janne nicht gestört. Sie verehrt die Hauptstadt mit ihrem weltstädtischen Glamour und all ihren Narben. An den Hackeschen Höfen hat er gesagt, er fühle sich nach so kurzer Zeit bereits heimisch, und Janne antwortete, sie sehe sich auch nach vier Jahren noch als Touristin. Sogleich hat er versucht, sie von dieser Ansicht abzubringen, weil er nicht ahnen konnte, dass das Gefühl von Fremdheit für sie mit dem höchst angenehmen Umstand verbunden ist, ihr Leben als eine Art Dauerurlaub zu betrachten, unterbrochen nur durch die nicht allzu anstrengen- den Pflichten einer Orchestermusikerin. Er ist Gastsolist an der Deutschen Philharmonie, ein ehrgeiziger junger Geiger, dessen ehrgeizige Eltern schon bei der Taufe alles richtig gemacht haben: Zacharias Brügge – so ein Name perlt im Mund wie Cham- pagner und schmückt jedes Konzertplakat. Janne neidet ihm seinen Erfolg nicht. Sie fühlt sich wohl bei den zweiten Geigen, denn ein Aufstieg zur Solistin passt nicht in ihr Konzept von der Leichtigkeit des Seins. Sie will nicht schuften, sondern leben. Sie übt nicht gern. Und sie hält sich lieber im Hintergrund.
„Hast du eigentlich ein Problem mit meinem Status im Orchester?“, fragt er, als wäre er ihren Überlegungen gefolgt.
„Was für ein Problem sollte das sein?“, entgegnet sie amüsiert über die Verlegenheit, die sich auf seinem hübschen Eliteschülergesicht abzeichnet. Die feste Spange war eine gute Investition.
„Na ja, ich habe gehört, als Mädchen hast du viel beachtete Solokonzerte gegeben und wurdest als Riesentalent gehandelt – aber auf einmal war Schluss damit. Keiner weiß warum.“ Er mustert sie interessiert und mitleidig zugleich. Auf seiner Unterlippe kleben Kuchenkrümel, die Janne mit einem Kuss beseitigt. Zacharias errötet.
„Gerüchte“, sagt sie.
Wenig später verabschiedet sie sich mit einem knappen Gruß. Zacharias steht zackig von seinem Stuhl auf und winkt ihr nach, als stünde er am Bahngleis und sie führe mit dem Zug davon. Mit einem Lachen winkt sie zurück.
Auf dem Heimweg kauft Janne eine Flasche Rioja, französischen Käse und spanische Oliven beim Biohöker in ihrer Straße. Im Vorbeigehen betrachtet sie sich in den Schaufenstern entlang des Wegs: eine sehr schmale, sehr blonde Frau mit glattem, schulterlangem Haar, sommersprossig, hochgewachsen, gut angezogen – das luftige Kleid in hellen, kühlen Blautönen stammt von einer jungen isländischen Designerin, die hier in Berlin eine Boutique betreibt. Janne ist einverstanden mit ihrem Spiegelbild, und sie empfindet sich als privilegiert: Die Patrizierherkunft – oder der „gute Stall“, wie ihr Vater es nennt – ist ihr ebenso deutlich anzusehen wie dem Solisten, und Janne hat sogar besonderes Glück, denn sie muss sich nicht wie andere höhere Töchter ab- mühen, um entzückend und teuer auszusehen, sogar das helle Blond ist echt. Diese Kombination aus Geld und Liebreiz hat ihr schon viele Türen geöffnet, die andere erst eintreten müssen. Natürlich weiß Janne um die Ungerechtigkeit dieses Umstands, der sie manchmal wütend macht, aber im Alltag ist sie froh, mit der richtigen Pigmentierung auf der richtigen Seite der Gesellschaft geboren worden zu sein. Reine Glückssache. Natürlich schickt es sich nicht, dies offen zuzugeben.
Wie jeden Abend freut sie sich auf ihre Wohnung in dem sanierten Gründerzeitbau in Prenzlauer Berg: Luxus von heute, Eleganz von einst, so lässt es sich aushalten. Jannes Ansprüche sind hoch, wie sie es seit Kindertagen gewohnt ist. Aber sie mag es auch rustikal.
Als sie dieWohnungstür aufsperrt,durchflutet goldenesAbend- licht den Flur, und aus dem Wohnzimmer dringen Fado-Klänge. Es riecht nach Knoblauch, Chili – und ein wenig verbrannt. Janne zögert, bleibt mit der Papiertüte im Arm neben der Garderobe stehen. Sie weiß nicht, was es ist, aber irgendetwas in der
Wohnung wirkt auf verstörende Weise verändert, obwohl alles an seinem Platz zu sein scheint und es durchaus mal vorkommen kann, dass ihrem Mitbewohner Nils ein Essen misslingt.
Dann nimmt sie das Geräusch wahr. Es passt zur Tragik der Musik, gehört jedoch nicht dazu. Eine Mischung aus Stöhnen und Schluchzen, ein durchdringender Laut. Sie hat das Gefühl, als würde in ihrem Kopf Kristall bersten.
Im Wohnzimmer kauert Nils auf der hellen Couch. Er hält das Gesicht in den Händen vergraben, und sein Körper vibriert. Neben ihm liegt das Telefon. Vor langer Zeit in einem anderen Leben hat Janne eine ähnliche Situation erlebt, damals war sie ein Kind und noch nicht in der Lage, die Vorzeichen zu deuten. Das hat sich gründlich geändert.
Sie tritt mit der Fußspitze gegen den Stand-by-Schalter der Stereoanlage. Die Musik bricht ab. Jetzt erst bemerkt er sie und ruft ihren Namen. Sie wappnet sich gegen die Umarmung, die unausweichlich ist, hält die Tüte wie ein Schutzschild vor ihrem Herzen. Nils ist schon aufgesprungen und reißt Janne mit solcher Heftigkeit an sich, dass die Einkäufe zu Boden fallen. Schwarze Oliven kullern über den Holzfußboden bis zum Fenster, während er sie viel zu fest drückt und dabei wieder und wieder ihren Namen fleht.
Janne macht nichts, sie wartet nur ab. Sie weiß, es wäre an der Zeit zu fragen, was vorgefallen ist, aber sie ist nicht bereit. Sie braucht Vorlauf. „In der Küche brennt was an“, sagt sie, und endlich lässt er sie los. Sie sieht ihm kurz in die geröteten Augen.
Er erwidert ihren Blick. „Janne, du musst mir jetzt zuhören“, sagt er leise.
„Nein, muss ich nicht.“ Sie geht in die Küche und schaltet den Herd aus. In der Pfanne sind Fleisch und ein nicht mehr definier- bares Gemüse zu einer brodelnden schwarzbraungrünen Masse verschmolzen. Die Farbe ähnelt dem Lavastein, aus dem die Arbeitsplatte geschliffen wurde.
„Die Pfanne können wir wegschmeißen“, ruft sie in Richtung Wohnzimmer.
Nils ist ihr gefolgt. Er steht hoch aufgerichtet im Türrahmen und deutet mit einer knappen Kopfbewegung auf einen der Küchenstühle. „Setz dich hin und hör mir zu.“
Janne will aus dem Raum fliehen, doch er lässt sie nicht vorbei, steht da wie festgemauert mit seiner Schreckensbotschaft im Anschlag und fordert sie erneut auf, sich zu setzen, worauf ihr Widerstand zusammenbricht und sie nur noch einen Wunsch hat: Es soll schnell gehen.
Nils atmet tief durch. „Dein Bruder ist ertrunken. Ein furchtbares Unglück.“
„Ach so“, sagt Janne, und während sie sich freut, wie gut sie diese Neuigkeit verkraftet, bricht eine nie gekannte Übelkeit über sie herein. Ihr wird schwarz vor Augen, doch sie fällt nicht in Ohnmacht. Sie steht auf und hält den Kopf über die Spüle, muss sich aber nicht übergeben. Auf ihrer Stirn steht kalter Schweiß. Dann rettet sie sich in einen Gedanken, der so unverzeihlich ist, dass sie erschrickt, und als ihre Blicke sich begegnen, spürt sie, wie Nils rätselt, was in ihr vorgeht – und wie nah er der Wahrheit kommt.
„Ich habe zwei Brüder. Von welchem spricht du?“, fragt sie mit schwacher Stimme.
Eine Pause entsteht. Nils büßt seine aufrechte Haltung ein. Schließlich sagt er: „Erik“ und nennt damit den Namen seines besten Freundes. Es klingt beinahe entschuldigend, als stünde es in seiner Macht, das Todesurteil über den einen oder den anderen zu verhängen. Sein anschließender Versuch, Janne und sich selbst zu trösten, gerät zu einem hilflosen Gestammel, das sie kaum registriert.
Es fängt an zu regnen, sobald sie Berlin hinter sich gelassen haben, harte, satte Tropfen, gegen die der Scheibenwischer wenig aus- richten kann. Sie gleiten durch eine Wand aus Wasser. Nils sitzt hinter dem Steuer ihres Alfa. Er wollte es so, obwohl sie im Gegensatz zu ihm einige Stunden schlafen konnte. In ihrem Kopf herrscht kalte Stille. Sie schließt die Augen. Alles, was ihrer Familie nun bevorsteht, ist ihr zuwider, die ganze Dramaturgie eines Todesfalls: Gottesdienst und Grabredner, Lügen und Leichenschmaus. Zu viele Tränen, zu viele weiße Blumen und zu viel schwarzer Stoff. Zu viel Erde auf dem Sarg, um atmen zu können. Geflüsterte Beileidsbekundungen, durchdrungen von Mundgeruch.
Schwer wie der Regen prasseln Bilder auf sie ein, deren Verdrängung sie Jahre ihres Lebens gekostet hat. Sie ist wieder vier Jahre alt und steht am frischen Grab ihrer leiblichen Eltern. Paul Flecker – ihr Taufpate und der beste Freund ihres Vaters – hat eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Er schirmt sie ab. Während der langen Trauerzeremonie in der Kapelle, bei der mehrmals ihr Name gefallen ist, hat sie Magenschmerzen bekommen. Die mitleidigen Blicke der Erwachsenen brennen auf der Haut, und sie starrt auf ihre Füße, die in schwarzen Lackschuhen stecken. Regen hat die Sandwege auf dem Friedhof aufgeweicht, und an den Schuhen klebt Schlamm. Niemand sonst schaut auf seine Schuhe, auch nicht auf das Grab oder den Pfarrer, alle sehen sie an. Sie weiden sich an der Tragödie und raunen sich das Wort Vollwaise zu, wenn sie glauben, Janne sei weit genug entfernt, es zu hören.
Seit jenem Tag kostet es sie Überwindung, im Mittelpunkt zu stehen, je gieriger die Aufmerksamkeit, desto größer ihr Unbehagen. Ihre neuen Eltern – die Fleckers – haben das damals verstanden und sie in Ruhe gelassen. Sie haben auf Erik vertraut, das wunderbare Kind, das fortan ihr Bruder sein sollte. Er war lange Zeit der Einzige, der sie zum Lachen bringen konnte, und er war sehr ehrgeizig darin. Er hatte eine so positive Einstellung zum Leben, dass er selbst unangenehme Erfahrungen wie Krankheiten bis zu einem gewissen Punkt als Abenteuer betrachten konnte. Und vielem, was Janne eher bange machte, begegnete er mit unerschütterlichem Humor: Erwachsenen zum Beispiel.
„Hast du das gesehen? Den kauf ich mir.“ Nils’ Stimme ist rau. Janne wird in den Sitz gepresst und in die Gegenwart zurückkatapultiert, als er mit Vollgas beschleunigt. Sie schlägt die Augen auf und sieht, dass er die Verfolgung einer schwarzen Limousine aufgenommen hat, die durch den Regen und den dichten Verkehr auf der Autobahn nach Westen rast.
„Was soll das werden?“, fragt sie.
„Der Idiot hat mich auf der Standspur rechts überholt. Total krank ist der doch.“
„Und was willst du jetzt machen? Ihn umbringen und uns gleich mit?“
„Den kauf ich mir“, wiederholt Nils, und Janne erkennt, dass es unter diesen Umständen zwecklos ist, mit ihm zu diskutieren. Sie wirft einen Blick zum Geigenkasten auf dem Rücksitz und hebt ihn in den Fußraum, wo er besser aufgehoben ist. Ohne ihre Geige reist sie nirgendwohin.
Nach einigen riskanten Manövern haben sie die Limousine eingeholt. Nils blendet auf. Der Wagen wird noch schneller, aber der Alfa hält mühelos mit. Eine Treibjagd ohne Sicherheits- abstand.
„Und jetzt?“, fragt Janne.
Nils hält das Lenkrad fest umklammert und blickt starr geradeaus. „Wie konnte er uns das antun? Er war ein besserer Schwimmer als jeder andere, wie konnte er ertrinken?“, ruft er über das hochtourige Jaulen des Motors hinweg. „Ich kapier das nicht.“
Unerschrocken betrachtet Janne den Mann, der seit fast zwanzig Jahren zu ihrem Leben gehört, zuerst nur als einer von Eriks zahlreichen Schulfreunden, bis er ihre erste Liebe wurde – und zu guter Letzt, nach Verlobung und Trennung, ihr Mitbewohner und engster Vertrauter in der großen Stadt weit weg von daheim. Nils ist ein bodenständiger Mensch und Eriks Tod der erste Verlust in seinem Leben. Sogar seine Großeltern leben noch.
„Wir werden damit fertig“, sagt sie und legt ihm eine Hand in den verschwitzten Nacken. Sie findet, es ist ein schwacher Trost, doch er nimmt endlich den Fuß vom Gas, und die Limousine rast davon.
„Aber nichts wird mehr so sein wie vorher.“ „Nein“, sagt Janne. „Das wird es nie.“
Nordwestlich von Bremen hört der Regen auf. Auf der Autobahn nach Cuxhaven lichtet sich der Verkehr. Janne öffnet das Fenster weit, und ein Schwall salziger Nordseeluft schlägt ihr ins Gesicht. Der Duft ihrer Kindheit. Ihre Heimatstadt an der Nordspitze Niedersachsens liegt an der Elbmündung und ist an zwei Seiten von Wasser umgeben. Nirgendwo sonst ist Atmen für sie ein derart meditativer Vorgang. Sie konzentriert sich aufs Ankommen, schaut sich um, ohne an den Grund ihrer Rückkehr zu denken. Flaches, grünes Weideland. Viele der Bäume zwischen den Wei- den wachsen nicht zum Himmel, sondern krümmen sich unter der Last des Westwinds landeinwärts. Das regennasse Gras dampft, als das Wasser in der Wärme des Sommerabends zu verdunsten beginnt. Es hat sich nicht abgekühlt. Über dem Meer, das hinter Deichen verborgen ist, kommt zwischen Wolken bereits wieder die Sonne zum Vorschein.
„Wie schön es hier ist. Ich war viel zu lange weg. Dieser Sonnenuntergang.“
„Das hier ist keine Ferienreise, Janne. Wir fahren nach Hause, weil dein Bruder tot ist“, sagt er und schüttelt den Kopf. Janne weiß, es sind Momente wie dieser, in denen er sich glücklich schätzt, nicht mit ihr verheiratet zu sein, wie er es eigentlich geplant hatte.
„Was hat das mit dem Sonnenuntergang zu tun? Der ist heute außergewöhnlich schön, auch wenn wir es nicht zu schätzen wissen, weil unser kleines, unscheinbares Leben uns gerade unerträglich vorkommt.“
„Du kommst mir gerade unerträglich vor.“ „Wir müssen uns ja nicht unterhalten.“ „Nein, besser nicht. Nicht auf deine Art.“
In der Auffahrt zur Villa der Fleckers parken mehrere Autos. Janne erkennt den Geländewagen ihres Bruders Meinhard, der in Hamburg als Chirurg arbeitet. Sie hat ihn zuletzt Ostern gesehen, als die Bootsbauer-Familie sich auf der Yacht Viktoria versammelt hat, um zum Skagerrak zu segeln. Herrliche, stürmische Tage waren das – ein Ausflug mit Tradition, ohne Erik undenkbar. Janne schluckt schwer. Es mag in Berlin Leute geben, die sie für oberflächlich halten, aber hier an der Küste kennt man sie besser. All ihre Hingabe gilt der Familie. Dass sie keine geborene Flecker ist, hat für sie jahrelang kaum eine Rolle gespielt und drängt sich jetzt, da der Tod zum zweiten Mal ihre Welt aus den Angeln hebt, mit Macht zurück in ihr Bewusstsein. Sie erinnert sich schwach an ihre Ankunft in dem neuen Heim vor vierundzwanzig Jahren. Daran, wie monströs ihr die neogotische Villa in Hafennähe vorgekommen ist, wie ein Spukschloss mit all diesen Erkern und Türmchen und dem blutrot glasierten Back- stein. Heute erscheint sie ihr eher klein, zu klein jedenfalls, um sich vor den anderen zu verstecken. Sie fürchtet sich vor der Begegnung mit den Eltern.
„Janne, wir müssen aussteigen“, sagt Nils und berührt sanft ihre Schulter.
„Lass mich.“
Er zieht die Hand weg. „Dann komm auch. Also, ich gehe jetzt rein.“ Nils steigt aus, stapft zur Beifahrerseite und öffnet die Tür für sie.
Janne bleibt sitzen. Warmer Wind fährt ihr durchs Haar.
„Manchmal bist du wie ein Kind“, sagt er und geht. Unter seinen Turnschuhen knirscht der Kies.
Es ist fast dunkel, vom Hafen schallt Möwengeschrei herüber, und in den Bäumen singen Amseln. Bis eben hat Janne gehofft, Eriks Tod könnte ihr weniger anhaben als Nils – da im Prinzip ihre komplette Sozialisierung auf einem Trauerfall beruht, was eigentlich eine gewisse emotionale Routine garantieren sollte. Leider muss sie nun ihren Irrtum erkennen. Wenn sie diese Angelegenheit an sich herankommen lässt, ist sie verloren. Dann wird es schlimm werden, viel schlimmer als alles, was sie bisher erlebt hat. Der Schmerz schärft schon die Messer. Doch sie hat nicht vor zu kapitulieren. Janne versucht, das eigene Verhalten mit kühler Distanz zu steuern. Am sichersten wäre es, sie führe
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Literaturangabe:
KUI, ALEXANDRA: Blaufeuer. Deutscher Tachenbuch Verlag, München 2011. 32 S,. 8,95 €.
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