Von Claudine Borries
Während die schöne Siri Hustvedt an einem blauen Maientag im Jahr 2006 in Minnesota anlässlich der Einweihung einer Fichte zu Ehren ihres vor zwei Jahren verstorbenen Vaters eine Gedenkrede hält, befällt sie ein unerträgliches Zittern und Schlottern der unteren Gliedmaßen. Ihr Vater war Professor am St. Olaf College. Das krampfartige Zittern vom Hals abwärts ist nicht zu beherrschen. Die Mutter erlebte als Zuhörerin ihren Zustand, als wohne sie einer Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl bei. Für das Glamourpaar der New Yorker Intellektuellenszene, den Schriftsteller Paul Auster und seine Frau Siri Hustvedt, bedeutet ihre Erkrankung eine massive Herausforderung. Gelegentlich erlebt sie bei späteren Vorträgen und Lesungen erneute Zitteranfälle.
Auf der Suche nach Erklärungen für ihren unwürdigen und desolaten Zustand bemüht Siri Hustvedt alle ihre bisherigen Studien zur Psychopathologie von Geist, Körper und Seele. Einer Archäologin der Seele gleich begibt sie sich auf die Suche nach den Ursachen ihrer Krankheit. Ihr vorliegendes Buch über ihre eigene Erkrankung gleicht einem Sachbuch zum Thema Psychopathologie von körperlich nicht diagnostizierbaren Störungen. Sie befasst sich mit der Diagnose „Hysterie“ und mit den Merkmalen von Konversionssymptomen und liest einschlägige Fachliteratur.
Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, “... dass Hysterie eine systemische Spaltung sei, die es einem abtrünnigen Selbst erlaubt, sich ohne Führung davonzumachen“. Unter dem Gesichtspunkt, dass Umwelteinflüsse Störungen herbeiführen können, fragt sie sich gleichzeitig, warum „ ... der, der von einem Elternteil schlecht behandelt wurde, ein Psychopath wird, und ein anderer, dem es ähnlich erging, an schweren Depressionen leidet, und ein Dritter mit einer unerklärlichen Lähmung reagiert ...“. Zuletzt fragt sie sich, ob sie womöglich die Trauer um ihren verstorbenen und sehr geliebten Vater verdrängt habe.
Auf ihrer Suche nach den wahren Gründen für ihr Leiden lässt Siri Hustvedt kein Fachbuch aus und bezeugt Erfolge, die auf dem Gebiet der Neurologie inzwischen zu verzeichnen sind. Gebannt folgt man ihren differenzierten Recherchen, sich mit ihrem Leiden auseinanderzusetzen. Dabei öffnet sie ihr Herz und berichtet über sehr persönliche Erinnerungen aus ihrer Kindheit, die feinsinnige Seelenzustände berühren. Sensibel und wach beobachtet sie sich und andere und umkreist die philosophische Frage, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen.
Psychiatrie, Neurologie und Psychoanalyse werden in ihren Denkrichtungen und Forschungsergebnissen hier zusammengeführt, denn es besteht offensichtlich eine Wechselwirkung zwischen Umwelt, psychischem Leiden und Veränderungen in den Hirnstrukturen. Das Zusammenwirken der verschiedenen Disziplinen macht die Zusammenarbeit unter den Fachrichtungen unabdingbar.
Detailversessen und genau zitiert die Autorin zahlreiche bekannte Wissenschaftler aus Geschichte und Gegenwart, von Freud über Charcot bis zu heutigen Forschern, und gibt präzise und vielseitig Auskunft über die verschiedenen Ansätze zur Erforschung unseres Seins. Sie berichtet in ihrem Buch über Subjektivität im Denken und in der Wahrnehmung, über Irrationalität und Traumata; sie schreibt über Dissoziation und Spaltungen im Bewusstsein, und man erfährt eine Menge Wissenswertes über die Psyche, die uns Streiche spielt und uns in die Irre zu führen versteht.
Das Sachbuch, gekoppelt mit biographischen Abhandlungen, ist mit Verstand geschrieben und mit Belegen für die unterschiedlichsten Thesen versehen. Zahlreiche Fallbeispiele und Geschichten aus dem Leben ergänzen den fachlichen Teil; sie lassen die Lektüre zu einem spannenden Abenteuer werden!
Literaturangabe:
HUSTVEDT, SIRI: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 224 S., 18,95 €.
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