MÜNCHEN (BLK) – Oktober 2008 erschien im Droemer Knaur Verlag Birand Bingüls Buch „Kein Vaterland, nirgends“.
Klappentext: Deutschland in der Ausgrenzungsfalle: Mitten durchs Land geht ein Riss, und der wird immer tiefer. Die Gesellschaft spaltet sich in Arbeitende und Arbeitslose, in Reiche und Arme, Ost- und Westdeutsche, Eliten und Versager, Ausländer und Deutsche. Vor allem aber: Das Zentrum der Gesellschaft ist nicht mehr sicher, die Mittelschicht selbst fürchtet den Absturz. Wir erleben eine Art Kernschmelze. Die Ausgrenzung ist so weit gediehen, dass kaum jemand übrig ist, der sich noch als Kern der Gesellschaft verstehen könnte. Ausgrenzung ist zu einer Bedrohung für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen geworden – und für die Identität des Landes. Ausgrenzung war über viele Jahrzehnte der Kitt, der dieses Land zusammengehalten hat. Sie funktionierte als Strategie, um Machtstrukturen zwischen Deutschen und Ausländern oder Männern und Frauen zu bewahren, um Leistungsstarke von Leistungsschwachen zu trennen, um die Gesellschaft effizient zu halten. Probleme wurden nicht bewältigt, sie wurden ausgeklammert. Lange Zeit mit Erfolg: Die Wirtschaft florierte. Bingül weist einen Ausweg aus dem drohenden Zerfall der Gesellschaft: Wir müssen eine komplette Kehrtwendung machen und unser Selbstverständnis, das bisher auf Ausgrenzung gegründet war, auf eine neue Basis stellen: auf Integration. Nur wenn wir möglichst viele mit hineinnehmen in diese Gesellschaft, kann Gemeinschaftssinn, ein Wir-Gefühl, letztlich: eine neue Identität, entstehen.
Birand Bingül, geboren 1974, lebt in Köln und ist Redakteur beim WDR. Er arbeitet als Inlandskorrespondent für Tagesschau und Tagesthemen in der ARD.
Leseprobe:
©Droemer Knaur©
Kein Vaterland, nirgends
Wir produzieren Verlierer am laufenden Band. Ob Alte oder Jugendliche, ob Frauen, Ausländer oder Arbeitslose – immer mehr Menschen werden abgewertet. Wir haben soviel Abstiegsangst wie nie zuvor. Die Ausgrenzung trifft Deutschland ins Herz.
Wer draußen bleibt
Ausgrenzung war nach dem Krieg lange ein Werkzeug der Mächtigen und Etablierten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie funktionierte als Strategie, um Machtstrukturen zwischen Gruppen wie Deutschen und Ausländern oder Männern und Frauen zu bewahren, Leistungsstarke von Leistungsschwachen zu trennen, um die Gesellschaft effizient zu halten, sowie Probleme zu bewältigen, indem sie ausgeklammert wurden. Die Ausgrenzung war ein einflussreiches Werkzeug, ein Herrschaftsinstrument, prägend und maßgeblich. Die klassisch ausgegrenzten Gruppen in der Bundesrepublik werden „A-Bevölkerung“ genannt: Arbeitslose, Ausländer, Alleinerziehende. Nehmen wir noch die Behinderten dazu, sind die guten alten Randgruppen beisammen. um einen ist aber die Zahl der Menschen mit einer entsprechenden Ausgrenzungserfahrung in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen – ob Hartz-IV-Empfänger oder davon Bedrohte, Migranten oder Alleinerziehende. Zum anderen sind weitere Gruppen ins Blickfeld geraten oder neu hinzugekommen. So werden viele Kinder mangels früher Förderung schon abgehängt, bevor sie überhaupt in die erste Klasse kommen. Die Schule sortiert früh und ungerecht aus. Viele Jugendliche blicken ängstlich in die Zukunft. Das sind nicht mehr nur die Schulabbrecher und weite Kreise der Hauptschüler – selbst für Realschüler ist es teilweise schwierig geworden, einen direkten Einstieg in den Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt zu finden. Ein Praktikum ist kein Job.
Manuel ist achtzehn, hat einen mittelmäßigen Realschulabschluss und das Talent zum Tischler. Aber er bekommt keine Lehrstelle. „Mein Leben geht einfach nicht los. Ich hänge fest in einer Warteschleife. Ich hätte gerne eine Lehrstelle. Mehr Geld. Eine eigene Wohnung.“ Fünf Millionen Menschen sind jüngst aus der Mitte der Gesellschaft abgestiegen. Das hat es nach dem Krieg noch nie gegeben in Deutschland. Mit fünfundfünfzig gehört man sowieso zum alten Eisen. Martina sagt: „Ich möchte nicht nur zu Hause vor dem Fernseher rum sitzen und irgendwelche dummen Talkshows ansehen. Da bin ich innerlich noch nicht bereit dafür. Da müssten sie mir beide Beine amputieren.“ Die Siebenundvierzigjährige ist gut ausgebildet, hat sogar studiert und findet trotz großer Anstrengungen seit Jahren keinen richtigen Job. Auskunft auf dem Arbeitsamt: Ab vierzig sei man eben schwer vermittelbar. Und nicht nur der Begriff Hartz IV ist zum Stigma geworden, sondern auch „Aufstocker“ – gemeint sind Menschen, die so wenig mit ihrer Arbeit verdienen, dass sie zusätzlich noch Sozialhilfe bekommen. Ostdeutsche fühlen sich immer noch fremd im eigenen Land, Muslime gelten als potentielle Terroristen. Frauen verdienen bei gleicher Arbeit deutlich weniger als Männer. „Wenn ich eine gute Leistung bringe und die wird letztlich nicht honoriert, ist das für mich verletzend, weil ich denke: Ich bin ein Mensch zweiter Klasse. Das ist es, was ich dabei ganz klar empfinde. Ich werde als Frau diskriminiert.“ Das sagt Silke K. Sie ist Abteilungsleiterin Personal in einem großen Unternehmen und beklagt, dass sie trotz jahrelanger gleichwertiger Arbeit deutlich weniger verdiene als ihr männlicher Kollege. Eine einzige Frau gibt es in dreißig Dax-Vorständen. Mit anderen Worten: Das Phänomen der Ausgrenzung in Deutschland hat sich stark ausgedehnt. Es wächst nach wie vor.
Der Soziologe Heinz Bude beschreibt die Ausgrenzung in seinem Buch Die Ausgeschlossenen wie folgt: Ausgrenzung „ist weder auf gesellschaftliche Benachteiligung zu reduzieren noch durch relative Armut zu erfassen. Sie betrifft vielmehr die Frage nach dem verweigerten oder zugestandenen Platz im Gesamtgefüge der Gesellschaft. Sie entscheidet darüber, ob Menschen das Gefühl haben, dass ihnen Chancen offenstehen und dass ihnen ihre Leistung eine hörbare Stimme verleiht, oder ob sie glauben müssen, dass ihnen ihre Anstrengung und Mühe niemand abnimmt. Für die Exkludierten gilt der meritokratische Grundsatz ‚Leistung gegen Teilhabe’ nicht mehr.“ Was Bude aus der Sicht der Betroffenen formuliert, haben seine Kollegen Wilhelm Heitmeyer und Reimund Anhut mit ihrer „Desintegrationstheorie“ als Kritik an Staat und Gesellschaft verarbeitet. Desintegration, also Ausgrenzung, betone „die nicht eingelösten Leistungen von gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen, in der Gesellschaft existentielle Grundlagen, soziale Anerkennung und persönliche Unversehrtheit zu sichern“. Laut dieser Definition trifft die Ausgrenzung viele deutsche Gruppen, quer durch alle Schichten. Sie alle sitzen in einem Boot. Verschiedenste Menschen leiden an ein und demselben Phänomen.
Den Blick hierfür zu weiten und zu schärfen ist für mich fundamental. Bis zur Wende funktionierte die Ausgrenzung solide und zuverlässig. Die Wirtschaft florierte, die überwältigende Mehrheit der Menschen hatte am Wohlstand teil, auch die wenig gebildeten Hilfsarbeiter und die meist ungelernten Zuwanderer. Solange möglichst viele Menschen Teil und Nutznießer der ökonomischen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik waren und von sich sagen konnten, dass sie das Land mit aufbauten, war der Blick verstellt für soziale, kulturelle und andere Ausgrenzungen am Rande der Gesellschaft. Konflikte wurden verdeckt. Ausgrenzungen mussten nicht immer brutal und offen durchgesetzt werden. In Deutschland fand Ausgrenzung letzten Endes auch viel Rückhalt und Zustimmung, da Ausgrenzung zu Wohlstand und Aufschwung beizutragen schien. Das Prinzip Ausgrenzung – Wissenschaftler sprechen von „Exklusion“ – erzeugte stabile (macht)politische Verhältnisse. Im Kern blieb in Deutschland alles beim Alten, wie gewünscht. Martin Kronauer von der Fachhochschule Berlin hat es auf den Punkt gebracht: „Gerade weil Ausgrenzung in Deutschland so gut funktionierte, musste sie nicht thematisiert werden. Die gesellschaftliche Mitte war von ihr kaum berührt.“
Und heute? Die Mittelschicht – Rückgrat und Zentrum jedes westlichen Landes – ist in die Defensive geraten. Sie will verschont bleiben, nicht hinabgleiten in unsichere Verhältnisse oder gar ins Prekariat. 2004, als es besonders schlecht aussah auf dem deutschen Arbeitsmarkt, hat sie aber erfahren müssen, dass es auch ganz schnell sie treffen kann, beruflich wie sozial. Die Mittelschicht ist geschrumpft, laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von (viele Jahre lang stabilen) 62 Prozent auf 54 Prozent im Zeitraum 2000 bis 2006. Betroffen sind fünf Millionen Menschen. Geringe Lohnsteigerungen, die Inflation und die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten machen es Teilen der Mittelschicht schwer, die gesellschaftliche Position zu halten. Mit dem leichten Aufschwung der Jahre 2007 und 2008 verschwanden die Abstiegsängste nicht von der Tagesordnung. Fast jeder zweite Deutsche meint, es gebe keine Mitte mehr, nur noch oben und unten. Petra Böhnke vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung schreibt nach eingehender empirischer Analyse, der Trend zur Verunsicherung der Mittelschichten sei an den subjektiven Bewertungen der Lebensumstände und der Befürchtung, deklassiert zu werden, ablesbar. Zwar seien Ängste und Sorgen nach wie vor am stärksten bei sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen verbreitet, doch zugenommen hätten sie im Lauf der letzten Jahre am deutlichsten bei den Mittelschichten. Und während Ausgrenzung weiter stattfindet, scheitert sie auch. Begonnen hat ihr schleichender Niedergang nach der Wende. Sie brachte zwar völkerrechtlich die Wiedervereinigung zweier Staaten, aber Deutschland ist bis heute emotional zweigeteilt. Die sich beschleunigende Globalisierung erzeugte massive Konkurrenz auf den Weltmärkten. Deutschland wandelte sich schnell von der Industrie- zur Dienstleistungs- und heute zur Wissensgesellschaft. Die Lebensformen und -vorstellungen haben eine Vielfalt erreicht, die das Land vorher nicht erlebt hat.
Zudem verschärften sich in Deutschland die Verhältnisse, stieg die Arbeitslosigkeit. Der allgemeine Wohlstand sank zwischen 1995 und 2005 spürbar. Die hohe Belastung der Sozialsysteme, an denen sich der Stand der Ausgrenzung unter anderem ablesen lässt, raubte dem Bund, aber auch so manchem Land und den meisten Kommunen phasenweise die Handlungsfähigkeit. Auch das Image Deutschlands litt, als Schulstudien wie PISA plötzlich Bildungsverlierer in den Blickpunkt rückten. Natürlich verkürze ich hier hochkomplizierte Vorgänge. Vereinfacht lässt sich sagen: Es kommt zu einer Wirkungsumkehr. Deutschland hat zu lange zu viele Menschen ausgeschlossen, ohne sie mit den üblichen Mitteln auffangen oder wieder einbinden zu können. Gegenwärtig kippt das Prinzip Ausgrenzung um. Die Ausgrenzungsfalle schnappt in dem Moment zu, in dem das große Versprechen der Bundesrepublik „Wohlstand für alle“ erkennbar nicht mehr für alle gilt. Damit kein Missverständnis entsteht: Die Ausgrenzung in unserem Land erfolgt auf vergleichsweise hohem Niveau. Selbstverständlich ist die existentielle Armut in Deutschland sehr gering, und im weltweiten Vergleich geht es uns sogar immer noch ziemlich gut. Das ändert aber nichts an den Ängsten, Sorgen und Schicksalen von vielen Millionen Menschen, an der Verunsicherung im Land. Es macht die Diskussion nicht ungültig oder gar überflüssig, denn die übermäßigen Ausgrenzungen – vor allem ihre Auswirkungen – treffen Deutschland trotzdem ins Herz. Sie treffen unser Selbstbild von einer sozial orientierten, egalitären Demokratie. Sie treffen unsere Vorstellung von Fairness und Gerechtigkeit. Sie treffen unseren Anspruch, eines der modernsten Länder der Welt zu sein. Sie treffen unsere Selbstgefälligkeit. Und schließlich weisen sie Fehlentwicklungen auf, die wir uns, so glaube ich, erst noch schmerzvoll eingestehen müssen.
Die Folgen der Ausgrenzung sind verheerend. Wir haben so viele Ausgegrenzte produziert wie nie zuvor. Wir haben so viele Bildungsverlierer wie nie zuvor. Wir haben so viel Abstiegsangst wie nie zuvor. Bei dem hohen Grad an messbarer, erlebter und wahrgenommener Ausgrenzung wird das Thema zur nationalen Frage. Wir sind nach wie vor nicht fähig, für das eigene Land ein gesellschaftlich verbindliches (und einbindendes!) Selbstverständnis zu benennen. Daher scheitern wir daran, einen wirklich integrationsfähigen Staat zu entwickeln. Denn immer breitere Teile der Bevölkerung werden (oder fühlen sich) ausgegrenzt. Vom Ausbildungsmarkt und Arbeitsleben, von der vermeintlichen Chancengerechtigkeit des Bildungssystems, von Aufstiegschancen, von der Konsumwelt – ganz grundsätzlich also vom Gefühl, dazuzugehören zu diesem Deutschland des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Kein Vaterland, nirgends, das ein echtes Wir-Gefühl erzeugte. Die Frage nach dem sozialen Kitt hat in den vergangenen Jahren an Dringlichkeit gewonnen wie schon lange nicht mehr. Führende Politiker sind in jüngster Zeit immer wieder darauf eingegangen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärte, dass die Fliehkräfte, die unsere Gesellschaft auseinandertreiben, eher stärker würden. Auf dem CDU-Parteitag in Hannover im Dezember 2007 mahnte sie im Zusammenhang mit der Diskussion um Managergehälter und -abfindungen, die Bürger dürften den Glauben an den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht verlieren. „Wenn das nicht mehr funktioniert, fliegt uns der ganze Laden auseinander.“ Bayerns Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) fragte sich wenig später in einem Zeitungsinterview: „Wie können wir die Gesellschaft stabilisieren und ihren Zusammenhalt in Zeiten der Globalisierung fördern?“ Und für den SPD-Parteivorsitzenden Kurt Beck ist das Ziel, die „soziale Balance“ wiederzufinden, zum politischen Mantra geworden. Das heißt aber auch, dass die soziale Balance zuvor verlorengegangen sein muss. Die Ursache dafür allein in den Sozialreformen des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu sehen wäre sicher zu kurz gedacht. Je größer die ausgegrenzten Gruppen, desto massiver die Probleme des sozialen Zusammenhalts. Eine ungezügelt zunehmende Ausgrenzung wird früher oder später für kaum überbrückbare soziale Spannungen sorgen, zum Auseinanderbrechen der sozialen Systeme führen und in der Folge auch zum wirtschaftlichen Absturz im internationalen Wettbewerb. Wer will das riskieren? Wer will das verantworten? Und wer will nicht wenigstens etwas dagegen getan haben?
Die beiden Soziologen Heinz Bude und Andreas Willisch, spezialisiert auf Ausgrenzung, stellen in ihrem Buch Das Problem der Exklusion fest: „Die Exklusionsproblematik führt die moderne Gesellschaft an die Grenze ihrer Gerechtigkeitsvorstellungen und Teilhabeideen.“ Doch hier kommt eine zweite, positive Kraft ins Spiel, die derzeit in Deutschland für massive Auseinandersetzungen sorgt: die Integration, der Gegenspieler der Ausgrenzung. Beide stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander. Wir können Integration im weitesten Sinne verstehen als das systematische Eingliedern, Einbeziehen, Anerkennen, Wertschätzen und die gleichwertige Behandlung von möglichst vielen Menschen, unter anderem durch eine gerechte(re) Verteilung von Chancen. Ich verstehe hier Integration nicht im herkömmlichen Sprachgebrauch beschränkt auf die Eingliederung von Zuwanderern oder die Eingliederung Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt, sondern in Bezug auf die ganze Gesellschaft. Das Thema Integration rückt gerade ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit der Großen Koalition hat ein wirkliches, wenn auch vorsichtiges und zum Teil hart umkämpftes Umschwenken begonnen – von Strategien der Ausgrenzung zu Strategien der Integration. Wenn ich alle Sonntagsreden und Lippenbekenntnisse abziehe, bleiben immer noch eine Reihe von aussagekräftigen Beispielen übrig: Auf Bundesebene zum Beispiel der umstrittene Ausbau der Kinderbetreuung, der mehr Frauen in den Arbeitsmarkt integrieren und familiär benachteiligte Kinder früher fördern soll. Da solch eine Förderung bisher nicht ausreichend erfolgte, sind flächendeckende Deutschtests auf Länderebene für alle Vierjährigen notwendig geworden; wenn nötig, bekommen die Kinder Sprachförderung. Und der Bedarf ist groß: 25 bis 30 Prozent eines Jahrgangs weisen Schwächen in der Sprachentwicklung auf. Das soll sich jetzt ändern, damit die Kinder zum Schulstart halbwegs ähnliche Ausgangsbedingungen haben und nicht schon abgehängt sind aufgrund familiärer Versäumnisse und mangelnder Frühförderung.
Auch beim Schulsystem schlägt man neue Wege ein. Schleswig-Holstein, Berlin, Sachsen-Anhalt und andere Bundesländer setzen neue, integrative Schulformen und Lernkonzepte ein, die in anderen europäischen Ländern wie Finnland oder Schweden bereits erfolgreich praktiziert werden. Die Bundesregierung hat eine Qualifizierungsinitiative ins Leben gerufen, die ausgegrenzten Jugendlichen dabei helfen soll, einen Ausbildungsplatz zu finden. Ferner versucht die Regierung erstmals, durch systematische, praktische Bemühungen die Integration von Zuwanderern zu verbessern. Dazu gehören im Kern die Integrationskurse und der Nationale Integrationsplan, in dem mehrere hundert Ideen und Konzepte zur besseren Eingliederung von Zuwanderern zusammengefasst sind, sowie die – umstrittene – Akzeptanz des Islam und der Muslime. Auch führende deutsche Stiftungen haben sich verstärkt in die Integrationsarbeit eingeschaltet. Integration ist Befähigungspolitik auf allen Ebenen – alles überragend ist dabei die Initiative der Bundesregierung nicht. Ein Ausgrenzungsland sortiert erst einmal Menschen aus, blockt ab und versorgt dann die, die nie eine Chance bekommen haben oder keine mehr bekommen. Ein Integrationsland baut Menschen auf und verleiht ihnen Flügel. Integrationsland zu sein, davon ist Deutschland sicher noch meilenweit entfernt, auch wenn die CDU sich diesen Begriff in ihrem neuen Programm auf die Fahnen geschrieben hat; übrigens wohl unfreiwillig weitsichtig, denn die CDU benutzt den Begriff „Integrationsland“ eher als Alternative zum Begriff „Einwanderungsland“, mit dem sich die Partei immer noch erstaunlich schwertut. Aber die Stoßrichtung hat eine neue Qualität. Integration wird von wichtigen politischen Eliten nicht länger als Teil des Problems gesehen, wie das in Bezug auf die Zuwanderer der Fall war (da sie angeblich nicht funktionierte), sondern als Teil der Lösung (weil sie funktionieren muss). Seit es Deutschland nicht mehr herausragend, sondern nur noch gut geht, macht sich die Einsicht breit: Wir müssen integrieren. Wir müssen nicht nur Ausländer, sondern auch viele Deutsche wieder in unser Land einbeziehen – sozial, emotional und im Hinblick auf Chancengleichheit.
Die Strategie „Integration“ steckt noch in den Kinderschuhen, aber sie gewinnt an Boden, denn schließlich fürchtet die Spitzenpolitik – und nicht nur sie – um den Zusammenhalt im Land. Es scheint sich gegenwärtig die Grundstimmung durchzusetzen, dass der Staat übergeordnete Ziele wie Wohlstand, Wirtschaftswachstum und sozialen Frieden besser dadurch erreichen kann, wenn er möglichst viele in die entsprechenden Prozesse mit einbezieht, statt Ausgrenzung zu dulden oder zu betreiben. Denn die geht nur zunächst auf Kosten der Ausgegrenzten, am Ende aber auf Kosten aller, die die teuren Sozialprogramme mit finanzieren, die die Ausgeschlossenen versorgen. Programme, die selten verhindern, dass die Menschen sich außen vor fühlen und Frust und Angst anhäufen. Heute haben wir ein Stadium der offenen Auseinandersetzung erreicht. Die politischen Vertreter der Integration und die der Ausgrenzung liefern sich offene Gefechte. Ich will kurz drei Beispiele für solche Kämpfe von Ausgrenzern und Integrierern geben: Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat erreicht, dass die Kinderbetreuung erheblich ausgebaut wird. Sie will damit Frauen und Kinder gleichermaßen fördern. Der Augsburger Bischof Walter Mixa wetterte dagegen und polemisierte, die Frau werde zur Gebärmaschine degradiert. Von der Leyen sei kinderfeindlich und ideologisch verblendet, sie opfere das Kindeswohl, um „junge Frauen als Arbeitskräftereserve für die Industrie zu rekrutieren“. Der Bischof hält kategorisch an den traditionellen Rollenbildern fest. Seine Botschaft: Die Frau gehört nach Hause zum Kind. Alle anderen sind Rabenmütter. Er weiß, was für alle Frauen gut ist. Dass eine Bundesministerin Frauen grundsätzlich und flächendeckend Chancen bieten will, die das alte System ihnen mit Unterstützung der katholischen Kirche verbaut hat, geht für ihn nicht. So agieren Ausgrenzer.
Schulen sind Ländersache. Ute Erdsiek-Rave (SPD), Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, hat die Hauptschule im hohen Norden abgeschafft. Ihre Begründung: Die Schulform funktioniert nicht mehr. Sie ist stigmatisiert. Keiner will seine Kinder dorthin schicken. Keiner will Hauptschüler sein. Und die, die es sind, kriegen unerträglich häufig keinen Abschluss, keine Lehrstelle, keinen Job. Selbstverständlich tragen manche Jugendliche auch selbst dazu bei; doch dass sie vornehmlich Opfer ihrer familiären und sozialen Verhältnisse sind, kann niemand leugnen. Deutschland scheitert an der Aufgabe, hier für Ausgleich zu sorgen. In Schleswig-Holstein wird deshalb die Gemeinschaftsschule eingeführt, die auf mittlere Sicht bis zum Abitur führen soll. In Abkehr vom selektiven Ansatz – der Schulwahl nach der vierten Klasse – sollen Kinder und Jugendliche länger gemeinsam lernen und stärker individuell gefördert werden. Erdsiek-Rave will das Aussieben beenden, Hängenbleiben ist out. Die Gemeinschaftsschule soll durch diese Strukturen mehr Wir-Gefühl und Solidarität zwischen starken und schwachen Schülern erzeugen. Nordrhein-Westfalens Schulministerin Barbara Sommer (CDU) hält dagegen an der Hauptschule fest. Die CDU-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen ist sich sicher: „Die Hauptschule ist ein Zukunftsmodell“, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Mit einer Finanzspritze von 120 Millionen Euro will sie die Hauptschulen zukunftsfähig machen. Als müssten die nur etwas aufgepäppelt werden. Als gäbe es keine Vertrauenskrise der Eltern in diese Schulform. Als läge die Hauptschule nicht im Sterben. Sie wolle den Schülern ihre Würde zurückgeben, sagt Sommer in einem Fernsehinterview, damit die Kinder erfahren, dass sie kein Rest sind. Ausgrenzung als Heilsbringer … Drittes Beispiel: Bei der Zuwanderung hat der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) Anfang 2008 im Landtagswahlkampf eine sachlich radikal verkürzte und damit verzerrte, extrem ausgrenzende Kampagne gegen Ausländer gefahren. Gegenspieler dieser Politik und Strategie fanden sich auch in seiner eigenen Partei: Siebzehn Spitzenpolitiker der Union unterzeichneten einen offenen Brief, distanzierten sich von Kochs Treiben und forderten die Integration von Ausländern. Unter ihnen war Hamburgs regierender Bürgermeister Ole von Beust, initiiert hatte den Brief der Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet.
Die Beispiele zeigen, dass die Kontroverse um Ausgrenzung auf der einen und Integration auf der anderen Seite gerade in konservativen Kreisen sehr heftig verläuft. Kein Wunder, denn dort prallen traditionelle Besitzstandswahrer, die auf Vorrechte der Etablierten pochen, am stärksten auf fortschrittlichere Politiker. Integrieren wir oder grenzen wir aus? Diese Frage wird häufig nach wie vor seltsam vernachlässigt. Dabei ist sie maßgeblich für unser grundsätzliches Selbstverständnis und für die Qualität unserer Demokratie. Deshalb steht diese Frage im Mittelpunkt meines Buches. Das Aufkommen der Integration sollte niemand unterschätzen. Im Gegenteil: Sie entwickelt zu viel Wucht, als dass sich sagen ließe, hier schlüge das Pendel nur kurz mal in die andere Richtung aus. Ein fundamentaler Richtungswechsel bei gesellschaftspolitischen Schlüsselthemen hat begonnen. Ein Paradigmenwechsel liegt in der Luft, eine Transformation der deutschen Gesellschaft. Die Integration kann, voll entfesselt, zur neuen Grundströmung werden. Nichts Besseres könnte Deutschland passieren. Nachdem wir es zugelassen haben, dass eine erhebliche Anzahl von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zur verlorenen Generation geworden ist, lautet jetzt die entscheidende Frage, wie der Wechsel durchgesetzt und gestaltet wird, ob beherzt, zielgerichtet und kompetent oder verzagt, umständlich und schludrig. Die hier gemeinten Integrationsbemühungen sind kein linker Tugendterror; kein politischer Beliebtheitswettbewerb. Es geht nicht um politicial correctness. Integration ist kein Gefallen, der den Ausgegrenzten getan wird, kein Almosen, keine Wohlfahrt. Sie entwickelt sich vor allem aufgrund des ökonomischen Drucks – nicht zuletzt mit der Absicht, unsere Leistungsfähigkeit zu steigern und die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland zu sichern. Integration lässt sich nicht mehr in rechte oder linke politische Schubladen stecken.
Ist der Wandel nachhaltig, kann er grundlegende Auswirkungen auf den „Charakter“ Deutschlands haben. Ein neues Selbstverständnis entsteht, das mehr einbindet als ausgrenzt. Die Identität des Landes bekommt einen neuen Schub. Integration kann deutsche Identität neu definieren und tut es vielleicht auch schon … Allerdings kann die Auseinandersetzung mit der deutschen Identität die Integration sowohl befördern als auch ausbremsen. So stehen Integration und Identität in Wechselwirkung miteinander. Ich will keinen Hehl daraus machen, dass ich die Integration für den richtigen – und einzigen – Weg halte, unser Land wieder stark zu machen. Insofern ist für mich die spannende Frage, wie wir Integration mit einer modernen Identität vereinbaren und verschränken können. Als ich Kollegen, Freunden und Bekannten erzählte, dass es in diesem Buch auch um deutsche Identität gehen soll, bekam ich immer ähnliche Antworten, die sich leicht zugespitzt so zusammenfassen lassen: Ach, zum tausendsten Mal Nationalsozialismus und das Dritte Reich? Das Wunder von Bern und die Wende? Bitte nicht du auch noch, ist doch alles schon gesagt, spar dir die Mühe, kommt eh nichts bei raus. Immer die alten Mythen: Beethoven lauschen, Goethe lesen, für Hitler schämen. Ich war verblüfft, dass vor allem jüngere Leute geradezu allergisch auf das Thema reagierten. Ein ziemlich klarer Hinweis für den Journalisten in mir, einen neuralgischen Punkt getroffen zu haben. Das weckte meine Neugier zusätzlich. Schließlich wollte ich mehr herausfinden über das Verhältnis von Integration und Identität in Deutschland. Meine Recherchen führten mich nicht nur in die Geschichtsbücher, sie führten mich auch nach Dachau, Köln, Kiel und Berlin – zu spannenden Menschen, die auf die unterschiedlichste Weise mit deutscher Identität arbeiten und umgehen. Die Deutschen haben nach dem Krieg zwar eine neue Identität nach außen entwickelt, aber bisher keine nach innen, sich selbst gegenüber. Wir haben eine gespaltene Identität. Wir sind die gespaltenen Deutschen. Ausgrenzung, Integration und Identität – diese Begriffe sind nicht nur miteinander verzahnt, sie sind unverzichtbar für ein besseres Verständnis des gegenwärtigen Deutschlands. Ihr Verhältnis zueinander, ihre dynamische Entwicklung, ist das Jahrhundertthema. Der rote Faden dieses Buches sind, kurz zusammengefasst, folgende Gedanken:
1. Ausgrenzung ist bisher ein prägendes Merkmal von und Herrschaftsinstrument in Deutschland.
2. Die Ausgrenzung scheitert, weil durch sie zu viele Gruppen und Menschen ausgegrenzt wurden und werden.
3. Der Stellenwert der Integration steigt. Langsam, aber sicher.
4. Der Aufstieg der Integration wirkt sich auf das deutsche Selbstverständnis aus.
5. Die Integration muss mit einem neuen nationalen Selbstverständnis einhergehen und umgekehrt – um Deutschland fi t zu machen für das einundzwanzigste Jahrhundert.
©Droemer Knaur©
BINGÜL, BIRAND: Kein Vaterland, nirgends. Droemer Knaur, München 2008. 240 S., 16,95 €.