SCHIVELBUSCH, WOLFGANG: Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939. Carl Hanser Verlag, München 2005. 223 Seiten, 21,50 €.
Von Roland H. Wiegenstein
Es gibt Bücher, die in einer labilen Situation plötzlich wie eine Art Signal wirken, obwohl sie in ihrer Anlage eher darauf hinweisen, dass darin nur ein Teilaspekt der Wirklichkeit mit gebotener Gründlichkeit untersucht wird. In diesem Jahr gab es zwei besondere Exemplare dieser Gattung: Götz Alys eindrucksvoll dokumentierte Studie über „Hitlers Volksstaat“, die sofort eine Polemik auslöste, weil sie etwas belegt, was zwar in der Erinnerung der Zeitzeugen lebendig war, in der historischen Forschung aber allenfalls am Rande auftauchte: die Tatsache, dass der NS-Staat nicht allein auf Terror aufgebaut war, sondern sich weitgehender Zustimmung in einer Bevölkerung erfreute, die verarmt und verunsichert allein wahrnehmen wollte, dass es aufwärts ging und sich die Lebensverhältnisse verbesserten. Der Verlust an Freiheit – etwa der Meinungsfreiheit – wurde aufgewogen durch eine spürbare Verbesserung der ökonomischen Situation der Massen. Welchen Preis das kostete, bis hin zur Ausraubung einzelner Segmente der Bevölkerung, das hat Aly stringent belegt. Und ebenso das Einverständnis der Gewinner dieser mörderischen Strategie, will sagen: der Mehrheit des „deutschen Volkes“. Gegen diese Interpretation längst bekannter, aber nie derart in einem Kontext behandelter Fakten erhob sich doppelter Widerspruch. Zum einen von Seiten jener Forscher, die stets ihr Augenmerk auf den Terror des Zwangsstaats gerichtet und ihn in all seinen Verästelungen untersucht haben. Für sie ist Alys Buch (fälschlicherweise) eine subtile Verharmlosung. Zum anderen gab es Kritik von denjenigen, die den Autor mit dem Verdacht konfrontieren, in seiner Arbeit werde jenem Liberalismus, der sich in Gestalt der Globalisierung nicht nur „im Westen“ durchgesetzt hat, sondern mit rasender Geschwindigkeit weiter ausbreitet, etwas entgegengesetzt, das auf die Vorteile staatlicher Lenkung verweist.
Ähnliche Strukturen
Für diesen zweiten Aspekt steht – nicht im Gewand einer umfangreichen historischen Analyse, sondern in der Form eines Grundrisse nachzeichnenden Essays – Wolfgang Schivelbuschs Buch „Entfernte Verwandtschaft“, das Faschismus, Nationalsozialismus und Roosevelts „New Deal“ vergleicht. Von Gleichsetzung kann dabei freilich keine Rede sein: Schivelbusch macht auf ähnliche Strukturen in diesen drei verschiedenen Formen politischer Herrschaft aufmerksam und nennt ihre gemeinsame Voraussetzung: die tief greifende Krise des Kapitalismus, die im Börsenkrach von 1929 kulminierte; alle wollten ihr mit Maßnahmen begegnen, die geeignet sein sollten, der enormen Arbeitslosigkeit der folgenden Jahre Einhalt zu gebieten. Schivelbusch konstatiert, dass das geheime „Vorbild“ all dieser Versuche die Sowjetunion war, wo Stalins Sozialismus mit dem ersten Fünf-Jahres-Plan dem unterentwickelten Land einen enormen Modernisierungsschub gab. Dessen enorme Kosten wurden dagegen erst sehr viel später erkannt. Vor allem aber nennt Schivelbusch die Bedingungen, unter denen ruinierte Volkswirtschaften saniert wurden: durch staatliche Eingriffe, die das freie Spiel des Marktes auf Zeit oder Dauer einschränkten oder sogar aussetzten. Dies geschah bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, der mit dem Sieg Roosevelts, Churchills und Stalins über die faschistischen Regimes endete und mit einigen Korrekturen den Markt wieder inthronisierte.
Unterschiedliche Mobilisierung der Massen
Schivelbusch beginnt mit dem traumatischen Ereignis des Ersten Weltkriegs, in dem der „Kampf“ als Metapher sich durchsetzte, war es doch dieser Kampf an allen Fronten (einschließlich der Heimatfront), der das Bewusstsein von mehr als einer Generation geprägt und deformiert hatte. Es war die noch in der Erfahrung dieser Generationen verankerte Kommandowirtschaft, die durch die instabilen, ökonomisch wilden Nachkriegsjahre geisterte als etwas positiv konnotiertes, weil sie zumindest effektiv gewesen war und nach einem „Führer“ verlangte. Schivelbusch analysiert die Unterschiede in den Handlungsmustern der neuen Führer (Vergleiche fördern notwendig Unterschiede zu Tage). Mussolinis neobarocke Rhetorik und seine theatralische Großmannssucht. Hitlers Brand- und Aufbaureden, die auf Massen von Live-Zuhörern angewiesen waren. Die „Reichsempfänger“ übten in diesem Sinne keinen großen Einfluss auf die propagandistische Überzeugungskraft Hitlers aus. Sie dienten allenfalls als Verbreitungsinstrumente der „Führerreden“. Die deutschen Haushalte verfügten während der ersten Jahre der NS-Diktatur keineswegs in ihrer Mehrheit über Rundfunkgeräte. Untersucht werden auch Roosevelts wöchentliche Radioansprachen am Kamin, die sich nicht an die Massen wandten, sondern an die vielen Einzelpersonen vor den Radiogeräten, die in Amerika schon weit verbreitet waren. „Einer Studie der Rockefeller Foundation 1939 zufolge war das Radio für eine Arbeitslosenfamilie ein wichtiger moralischer und psychologischer Stützpfeiler. Sein Verlust wurde als Unglück und als Zeichen der endgültigen Verelendung empfunden.“ Roosevelts gleichsam privates Zureden über das Radio machte ganz offensichtlich Mut, während Hitler und Mussolini auf die körperliche Anwesenheit der Massen angewiesen waren.
Gleichwohl hatten diese propagandistischen Maßnahmen etwas gemeinsam: den weithin geglückten Versuch, die Massen zu mobilisieren, ihre Zustimmung für die staatlichen Maßnahmen zu erreichen – die Völker gerieten „in Bewegung“. Sie hatten, übrigens zu Recht, das Gefühl, dass nicht mehr knauserige Finanzminister jeden „Aufschwung“ – wie man das heute nennt – behinderten, sondern dass der Staat mit vollen Händen half. Mit dem Effekt, dass sowohl die deutsche als auch die italienische Volkswirtschaft 1939 vor dem Bankrott standen, den nur Raubkriege aufhalten konnten. Das ungleich reichere Amerika hingegen musste sich hoch verschulden und kam erst lange nach Kriegsende wieder zu einem erträglichen Budget.
Symbole, um die Bevölkerung einzustimmen
Schivelbusch untersucht die Methoden der Propaganda, die in den faschistischen Staaten „total“ war, während Roosevelt immer mit den Angriffen der Presse rechnen musste, die seine lenkenden Maßnahmen verabscheute; ihm blieb als Gegenmittel nur das Radio. Man brauchte Symbole, um die Bevölkerung einzustimmen, Symbole, wie sie Stalin mit perfider Erfindungsgabe setzte. Die USA versuchten es zum Beispiel mit der „Blue-eagle“-Kampagne, in der Betriebe, die neue Stellen schufen, sich mit öffentlich ausgestellten Siegeln schmücken durften. „Herrenlos – als der noch unentschieden-undefinierte Wille der Massen – auf der Straße liegend, kann die richtige Parole sie gewinnen. Und die stammte überall aus dem Arsenal der Kapitalismuskritik, die in den USA sehr viel lauter tönte als in Europa.“
Die Gelehrten streiten darüber, welchen Effekt solche Parolen und symbolischen Akte ökonomisch wirklich hatten. Dass der Ruf „Good times are back again“ ebenso wie „Kraft durch Freude“ psychologisch wirksam waren, ist unbestritten. „Die alten Regimes vermochten niemanden zu erwecken, zu erheben, zu bezaubern und mitzureißen, weil sie nicht nur keine ökonomische, sondern nicht einmal eine demagogisch-propagandistisch-politische Perspektive hatten. Der Nationalsozialismus und der New Deal hingegen verfügten über die in diesem Augenblick notwendige Gabe des innovativen, souveränen und skrupellosen Einsatzes der Symbole.“
Bauern-Idylle neben technischem Fortschritt
Dabei spielte die allgegenwärtige Tendenz, dem Moloch des Finanzkapitals, der Großindustrie, den unüberschaubaren dschungelhaften Großstädten etwas Übersichtliches entgegenzusetzen, eine wichtige Rolle. Regionale Unterschiede („Heimat“ hieß das in Deutschland) wurden betont und mit einem emphatischen Begriff von der „Nation“ überhöht. „Außerdem war der Nationalismus natürlich die Weltanschauung der Mittelklasse, die in seinem Zeichen ihren historischen Aufstieg unternahm, als die einzige Klasse, die ihre Existenz mit der Nation gleich- und nicht selten aufs Spiel setzte.“ Das „plötzliche Herausfallen aus vermeintlich ewigem Wohlstand“ führte „in ein bodenloses Nichts“. So entdeckte man „naturgegebene Bindungen“ und „Werte“ wieder und die Regierungen taten alles, um diese zu fördern, und sei es um den Preis einer längst überholten Agrarwirtschaft, wie sie Mussolini bei der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe besonders grotesk pflegte. Amerika und Deutschland setzten zumindest neben die Bauern-Idylle auch den technischen Fortschritt. Roosevelt tat dies mit dem Projekt der „Tennessee Valley Authority“, die einen riesigen Landstrich durch den Bau von Talsperren, neuen Straßen, Siedlungen und Aufforstungen radikal veränderte. Hitler ließ Autobahnen bauen, die sich zwar später als strategische Adern für schnelle Truppentransporte erwiesen, zunächst aber als nationale Aufgabe auch ästhetische und psychologische Wirkungen entfalteten: Wenn all diese eleganten, bewusst gewundenen Höhenunterschiede, entweder durch hohe Brücken ausgleichenden oder sie hügelauf, hügelab als Augenreize einsetzenden Betonbänder einmal fertig wären, so der Traum, würde man selbst auf ihnen fahren, am besten mit dem „Volkswagen“, für den man sparte. Schivelbusch behandelt diese Großprojekte in seinem Buch ausführlich. Auch in der gleichen klassizistischen, dem „internationalen Stil“ abschwörenden Monumentalität öffentlicher Bauten in Washington, Berlin, Nürnberg, Rom und Moskau zeigte sich eine Aufforderung zu Größe und symbolischer Teilhabe, wenn schon nicht der Freiheit. So gerieten die Nationen wirklich in Bewegung – mit den Ergebnissen, die wir kennen.
Feinde werden zur ökonomischen Notwendigkeit
Schivelbuschs Buch ist eine anregende historische Studie, die freilich in der Situation eines neuen Knicks in der kapitalistischen „Aufwärts“-Entwicklung – um nicht von Rezession zu reden – Nachdenken provozieren kann und soll.
Das Buch schließt mit der Frage, ob es nicht des Krieges bedurfte, um die Bewegung weiterzuführen. „Was wir brauchen, sind Feinde, denn die werden für uns zu einer ökonomischen Notwendigkeit“, zitiert er den amerikanischen Ökonomen John T. Flynn, der 1944 in einer Studie den „New Deal“ verdammte: „Der Dirigismus erfordere ein immer höheres Staatsdefizit. Das sei gut, so lange damit die Massen zufrieden gestellt werden würden und der Schuldenberg keine kritische Masse erreiche. Beide Voraussetzungen aber bedurften der Krise, beziehungsweise des Krieges in Permanenz.“
Das Fazit ist einigermaßen fatal: ohne eine „levée an masse“ (wie sie die französische Revolution mit der Ablösung der Söldnertruppen durch die Freiwilligen und später mit der allgemeinen Dienstpflicht installierte), kommt man aus einer Wirtschaftskrise nicht heraus, aber die damit verbundene „Bewegung“ infolge des staatlichen Eingriffs führt, vielleicht notwendigerweise, zu einer Art Kriegswirtschaft. George W. Bush hat es begriffen.