Alexander Demandt: Es hätte auch anders kommen können. Wendepunkte deutscher Geschichte. Propyläen Verlag, Berlin 2010. 286 S., 19,95 Euro.
Von Monika Thees
Es hilft kein Wünschen, kein sich widersetzendes Leugnen. Was war, ist geschehen, ist unabänderlich. Der Weg der Geschichte lässt sich nur einmal gehen, er führt ins Heute der Gegenwart, uns alle zu dem, was wir geworden sind, als Staats- und Weltenbürger. Im Rückblick beklagen wir den Um-, Irr- und Sonderweg, den vermeidbaren Rückschritt, die sinnlosen Schrecknisse, wir begrüßen die politische Weitsicht, die kluge Fügung. Verschlungen oder gradlinig, der Zeitstrahl der Vergangenheit reiht Wirkung an Ursache, als kausale Kette durchzieht der lineare Lauf der Historie Jahre und Dezennien, Jahrhunderte und Epochen. Das zeigt der fachkundige Blick zurück. Kein Eingriff der Gegenwart kann die Stellschrauben nachträglich drehen, die Weichen anders setzen, den Heutigen bleiben das Zusammentragen der Fakten, deren Analyse und nachträgliche Wertung, die Aufmerksamen mahnt das Beispiel als Lehre der Geschichte.
„Was wäre, wenn ...“ Der Konjunktiv II eröffnet ein Gedankenspiel – als Spekulation und Annahme, als unterhaltsames wie lehrreiches Jonglieren mit Möglichkeiten des Ungeschehenen. Was wäre geschehen, wenn der Cherusker Arminius anno 9 n. Chr. im Teutoburger Wald gescheitert wäre?, fragt der Althistoriker und Kulturwissenschaftler Alexander Demandt. Pontius Pilatus Jesus begnadigt hätte? Metternich nicht zum Zuge gekommen wäre? Der Erste Weltkrieg entfallen oder eines der Attentate auf Hitler gelungen wäre? Was, wenn im September 1949 Adenauer nicht zum Kanzler gewählt worden wäre? Mehr als einmal stand es auf Messers Schneide, hing die Entscheidung am seidenen Faden. Was geschah, war weder stets zwingend noch ohne Alternative. Die Geschichte steuert auf kein Ziel, zu jedem Faktum gab es gefürchtete, unvorgesehene und gewünschte Varianten, manch Unverwirklichtes lag nie außerhalb des Vorstellbaren. Am Scheideweg entschied zuweilen ein Funke, eine Beiläufigkeit, der Zufall gar.
„Historia eventualis“ oder virtuelle Geschichte heißt die gedankliche Übung, die weit mehr bietet als intellektuellen Zeitvertreib. Anfangs belächelt als akademische Spinnerei, hat sich die counterfactual history inzwischen zumindest im angelsächsischen Raum etabliert, als durchaus ernst zu nehmende Schärfung des Geistes, als Erkenntnisgewinn über Brüche und Kontinuitäten geschichtlichen Verlaufs. Welche Zwangslagen gab es, welche Handlungsspielräume lagen vor? Nur der umfassende Blick auf Details kann dies klären, streng kontrolliert unter Anerkennung aller Fakten entbehrt die hypothetische Fingerübung keinesfalls der wissenschaftlichen Akribie. Disziplin und Methodik klopfen die Möglichkeiten ab, die nicht tatsächlich wurden. Der Irrealis benennt plausible Alternativen, unausgeschöpfte Chancen, sie liefern den entscheidenden Einspruch wider den Fatalismus jeglicher Art: Die Vergangenheit war einmal Zukunft, ihr stets offener Weg den damaligen Akteuren ungewiss.
1983/84 wagte Alexander Demandt, derzeit Ordinarius für alte Geschichte an der Freien Universität Berlin, das akademische Experiment. Ergänzend zum gemeinsam mit Hagen Schulze angebotenen Seminar „Ungeschehene Geschichte“ – die damalige Berliner Prüfungskommission für Lehramtskandidaten untersagte jedoch die Anerkennung der Scheine! – verfasste er ein Traktat („Ungeschehene Geschichte“, Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1984), das bei seinen Lesern auf erstaunliche Resonanz stieß und bislang mehrere Auflagen erfuhr. Für „Es hätte auch anders kommen können“ griff der seit 2005 Emeritierte Kerngedanken auf und führte den Stoff breiter und detaillierter auf: Mit gewohnt kenntnisreichem Blick auf die Brüche der Geschichte entwirft der inzwischen 73-Jährige Alternativszenarien, die zwar nicht eingetreten sind, aber durchaus wahrscheinlich waren. „Kontrafaktische Geschichte unterscheidet sich vom historischen Roman und vom Science-fiction dadurch, dass sie nicht kulturell angereicherte Unterhaltung bietet, sondern Einsicht vermittelt, dass sie überzeugen will, indem sie nicht einfach erzählt, sondern faktennah argumentiert“, erläutert der Autor.
Dass dies nicht spröde geschieht, sondern mit überraschenden Querverweisen und leichthändig eingeworfenen Apercus, versteht sich bei Alexander Demandt, der faktensatt und vorzüglich zu schildern versteht („Über allen Wipfeln“, eine Kulturgeschichte des Baumes, 2002, oder „Vandalismus“, über das Phänomen der Gewalt gegen Kultur, 1997) und einem breiteren Publikum auch durch die TV-Serie „ZDF History“ bekannt ist, fast von selbst. Des Öfteren schon hat der 1937 in Marburg Geborene, jeweils mit großem Erfolg, neben Veröffentlichungen zum Schwerpunkt Spätantike (so die Biografie Alexanders des Großen, 2009) geschichtliche Längsschnitte erstellt, die Aspekte der Geschichtstheorie und -philosophie sowie die Wissenschaftsgeschichte mit einbeziehen. Hervorzuheben sind die „Sternstunden der Menschheit", 2000, eine Etappenreise zu dreizehn geschichtlichen Wendepunkten, und der Band „Über die Deutschen. Eine kleine Kulturgeschichte“, 2007, ein Werk von stupender Gelehrsamkeit, meinte dazu die „Welt am Sonntag“.
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Ein brillant essayistischer Stil und Demandts aus Vorlesungen bekannte rhetorische Verve kennzeichnen auch „Es hätte auch anders kommen können“. Keine trockenen, faktenstrotzenden Ausführungen erläutern die „Wendepunkte deutscher Geschichte“, sondern souverän dargelegte Zusammenhänge, Übergänge, Gleichzeitigkeiten und Widersprüche in der geschichtlichen Lebendigkeit ihres Prozesses. Was wäre geschehen, wenn Hannibal Rom erobert hätte, Friedrich der Große bei Mollwitz gefallen, die Achtundvierziger Revolution gelungen wäre? Antike Alternativen sind vorstellbar, ein anderes Mittelalter ist denkbar. „Die Spaltung Deutschlands und Europas mit der Reformation, der gescheiterte Bauernkrieg, die entsetzlichen Opfer des Dreißigjährigen Krieges – waren sie unvermeidlich?“ Alexander Demandts Fragen verhallen nicht im Vagen, das Abwägen der Varianten ist eingebettet in die Analyse der Verflechtungen, die Erkundung der Spielräume erfolgt mittels gesicherten Faktenwissens und historischer Fantasie.
Gab es Ausweichmöglichkeiten zum Ersten Weltkrieg, lässt sich ein gänzlich anderer Ausgang denken? Wohl jeder der Nachgeborenen wünschte sich geringere Verluste, weniger Leid und Gewalt. Kaum einer der führenden Politiker vor 1914 „würde, wenn es möglich wäre, ein zweites Mal so gehandelt haben wie damals“. „Versailles“ wurde zum schrecklichen Reizwort, zur zugkräftigsten Wahl- und Kriegsparole Hitlers. Welche Nebenwege hätten an ihm vorbeigeführt? Alexander Demandt zieht drei Varianten in Betracht, „zum einen ein Sieg des Sozialismus nach 1918, zum zweiten ein Überleben der Weimarer Demokratie nach 1933 und zum dritten ein Fortbestand des Nationalismus ohne Hitler, ohne den Weltkrieg oder nach einem Sieg über die Alliierten“. Was wäre wünschenswert, was hätte in ungeschehene Katastrophen geführt? Und lassen diese Möglichkeiten sich überhaupt plausibel konstruieren?
Die deutsche Geschichte, so wie sie faktisch verlief, war an viele Vorbedingungen geknüpft. An den Wegmarken der historischen crisis entschied sich ihr Verlauf. Ohne Rom, ohne das Christentum wären wir nicht das geworden, was wir sind. Die Reformation ist nicht denkbar ohne Luther, das Deutsche Reich nicht ohne Bismarck, die Wiedervereinigung nicht ohne die friedliche Revolution. Nein, wir leben ganz und gar nicht in der „besten aller Welten“ (Gottfried Wilhelm Leibniz), nur in der Gegenwart. Auch sie kennzeichnet eine Kette von Entscheidungssituationen, die jeweils eine unter mehreren Alternativen wirklich werden lässt. Je nach politischer Präferenz und Wertung erscheint eine Option erstrebenswert, eine zweite aussichtslos, eine dritte sei strikt zu unterbinden. Die Vergangenheit vergeht nicht, sie ist nur im Konjunktiv veränderbar. Was hinter uns liegt, steht fest. Allein die Zukunft bietet Spielraum für die Gestaltung der Welt.