Von Thomas Borchert
Das sollte Neugier wecken: Ein mysteriöser deutscher Literat und Nobelpreisfavorit erwürgt eigenhändig Nazimörder und wird Hauptfigur eines wilden Tausendseiten-Romans aus Südamerika. Dieser seinerseits wurde nach dem Erscheinen des spanischen Originals und der englischen Übersetzung von überwältigten Kritikern in eine Reihe mit Jahrhundertwerken wie Herman Melvilles „Moby Dick“, „Ulysses“ von James Joyce und Thomas Pynchons „Die Enden der Parabel“ gestellt.
Roberto Bolaños „2666“ liegt jetzt, sechs Jahre nach dem viel zu frühen Tod des leberkranken chilenischen Autors, auch in der deutschen Fassung vor. Das Warten hat sich gelohnt, möchte man etwas erschöpft eine abgegriffene Floskel nach der Lektüre mit letzter Kraft hauchen, denn dieses Romanmonster in fünf Bänden verlangt den Lesern wahrlich alles ab. Und gibt auch dem viel zurück, der Bolaños finstere Sicht auf das 21. Jahrhundert trotz allem nicht teilen mag.
Wie schon bei seinem grandiosen Romandebüt „Die wilden Detektive“ steigt Bolaño auch in „2666“ im Literatenmilieu ein. Vier junge akademische Kritiker, glühende Verehrer des öffentlich nie aufgetretenen deutschen Autoren Benno von Archimboldi, machen sich auf die Spurensuche nach der Person - werden aber nie fündig. Für ihre Geschichte viel wichtiger ist auch das gegenseitige Verhältnis dieses Quartetts bestehend aus einem Spanier, einem Franzosen, einer Engländerin und einem gelähmten Italiener.
Viel Sex, kreuz und quer, über den ebenso wie über literaturwissenschaftliche Feinheiten viel und ohne Hemmungen geredet wird. So in einem Londoner Taxi, was den pakistanischen Fahrer zu der Bemerkung veranlasst, er habe vielleicht nicht die Herren Dickens, Stevenson und Borges gelesen. Dafür wisse er aber genau, was Würde und Anstand seien und könne die Dame des Quartetts nur als Nutte, Flittchen sowie Hure und die Herren als Zuhälter bezeichnen. Worauf die Herren Literaturwissenschaftler den Taxifahrer halbtot schlagen, sich aus dem Staub machen und ohne erkennbare Gewissensprobleme weiter ihrer Suche nach Archimboldi nachgehen.
Diese führt sie bis in die mexikanische Stadt Santa Teresa - erneut ergebnislos. Hier spielen auch drei weitere der fünf „Bücher“ in „2666“ mit fast voneinander unabhängigen Geschichten und zig Personen, die genauso unvermittelt wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. So auch die vier Literaturkritiker. Dafür rückt Santa Teresa ins Zentrum der Geschichte mit einer grauenhaften Serie von Morden an mehr als hundert jungen Frauen.
Bolaño schildert diese Morde im dritten Teil klinisch-kühl, detailliert, ausführlich, endlos, oft für den Leser unerträglich, manchmal ermüdend, einschließlich der meist hoffnungslosen Fahndungsarbeit der Polizei.
Hier ist das Zentrum von Bolaños Sicht einer finsteren, von Gewalt geprägten Welt ohne Sinnzusammenhang angesiedelt. Was könnte der mysteriöse deutsche Dichter damit zu tun haben, den doch die Kritiker in Santa Teresa niemals ausfindig gemacht haben? Im letzten Teil erfährt es der Leser, aber, wie immer bei Bolaño, komplett anders als zu erwarten war.
Die erzählerische Kraft dieses Buches entfaltet sich auch aus dem Kontrast zwischen tiefster Finsternis und Bolaños umwerfendem Witz bei der Schilderung seiner Literaten und des Literaturbetriebes. Es ist aber wahrlich kein befreiender Witz, und häufig fühlt man sich in diesem Roman einfach überfordert. Weil Personen und Geschichten so oft wechseln, ist der Anfang am Ende längst vergessen. Sätze, die sich über drei Seiten erstrecken, machen die Bewältigung nicht leichter. Auch die Gewaltdetails bei der Schilderung der Frauenmorde mag sich sicher nicht jeder zumuten.
Aber es steckt viel genuine Trauer in diesem Teil, dem eine tatsächliche Serie nie aufgeklärter Morde an Frauen in einer mexikanischen Stadt in den 90er Jahren zugrunde liegt. Hier erinnert Bolaños literarische Erinnerungs- und Trauerarbeit an den nicht minder groß angelegten Versuch von Peter Weiss in „Ästhetik des Widerstandes“, das monumentale Scheitern von Kommunisten und Sozialisten im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aufzuzeichnen.
Richtig Spaß, gerade für deutsche Leser, machen immer wieder die Passagen über Literatur und den Literaturbetrieb. Bolaño nimmt Literatur als Versuch der Wirklichkeitsdeutung ernst und betreibt sie als solchen. Aber er lacht sich auch kaputt über ihre grotesken Begleitumstände: Die vier Kritiker auf ihrer besessenen Suche nach Archimboldi finden es unerträglich, dass „der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts stirbt, ohne mit denen sprechen zu können, die seine Romane am genauesten gelesen haben“.
Als der in Spanien lebende Autor fünf Jahre an „2666“ schrieb, musste er wegen seiner schweren Lebererkrankung mit dem baldigen Tod rechnen. Er starb 2003, bevor eine als einzige Rettung mögliche Organverpflanzung zustande kam. Bolaño schrieb nicht zuletzt, um seiner Frau und seinem Kind mit den Einnahmen eine bessere Existenzgrundlage zu sichern. Deshalb sollten die fünf Bücher auch jeweils einzeln im Abstand von einem Jahr erscheinen. Woran sich Witwe und Verleger aber nicht gehalten haben.
Literaturangabe:
BOLAÑO, ROBERTO: 2666. Hanser Verlag, München 2009. 1096 S., 29,90 €.
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