Am 1. Oktober 2007 starb im Wiener Allgemeinen Krankenhaus die große österreichische Schriftstellerin Marianne Fritz im Alter von nur 58 Jahren an einer unheilbaren Blutkrankheit. Die tapfere Autorin kämpfte bis zuletzt gegen diese Krankheit, von der sie kurioserweise mehr wusste als die sie behandelnden Ärzte. Mit Beharrlichkeit befasste sie sich mit medizinischer Fachliteratur, in der großen Hoffnung, auf diese Weise gegen das Leiden ankämpfen zu können. Bis zum 28. September blieb ihr Befinden stabil, dann verschlechterte es sich plötzlich. Drei Tage später verstarb sie.
Am 14. Dezember 1948 wurde Marianne Fritz in Weiz in der Steiermark geboren. Die Familie übersiedelte nach Vorarlberg, dort machte die Tochter eine Bürolehre und legte 1966 ihre Prüfung ab. Schließlich war sie in kaufmännischen Berufen tätig. Sie war zwischenzeitlich mit dem Schriftsteller Wolfgang Fritz verheiratet. Bereits im Alter von 22 Jahren erstellte sie das Konzept für den groß angelegten Zyklus „Die Festung“, an dem sie knapp vier Jahrzehnte arbeitete. 1972 holte sie auf dem zweiten Bildungsweg und in autodidaktischen Studien die Externistenmatura nach und lebte seit 1977 (ihr Mann arbeitete seitdem in der Wiener Finanzverwaltung) fortwährend in Wien. 1978 erschien ihr erstes Buch.
„Die Schwerkraft der Verhältnisse“ erschienen als vierter Band der von Thomas Beckermann herausgegebenen Reihe Collection S. Fischer. In diesem schmalen Prosawerk, das nicht Roman noch Erzählung zu nennen ist, berichtet die Autorin vom Leben der Berta Schrei zwischen 1945 und 1963. Schrei ist eine moderne Medea, die in ihrem kleinbürgerlichen Denken sich und ihre Kinder vor dem Zugriff der Umwelt bewahren will. Erst nach deren Tötung und dem missglückten Freitodversuch stellt sie das Grübeln über diesen bösen Traum auf. (Bei Marianne Fritz sind vor allem die Namen konkret. Sie sind fast immer sprechende Namen. Sie bevorzugt Namen, die gleichsam selbst Körper sind. So auch bei dem Namen Berta Schrei.)
Für das Manuskript dieses Textes erhielt sie den Robert-Walser-Preis (1978). Anschließend erhielt Marianne Fritz den Förderpreis für Literatur der Republik Österreich (1979) und das Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien (1983–1985). 1986 wurde ihr der Rauriser Literaturpreis und 1988 der Literaturpreis des Landes Steiermark zugesprochen.
Der Lektor Thomas Beckermann setzte mit diesen Vorschusslorbeeren im S. Fischer Verlag auch ihr zweites Buch, „Das Kind der Gewalt und die Sterne der Romani“, durch. Dieser 560-Seiten Roman erschien 1980 und ist gewissermaßen das Vorwerk zu dem großen Romanzyklus „Die Festung“. Dieser Zyklus sollte aus vier großen Teilen bestehen. In ihrem zweiten Roman schildert die Autorin die Vergewaltigung einer Roma-Frau durch einen österreichischen Bauern. Das Kind dieser Gewalt legt die Romani-Mutter später auf den Altar der Kirche. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs werden hier die „Zigeuner“ (Roma) als die „Juden“ auf dem Land verfolgt. Das Buch wurde leider kaum verstanden und nur wenig gelesen.
Thomas Beckermann hatte auch noch ein ungedrucktes Schreibmaschinentyposkript erhalten und legte es intuitiv auf die Waage: die über dreitausend Seiten wogen fünfzehneinhalb Kilogramm. In seiner Erinnerung an die Autorin und der Besprechung von „Dessen Sprache du nicht verstehst“ kommt der Lektor leider nicht darauf zu sprechen, warum S. Fischer das Buch nicht mehr druckte. Lapidar heißt es: „Wie viel Lebens- und Lesezeit die Lektüre mich anderen (den Herstellern, den Setzern, den Kritikern, den Lesern) kosten wird. „Dessen Sprache du nicht verstehst“ ist eine Herausforderung für den Verlag, für den Buchhandel, und für jeden, der mit Literatur umgeht.
Mit großem Aufwand und viel Pressewirbel kündigte Siegfried Unseld (1924–2002) 1985 den Wechsel der Autorin vom Verlag S. Fischer zum Suhrkamp-Verlag an. Zeitgleich erschienen im Oktober 1985 ein Einführungsband mit dem Titel „Was soll man da machen“ und der 3.387 Seiten umfassende Monumentalroman „Dessen Sprache du nicht verstehst“ in auf eintausend Exemplare limitierter und signierter Edition – zeitgleich mit einer Ausgabe in zwölf Bänden.
Es geht um die Arbeiterfamilie Null am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Josef Null ist 1900 während den Kämpfen zwischen Arbeitern und der Staatsmacht erschossen worden. Dessen Söhne leben in seinem Sinne weiter: der älteste organisiert einen Arbeiterstreik, der zweite verweigert den Militärdienst und kehrt als „Vogelfreier“ nach Hause zurück. Die Söhne Matthias und Franz sind verzweifelt: der eine nimmt sich 1912 das Leben, der andere wird im gleichen Jahr arbeitslos. Der jüngste Sohn August verbarrikadiert sich im Kirchturm des Dorfes Nirgendwo und schießt auf alle, die ihm zu nahe kommen. Zuletzt kommen Mutter Barbara Null und ihr Sohn August Null in die Festung, die geschlossene Anstalt für Irrende zu Donaublau (einem fiktionalisierten Wien).
Im Einführungsband mit dem Titel „Was soll man da machen“ wehrt sich Heinz F. Schafroth gegen den Vorwurf des Manierismus, indem er den Roman „Dessen Sprache du nicht verstehst“ im Kontext einer Epik des 20. Jahrhunderts genau lokalisiert. Nach James Joyce, Hermann Broch und Robert Musil ist ein Erzählen nicht mehr möglich, welches Totalität zu erfassen bemüht ist und zugleich ein geschlossenes, in sich abgerundetes Werk sein will. In einem ebenfalls hier abgedruckten Brief der Autorin an ihren Lektor charakterisiert Marianne Fritz ihr Programm:
„Vielleicht befasse ich mich mit dem, was gewisse Formulare, Dokumente, karteimäßig erfasste Lebensläufe ausgrenzen, ausblenden, weglassen, nicht in sich aufnehmen, vielleicht bewegen mich die Leerstellen, das Nichtfestgehaltene, das Weggestrichene, das unerwähnt Gebliebene, das Nichtrelevante, das Überflüssige, nämlich: Erlebnisse? Schicksale? Leiden? Qualen? Pein, Irrtümer, die bezahlt werden, erlitten werden.“
Friedhelm Rathjen hat mit Recht einen Bezug zu Marcel Proust (1871–1922) hergestellt, dessen Werk additiv strukturiert ist, aber eben nicht nur additiv (Helmut Heißenbüttel). In der gewebeartigen Struktur der „Recherche“ gibt es die starke Tendenz, Erzählgrenzen und außererzählerische Erfahrungen des Lesers gegeneinander aufzulösen. Das gilt in einem gesteigerten Maße auch für Marianne Fritz mehrbändiges Werk „Naturgemäß“. Rathjen verweist ebenfalls auf Verwandtschafen zur „Ulysses“ (1922) und zu „Finnegans Wake“ (1939) von James Joyce (1882–1941) und zu „The Making of Americans“ (1925) von Gertrude Stein (1874–1946). Erzählung und Strukturierung sind hier (wie in „Naturgemäß“) identisch. Darum sind all diese Bücher nicht nach traditionellen Gattungskriterien zu erfassen, denn sie haben weniger einen Erzählansatz als einen Strukturansatz – wenngleich die Autoren dieser Werke ausdrücklich erzählen.
Und schon vor zwanzig Jahren befürchtete Wendelin Schmidt-Dengler, dass (wie wir heute bestätigt finden) die Literatur von Marianne Fritz wenig Verbreitung finden wird. Er schrieb seinerzeit zu „Dessen Sprache du nicht verstehst“: „Wenn dieses Buch auch keine massenhafte Verbreitung finden wird, so liegt das nicht an der Autorin, sondern an der Trägheit unserer Lesepraxis, die sich nicht ohne Anlass auf solche Gebilde einlassen will.“ Damit steht sie durchaus in der (Nicht-) Lesetradition von Konrad Bayers (1932–1964) „sechstem sinn“, Oswald Wieners „Verbesserung von Mitteleuropa“ und Gerhard Rühms „textall“.
Das Werk von Marianne Fritz scheint dennoch ohne Vorbild zu sein; es wirkt geradezu archaisch in seiner Genauigkeit und mit seinem langen Atem in einer von den Moden des Tages und den Selbstumkreisungen beherrschten Literatur. Ihr Werk verzichtet bewusst auf Brillanz, überraschende Effekte oder eine diskursive Kritik. Der Autorin geht es mit beinahe erbittertem Ernst nur um eines: Sie will so radikal wie möglich und mit allen ästhetischen Konsequenzen eine verborgene Geschichte erzählen, an deren Folgen noch heute zu leiden ist.
Marianne Fritz schafft einen narrativen Sog und eine packende Handlung, die den Leser nicht mehr loslassen. Nur sehr wenige Bücher haben mit diesem analytischen Scharfsinn die Zäsur von 1914 zum Thema gemacht. Der Vergleich mit dem von der Autorin sehr geschätzten Robert Musil (1880–1942) liegt nahe. „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1931/32) von Musil und „Die letzten Tage der Menschheit“ (1915–1922) von Karl Kraus zeigen wie „Die Festung“ von Marianne Fritz, warum der Erste Weltkrieg kommen sollte und legt dessen brutale Realität schonungslos dar. Allerdings handelt es sich bei den Büchern von Marianne Fritz nicht um historische Romane. Auf die realistische Erzählebene prallt immer eine mythische Ebene, eine Art „Nichtgeschichte“, die ja immer vorhanden zu sein scheint. Die voluminösen Texte laufen im Sinne einer „Nullgeschichte“ gegen Null und münden in die Negation einer Form, die damit Ausdruck einer Geschichte des Schweigens ist.
In ihrer Grazer Dissertation von 1989 schreibt Bettina Rabelhofer, dass sich bei Marianne Fritz „Stil“ erst aus dem Kommunikationsprozess als Resultat ergebe, und zwar aus den konkurrierenden Möglichkeiten des Sprachsystems der Autorin und der Lesereaktion des Rezipienten: „Stil wird so nicht mehr als statische Eigenschaft eines Textes begriffen, sondern als virtuelle Qualität, die im Rezeptionsvorgang rekonstruiert werden muss.“ Marianne Fritz bestehe auf dieser Trennung in der Hoffnung, dass auf diese Weise jedes Element mit einem anderen Element des Textes in Korrelation treten und folglich Bedeutungsfunktionen übernehmen kann.
Marianne Fritz mied konsequent die Öffentlichkeit und verweigerte sich den Gepflogenheiten des Literaturbetriebs. Sie gab weder Interviews, erledigte keine Brotarbeiten und trat auch nicht zu öffentlichen Lesungen auf. Es gibt darum von ihr keine aktuellen Fotoporträts. Ihr ging es um das Schreiben und nur darum; so saß sie täglich mehr als zehn Stunden am Schreibtisch. Von 1990 bis 1993 erhielt sie das Robert-Musil-Stipendium und 1994 den Würdigungspreis der Stadt Wien für Literatur.
Die Autorin besaß ein großes Archiv, in dem sie Material aus dem Ersten Weltkrieg sammelte, kommentierte und komplettierte. In großer Verwandlung sollte dieses Archiv zum Substrat des zweiten Teils der „Festung“ werden. Mit den Bänden „Naturgemäß I“ (1996) und „Naturgemäß II“ (1998) setzte sie „Dessen Sprache du nicht verstehst“ fort. Der abschließende Teil „Naturgemäß III“ ist seit langem beendet und es bleibt zu hoffen, dass der Suhrkamp Verlag diesen nun bald veröffentlicht. Leider hatte Suhrkamp die Kosten für einen Neusatz des Typoskripts gescheut und einen aus Bequemlichkeitsgründen günstigeren Faksimiledruck des komplizierten Schreibmaschinentyposkripts angefertigt.
Die äußere Form des Werks erinnert bereits stark an das Spätwerk von Arno Schmidt (1914–1979). Doch gemessen an „Zettels Traum“ (1970) lassen die drei Teile von „Naturgemäß“ gar nicht erst die Illusion aufkommen, der Leser würde den Text und seine Struktur auch nur annähernd durchschauen. Schwierigkeiten bei der Orientierung lassen sich vielleicht noch mit dem Umfang erklären, doch dieses Werk will ja gar nicht leicht zu verdauen sein. Aber wer sich die lohnenden Mühen der Lektüre macht, wird bald mit vielen weiteren Facetten des Festungsthemas vertraut gemacht.
Die Tatsache des Umfangs, der Darbietung und der Ausstattung tragen Schuld daran, dass diese Bücher praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit erschienen. Selbst avancierte Leser scheinen abgeschreckt und die Literaturkritik sowieso verstummt zu sein. Dennoch erhielt die Autorin 1999 den Peter-Rosegger-Preis und 2001 den Franz-Kafka-Preis. Aber Marianne Fritz bietet, wie es Friedhelm Rathjen so schön ausdrückt, „wilden Lesern auf sehr anschauliche Weise etwas für ästhetisch wache Auge.“
„Naturgemäß I“ und „Naturgemäß II“ erschienen jeweils in fünf broschierten Bänden in Kassette im August 1996 und im August 1998. Immer und immer wieder wurde der Autorin litaneienhaft unterstellt, dass ihre Bücher nicht lesbar seien. Jüngst behauptet Isabella Hager („Der Standard“ vom 2.10.2007), die „ins Unendliche ragenden Textfelsen“ machen eine Rezeption quasi unmöglich. Dieser Vorwurf traf schon immer die sprachkritische österreichische Literatur nach 1945. Sicher ist ihr Werk nicht konventionell zu lesen, wenn darunter die Lektüre der Ergebnisse von mittelmäßigen Handwerkerinnen wie Ulrike Draesner, Katrin Duve, Julia Franck, Annette Pehnt und so vielen anderen derzeit erfolgreichen Autorinnen verstanden wird. In seinem Nachruf mahnt ihr damaliger Lektor Otto A. Böhmer: „Eine so wunderbar unzeitgemäße Autorin wie Marianne Fritz wird man heute nicht mehr finden, ja man würde sie wohl auch gar nicht mehr suchen.“ Marianne Fritz hat bewiesen, dass sich Literatur nicht die Gesetze des Marktes aufzwingen lassen sollte.
Marianne Fritz steht in der Tradition der Wiener Gruppe (Wittgenstein und de Saussure) wie so viele andere Autorinnen (Elfriede Czruda, Elfriede Gerstl, Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker, Marlene Streeruwitz). Diese Autorinnen legen die formalen Regelsysteme der Sprache frei, zerlegen sie in ihre Bestandteile und ordnen und kombinieren sie neu. Allerdings wird Fritz’ Spiel mit der Sprache von den inhaltlichen Erfordernissen der Textrealität gesteuert. Sie versucht die Wirklichkeit nicht mit einer schlechten, sondern mit einer anderen Sprache zu erfassen. Damit ist sie Ingeborg Bachmann (1926–1973) so fern wie nah zugleich.
„Die Festung“ ist nicht linear erzählt, sondern formuliert ihr Thema in vielen Vor- und Rückgriffen. Ständige Brechungen und Wechsel der Zeitebenen, Figuren und Orte stellen eine Geschichtsbetrachtung, die auf Überschaubarkeit und Chronologie der Ereignisse insistiert, radikal in Frage. Marianne Fritz folgt ihrem eigenen Prinzip der exakten Datierung und genauen Chronik. Diese entdeckt sie im alltäglichen Leben wie in staatlichen Vorgaben. Sie negiert vermeintliche Kausalitäten und bereinigt ihre Prosa von bedeutungsschwerer Historie und geschichtsträchtigem Pathos. In „Die Festung“ arbeitet die Autorin die österreichische Geschichte aus dem Blickwinkel der Namenlosen auf. Darin erinnert sie an die „Archive des Schweigens“ (1980–1991) von Gerhard Roth.
Abweichende Interpunktion, ungewohnte Wortfolgen, das Vermeiden von Artikeln und Hilfsverben und vielfach unorthodoxe Bindewortkombinationen veranlassten Robert Menasse 1986 zu einer bösen Polemik, die schon in ihrem Titel „Der Analphabetismus als höchstes Stadium des literarischen Modernismus“ nicht Gutes ahnen ließ. Zwar gesteht er der Autorin mit ihrem Roman „Dessen Sprache du nicht verstehst“ „zweifellos einen qualitativen Sprung in der Geschichte der neueren Literatur“ zu und fordert ironisch „die baldige Verleihung des Wildgans-Preises an Marianne Fritz“, doch sieht er in der von ihm so bezeichneten Privatsprache der Autorin einen „Sprachinfantilismus“. Ihre Privatsprache führe nicht zur Demokratisierung der Literatur (was immer auch das sein soll), sondern zur „endgültigen Monopolisierung ihrer Vermittlung und Interpretation“, so Menasse.
Felix Philipp Ingold sah in dem Buch „Dessen Sprache du nicht verstehst“ „eine poetische Archäologie der Gegenwart“. Besser gesagt: in der Organisation des Materials und im Wechsel der Perspektiven manifestiert die Autorin (ganz im Sinne Michel Foucaults) eine Archäologie des Schweigens. Rolf Michaelis bezeichnete es als „ein tolles Unternehmen deutscher Literatur“ und Michael Köhlmeier konstatierte trocken: „Die Dichterin Marianne Fritz gibt ihr Leben für ihr Werk.“ Thomas Beckermann sagte es wohl stimmiger: „,Dessen Sprache du nicht verstehst’ ist ein Epos über den Abstieg in die Verliese der Vorgeschichte unserer Gegenwart, das mit der Konfrontation der Mächtigen mit den Machtlosen beginnt, die ihren Glauben niemals aufgeben.“
Im zweiten Teil der „Festung“, in „Naturgemäß“ (Teil I bis III) erfolgt der aus Erzählperspektive konsequente Schritt in das Zentrum der Gewalt. Als Bauplan dieses Riesenwerks dient die Topographie der ehemals österreichischen (heute polnischen) Festung Przemysl, wobei alle archäologischen Schichten der über die Zeiten vielfach umgebauten, zerstörten und neu errichteten Festung simultan erzählt werden. Die Autorin bedient sich unterschiedlicher Textsorten: Heeresberichte und Dienstanweisungen, Märchen und Mythen, Familiengeschichten aus den Dörfern, die aus militärischen Gründen vom Erdboden getilgt wurden. Getilgt wird aber mehr als ein Dorf, umgebracht werden nicht nur Menschen und ihre Geschichten.
Die Autorin enthierarchisiert diese Geschichten der Realitätsebene; sie stapelt diese Geschichten zu Schichten aus verschiedenen Zeiten und Ebenen, so wie sich im topographischen oder archäologischen Sinn die Spuren und Relikte von allem übereinander gelegt haben. Diese Spuren sind Erinnerungsspuren, sagt Marianne Fritz. Die benannte Schichtenprosa benötigt laufend Ergänzungen, Umwälzungen, Zerstörungen und Wiederaufbaumaßnahmen.
„Naturgemäß“ ist der literarische Versuch den Unterwerfungsprozess, der die Individualgeschichte unter der Dampfwalze mit dem Namen Krieg verschwinden lässt, in Sprache abzubilden. Das Chaos, mit dem diese Prosa dem Leser auf den ersten Blick gegenübertritt, hat unmittelbar etwas mit dem Thema des Krieges zu tun – der eben auch Chaos ist. Das Zusammenbrechen der Weltordnung, der Notstand aller Erklärungsversuche und der Verzicht auf alle Verdrängungsmuster. Die Autorin benennt es in „Naturgemäß I“ so:
„Im Grunde wird das Kollektivgeschehen namens Krieg vollkommen in die Sprache hinein verrückt, auf eine Weise, dass der Lesende seine Unschuld wieder bekommen kann, er erfährt den literarisch aufgehobenen Krieg als das ganz andere.“
Der komplette Zyklus von „Naturgemäß“ erzählt aber eben auch nicht vom Krieg, sondern bildet ihn nach in all seinem Widersinn und mit all seiner Gewalt. Das erklärt die Wucht und die Schroffheit, mit der „Naturgemäß“ dem Leser gegenübertritt. Die Autorin stellt kurz und knapp klar: „Morden war ein Wort, in ihm steckte Orden.“
Marianne Fritz will durch die Montage diverser Erzählstränge eine narrative Simultaneität erzeugen. Die Buchseiten werden in mehrere Stränge geteilt, Einzelwörter und Satzeinheiten werden durch Bindestriche zerlegt, Einzelbuchstaben werden gesplittert, unterschiedlich Schrifttypen und grafische Elemente verwendet. Strukturschemata werden abgedruckt und einzelne Seiten werden typographisch ausgestaltet. Der Textfluss wird (durch Zeichnungen, Wirbel und Treppen) zertrümmert, wodurch sie gleichzeitig neue Zusammenhänge ergeben. Mit „Naturgemäß“ erreicht Marianne Fritz eine bislang nicht da gewesene Abstraktion in der deutschsprachigen Literatur. Und jedem Leser, der sich noch auf literarische Abenteuer einlassen will, ist der Mut zu wünschen das (noch lieferbare) Werk der Marianne Fritz mitzulesen.
Von Michael Fisch
Literaturangaben:
FRITZ, MARIANNE: Die Schwerkraft der Verhältnisse. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1978. 109 S.
--- : Das Kind der Gewalt und die Sterne der Romani. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1980. 559 S.
---: Was soll man da machen. Eine Einführung zu dem Roman „Dessen Sprache du nicht verstehst“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985. 216 S.
---: Dessen Sprache du nicht verstehst. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985. 3.389 S.
---: Naturgemäß I. Entweder Angstschweiß. Ohnend. Oder Pluralheft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 2.224 S., 256 €.
---: Naturgemäß II. Es ist ein Ros entsprungen. Wedernoch heißt sie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 1.455 S., 298 €.
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