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Mit dem Taxi in die Vergangenheit

Prosa-Anthologie junger Hildesheimer Autoren: „Landpartie 06“

Von: KERSTIN FRITZSCHE - © Die Berliner Literaturkritik, 28.09.06

 

Hildesheim kommt! Während Leipzig die Absolventen seines Literaturinstituts auf Deutschlands etablierte Verlage verteilt, üben sich die Hildesheimer Studierenden des Ortheil-Studiengangs „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ im Herausgeben von Büchern. Höhepunkt und gleichzeitig Querschnitt ihres Könnens: die Jahresanthologie „Landpartie 06“. Obacht, Leipzig!

Zwei Schreibschulen gibt es Deutschland: das Literaturinstitut Leipzig und den Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ an der Universität Hildesheim. Und es gibt Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel haben beide sehr gute junge Literaturzeitschriften („EDIT“ in Leipzig, „BELLAtriste“ in Hildesheim), die schon einigen als Sprungbrett zu großen Verlagen dienten und die Newcomer und Trends der deutschen Gegenwartsliteratur aufspüren, um sie diskursiv an die Öffentlichkeit zu bringen. Man kennt sich und respektiert sich; dazwischen liegt ja auch nur der Harz, geografisch gesehen.

Eroberung des Literaturbetriebs

Neben dem Wettstreit in Sachen Wortakrobatik hat man seine gegenseitige Hochachtung sogar schon in einem anderen sportlichen Wettkampf bekundet: Beim letztjährigen „Prosanova“, Festival für junge Literatur in Hildesheim, hat eine Hildesheimer Elf Fußball gegen eine Elf aus Leipzig gespielt – Sprechgesänge reimend unterstützt von befreundeten Verlagskollegen, Lektorinnen, Slammern und anderen literarisch Tätigen am Spielfeldrand.

Allerdings sind bis jetzt die Leipziger doch ein bisschen erfolgreicher. Denn während diese mit Juli Zeh, Judith Kuckart, Franziska Gerstenberg, Ricarda Junge, Clemens Meyer und anderen ständig publizieren, erobern die Hildesheimer etwas langsamer den Literaturbetrieb. Mariana Leky („Liebesperlen“ und „Erste Hilfe“; DuMont) und Paul Brodowsky („Milch Holz Katzen“; Suhrkamp) aus dem ersten Jahrgang sind bisher die Platzhirsche mit eigenen Büchern bei großen Verlagen.

Doch die anderen kommen langsam nach. Und wenn es nicht gleich die großen Verlage sein können, bringen sie eben ihre Semesterergebnisse und Werkstattgeschichten kurzerhand im Eigenverlag raus: So haben eine Handvoll Kreativ-Schreiberlinge vor zwei Jahren den Verlag Glück & Schiller gegründet, um ihrem Studiengang eine Stimme zu geben, aber auch, um ins Lektoren- und Verlegerhandwerk einzusteigen, denn eine Literaturzeitschrift gab’s bis dato ja schon, ein Internetliteraturmagazin auch.

Mit Kamera und Stift

Ein Verlag war bisher das fehlende Stück im Kosmos des eigenen Literaturbetriebs. Seitdem erscheinen Anthologien; sieben sind es schon, gerade ist die achte in Vorbereitung. Eine bunte Mischung: Da tummeln sich dann Theaterkritiken neben Essays und Beobachtungen zur Transportkultur, und Studiengangsvater Hanns-Josef Ortheil darf natürlich auch mal ran.

Am interessantesten aus dem Hildesheimer B(a)uchladen ist aber die Jahrgangsanthologie „Landpartie“, die diesen Sommer zum zweiten Mal erschienen ist. 33 Geschichten umfasst sie; thematisch wild durcheinandergewürfelt. Auffällig ist, dass da viel Taxi gefahren und mit (eigenen) Großmüttern und -vätern in die Vergangenheit geschaut wird. Spannend ist da etwa „Faule Erde“ von Sabrina Janesch, gleich die erste Geschichte des Bandes überhaupt. Sie schildert, wie der Galizien-stämmige Großvater nach dem Krieg einen deutschen Hof in Schlesien übernimmt und dafür fast sein Leben lang mit „dem Teufel“ kämpft.

Doch auch die Generation der Schreiberlinge zwischen 20 und 30 spielt eine große Rolle: Jan Fischer lässt etwa in „Schwellenland“ seine Figuren mit Kamera und Stift fremde Länder besichtigen, immer auf der Suche nach dem Exotismus-Kick, nach dieser gewissen Authentizität, die sich dann hoffentlich zum richtigen Zeitpunkt vor die Linse schiebt. Und wenn nicht, kann man ja mal nachhelfen mit ein bisschen Kleingeld für die bettelnden Kinder. Die Halbtagshelden fühlen sich sehr journalistisch und sehr abenteuerlich so zwischen Armutsbesichtigung und dem Cuba Libre abends im Hotel. Doch dann bricht wirklich ein Krieg aus – eine kleine, feine Reflexion über das imperialistische Erleben fremder Kulturen in der Backpacker-Generation ist Fischer da gelungen.

Immer am Ball bleiben

In der Kurzgeschichte „Malefiz“ von Julia Therre wird mit einer selbstreflexiven Ich-Erzähler-Figur der Verlust des Vaters und des letzten Sommers voller Freundschaft aufgearbeitet und das Psychogramm einer Mutter gezeichnet, die sich überflüssig fühlt, weil ihr Mann zu den Töchtern den direkteren Draht hat – ein interessanter Blickwinkel, dessen sich eine Eva Herman vielleicht einmal annehmen sollte, um ihr Männer- und Väterbild zu revidieren.

Natürlich dürfen in der Anthologie auch alte Hasen nicht fehlen. So präsentieren Thomas Klupp (Teilnahme 9. Klagenfurter Literaturkurs 2005), Katrin Zimmermann (Teilnahme Jürgen-Ponto-Schreibwerkstatt 2005), Paul Brodowsky (Jahresstipendiat des Deutschen Literaturfonds 2005/06 und zuletzt als Nachwuchsdramatiker an den Münchner Kammerspielen in Erscheinung getreten) und Florian Kessler (2. Preisträger des „O-Ton“-Wettbewerbs des NDR 2004, Mitherausgeber von „BELLAtriste“ und diesjähriger Stipendiat der Kunststiftung Baden-Württemberg) Auszüge aus längeren Erzählungen, die seltsam gleichförmig und an manchen Stellen fast schon zu konstruiert erscheinen.

Stilistisch und inhaltlich am überraschendsten und gleichzeitig überzeugendsten ist „Verschluckt“ von Nora Wicke: „Wir verbrennen unsere Energien mit den immer selben Tätigkeiten, nachts durch die Straßen mit gesenkten Blicken. Redenredenreden, was noch alles zu tun ist und was an unserer Büroeinrichtung alles noch nicht stimmt, warum der Kaffee immer zu stark ist. (…) Wir müssen am Ball bleiben, sagst du, jajaja verdammt sage ich, verdammt.“

Große Leidenschaft für das Schreiben

In einer Art doppelten Rollenprosa entwirft sie das Bild von zwei Ostdeutsche in Hamburg, die sich mit einer Internetfirma selbstständig machten und nun nach dem Platzen der New Economy-Blase eigentlich nichts mehr haben als den Kampf um ihre Büroeinrichtung, den Kaffee, das Gespräch mit der Sekretärin, die auch nichts zu tun hat, und das gemeinsame Bier abends in der immergleichen coolen Hafenkneipe. Charmant bewegt sich Wicke mit ihren Charakteren zwischen Selbstbetrug und Prekarisierung, zeichnet so das Schicksal vieler, die „irgendwas mit Medien“ machen wollten und dann von der Realität des kapitalistischen Marktes zu schnell eingeholt wurden – eine fast schon sozialkritische Geschichte.

Wie so oft bei dieser jungen Schreibschulen-Literatur sind die meisten Geschichten aus einer sehr subjektiven Perspektive einer Figur erzählt und eher handlungsarm, dafür gedankenreich. Die Hildesheimer „Landpartie 06“ macht da keine Ausnahme. Doch während es inhaltlich noch etwas differenzierter zugeht – die Nabelschau der Generation Popliteratur ist definitiv vorbei – gibt es formal nur wenige Ausbrüche aus Altbekanntem: Daniel Koch versucht sich an einem trashig-popkulturellen und sehr blutigen Krimi im Krimi, zwei Geschichten sind Science Fiction, und eine Handvoll anderer unternimmt Ausflüge in die Provinz, mit Lokaljargon und Landbevölkerungsverschrobenheit immer einen Schritt vorm Abgrund zum Klischee.

Die Versuche, um jeden Preis perfekte Innenleben zu zeichnen oder Typen zu charakterisieren, offenbaren eine große Leidenschaft für die Angelegenheit des Schreibens. Das sind freilich alles noch zarte Schritte in die Freiheit der Literatur. Aber merklich ist schon jetzt jeder einzelne Text eine Absteckung des Reviers. Leipzig kann sich schon mal warm anziehen.

Literaturangaben:
LANDPARTIE 06. Jahresanthologie. Glück und Schiller Verlag, Hildesheim 2006. 220 S., 9,90 Euro.

Zur Kurzvorstellung:

Weblinks:

Kerstin Fritzsche schreibt u. a. für die taz nord, das Darmstädter Echo, intro, fluter.de und das Goethe-Institut über zeitgenössische Literatur


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