Freitag, 04.12.2020
Autor: Andreas Schröter
Eine Hommage an die gute alte Kirmes und die Menschen, die dort arbeiten, ist Philipp Winklers kurzer Roman „Carnival“. Er erweckt die Schwertschlucker und Messerwerfer, die Zuckerwatte und das Riesenrad, den Schießstand und das Kettenkarussell zum Leben und beschreibt das Ganze als etwas, das im Grunde zu einer untergegangenen Zeit gehört. Mit den Vergnügungen von heute in Multiplexkinos oder an der Playstation hat das nur noch wenig gemein.
Dabei werden die „Kirmser“ als eine eingeschworene Truppe dargestellt, die geradezu in einer anderen Welt leben als die Besucher – die „Marks“ und „Steifen Jonnys“ –, auf deren Geld sie so dringend angewiesen sind.
Der Star in diesem Roman ist eindeutig die Sprache. Winkler nähert sich seinem Thema auf eine fast poetische Weise, die eine große Zärtlichkeit für die oft unglücklichen Gestalten mit trauriger Vorgeschichte ausdrückt, die mit einer Kirmes durch die Lande ziehen.
Da sind die „Grobiane“, die für den kräftezehrenden Auf- und Abbau zuständig und nicht selten auf der Flucht vor dem Gesetz sind. Oder die Frau auf der Suche nach Liebe, deren Kinder bei Adoptiveltern leben und die sich per Schrotflinte bei ihrem Ex-Mann gerächt und dafür für einige Jährchen im Knast gesessen hat.
Das Leben mit Campingkocher auf vom Regen aufgeweichten Schlammboden und ständig kaputten Generatoren ist genauso ein Thema wie das abendliche traute und beinahe romantische Zusammenhocken zwischen den Wohnwagen bei Grill-Gerüchen.
Höhepunkte in „Carnival“ sind eine Hochzeit, bei der die Gemeinschaft noch einmal alles auffährt, was sie ausmacht, und der Tod des alten Ticketverkäufers Kuut. Den stellt Winkler ans Ende eines Romans und nimmt ihn als Metapher für den Tod der gesamten Branche.
Insgesamt ein herrlich nostalgischer Roman, der Kindheitserinnerungen weckt.
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Philipp Winkler: Carnival.
Aufbau, August 2020.
119 Seiten, Gebundene Ausgabe, 14,00 Euro.
Sonntag, 27.09.2020
Autor: oliverg
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Sonntag, 23.08.2020
Autor: Andreas Schröter
In seinem schmalen Roman „Turbulenzen“ erzählt der kanadisch-britische Autor David Szalay zwölf kleine Geschichten von Menschen, die sich zwar zufällig begegnen, deren unterschiedliche Schicksale aber ansonsten wenig miteinander zu tun haben. Immer geht es dabei ums Fliegen. Und so sind auch die einzelnen Kapitel nach Flugrouten betitelt: „Von London nach Madrid“ oder „Von Madrid nach Dakar“.
In der ersten Geschichte erleidet eine ältere Dame einen Zusammenbruch. Sie kehrt vom Besuch ihres Sohnes zurück, der an Prostatakrebs erkrankt ist. Im Flugzeug neben ihr sitzt ein senegalesischer Geschäftsmann, der in Dakar erfahren muss, dass sein Sohn einen Motorradunfall hatte. Wegen dieses Unfalls kommt ein Flugkapitän zur spät zur Arbeit. Und so geht es immer weiter, bis sich am Ende der Kreis schließt und wir mit dem letzten Flug von Budapest nach London wieder bei dem an Krebs erkrankten Mann ankommen.
So gesehen ist dieser Roman nicht nur eine Reise um die Welt sondern zugleich eine literarische Anordnung wie in Arthur Schnitzlers Klassiker „Reigen“.
David Szalay, geboren 1974, bedient sich dabei eines sehr knappen und prägnanten Stils, der die menschlichen Katastrophen, die seine Figuren erleiden, stark hervortreten lassen. Denn immer geht es ums Große und Ganze – ums Verlassen-Werden, um lebensbedrohliche Erkrankungen, um einen Mann, der seine Frau schlägt, um eine verheimlichte Homosexualität, um eine brüderliche Hassliebe, um die Liebe und den Tod.
Die Emotionen, die diese Szenarien freisetzen, werden im Buch zwar nicht explizit benannt, leuchten aber dennoch – quasi zwischen den Zeilen – umso deutlicher hervor – wie bei einem Maler, der mit nur wenigen Pinselstrichen ein Meisterwerk erschafft.
Mit seinem früheren Werk „Was ein Mann ist“, das in Deutschland 2018 erschienen ist, kam Szalay 2016 auf die Shortlist des Man-Booker-Preises.
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David Szalay: Turbulenzen.
Hanser Verlag, August 2020.
136 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,00 Euro.
Montag, 17.08.2020
Autor: Andreas Schröter
Was passiert, wenn die Welt der Reichen, Schönen und Erfolgreichen plötzlich Risse bekommt, das seziert die 1972 geborene französische Autorin Karine Tuil aufs Allerfeinste.
In ihrem sehr lesenswerten Roman „Menschliche Dinge“ sieht sich der Elitestudent Alexandre Farel plötzlich mit einem Vergewaltigungsvorwurf konfrontiert. Er stammt aus einem priviligierten Elternhaus, in dem der berufliche Erfolg über allem steht. Sein Vater ist der egoistische und skrupellose Fernsehmoderator Jean, der sich mit deutlich jüngeren Geliebten vergnügt und für den beruflichen Erfolg über die sprichwörtlichen Leichen geht. Seine Mutter ist die erfolgreiche feministische Sachbuch-Autorin Claire. Auch diese beiden Figuren und ihr (verkorkstes) Liebesleben spielen eine zentrale Rolle im Roman.
Dann läuft eine Party, bei der Drogen und Alkohol im Spiel sind, aus dem Ruder. Alexandre bedrängt die völlig unerfahrene Mila sexuell, die aus einem streng gläubigen jüdischen Elternhaus stammt. Sie ist völlig verzweifelt und erstattet Anzeige.
Einen Großteil des Buches nimmt der nun folgende Gerichtsprozess ein, und ein großer Verdienst der Autorin ist, dass sie keinesfalls klar Stellung bezieht. Beide Varianten des verkorksten Abends scheinen glaubwürdig – „es gibt zwei Wahrheiten“ heißt es irgendwo im Buch -, und so ist der Leser hin- und hergerissen, ob er sich auf die Seite des eloquenten, weltgewandten und intelligenten Jünglings oder der schüchternen, unscheinbaren und etwas verklemmt wirkenden jungen Frau schlagen soll.
Natürlich ist der Roman vor dem Hintergrund der MeToo-Bewegung entstanden, und er beleuchtet ihre zwei Seiten: einerseits die lange notwendige Thematisierung und Verurteilung von sexualisierter Gewalt gegen Frauen, andererseits aber womöglich auch ihre Auswüchse in Form von Stigmatisierung und vorschnellen Urteilen gegen manche Männer.
Zuweilen erinnert dieser Roman an einen großen Vorgänger: „Fegefeuer der Eitelkeiten“ von Tom Wolfe. In beiden Texten gelingt den Autoren ein äußerst glaubwürdiges Porträt der so genannten „High Society“ und den wenig schmeichelhaften Tricks, wie sie ihre (Schein-)Welten nach außen hin aufrecht erhalten.
Karine Tuil wurde zu diesem Roman vom „Fall Stanford“ inspiriert. Im Januar 2015 hat ein Elitestudent der Stanford-Universität eine bewusstlose Frau hinter einem Müllcontainer missbraucht. Die Autorin ist für diesen Roman mit dem „Prix Goncourt des Lyceens“ und und dem „Prix Interallié“ ausgezeichnet worden.
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Karine Tuil: Menschliche Dinge.
Claassen, August 2020.
384 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Donnerstag, 06.08.2020
Autor: Andreas Schröter
Nachdem in diesem Jahr mit „Jenseits der Erwartungen“ bereits ein großer Roman des amerikanischen Schriftstellers Richard Russo erschienen ist, lässt der Dumont-Verlag nun noch ein schmales Bändchen unter dem Titel „Sh*tshow“ aus seiner Feder folgen. Der Text darin ist kein Roman, sondern eher eine Erzählung.
Darin geht‘s um drei Paare, deren Leben sich nach der Wahl Trumps zum US-Präsidenten verändert. Gegenseitiges Misstrauen kommt auf (haben wirklich alle Freunde für Hillary gestimmt?), und die Ehe von David und Ellie scheint zu zerbrechen, nachdem Ellie im Whirpool menschliche Fäkalien gefunden hat. Nach weiteren Funden dieser Art wird sie fast paranoid und weigert sich, weiterhin im gemeinsamen Haus zu leben.
Richard Russo, der bekannt ist für seine groß angelegten psychologisch aufs Genaueste nachgespürten Gesellschaftsepen, geht hier vergleichsweise sparsam zu Werke. Seine Figuren charakterisiert er nur kurz, weil ihm diesmal die Aussage, die hinter dieser Parabel steckt, wichtiger ist als die Psychologie: Ein von Fäkalien beschmutztes Haus ist wie ein Land, in dem jemand wie Donald Trump Präsident werden kann. In beidem möchten und können nicht alle unbeschwert weiterleben.
Auch wenn die Prise an schwarzem Humor, mit der dieser Text geschrieben ist, durchaus erkennbar und wohltuend ist, dürfte die dauerhafte Beschäftigung mit Fäkalien in diesem Buch nicht jedermanns Sache sein, denn nach dem Pool-Fund ist in dieser Angelegenheit noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht.
Mit einem solchen Ausflug ins Politische steht Richard Russo unter den großen Schriftstellern in diesem Jahr nicht allein dar. Auch sein britischer Kollege Ian McEwan hat bereits unter dem Titel „Die Kalerlake“ ein schmales Bändchen vorgelegt, in dem er den britischen Premierminister mit Ungeziefer vergleicht.
Russo-Neulingen sei hiermit eher eines der älteren Werke des Pullitzer-Preisträgers empfohlen – „Ein Mann der Tat“ zum Beispiel oder „Diese gottverdammten Träume“.
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Richard Russo: Sh*tshow: Erzählung.
DuMont Buchverlag, Juli 2020.
80 Seiten, Gebundene Ausgabe, 10,00 Euro.
Donnerstag, 23.07.2020
Autor: Andreas Schröter
Rockfans müssen „Daisy Jones and The Six“ lesen. Dieser Roman, den Autorin Taylor Jenkins Reid aus (fiktiven) Interview-Schnipseln zusammengesetzt hat, ist das derart authentisch wirkende Porträt einer Rockband aus den 70er-Jahren, dass man ständig versucht ist, bei Google nachzuschauen, ob es die Gruppe nicht doch gegeben hat. Nein, hat es nicht. Aber nach der Lektüre dieses Buches wünscht man sich, es hätte sie gegeben und man könnte sich ihre alten Songs irgendwo anhören. Bekannt ist allerdings, dass die Autorin viel über Fleetwood Mac recherchiert hat.
Als die wilde und eigensinnige Daisy Jones mit der rauchigen Stimme zu „The Six“ stößt, sind die eine aufstrebende Band mit ersten Erfolgen. Aber erst die Zusammenarbeit katapultiert die Musiker in ungeahnte Höhen.
Doch es gibt Probleme im zwischenmenschlichen Bereich: Daisy und Bandleader Billy fühlen sich zueinander hingezogen, Billy jedoch will keinesfalls seine Ehe aufs Spiel setzen. Eine Zerreißprobe beginnt. Schwierigkeiten bereitet den beiden auch ihr Drogen- und Alkohol-Konsum.
Man ist als Leser schnell drin in diesem Buch über Sex and Drugs and Rock’n’Roll, feiert gemeinsam mit den Musikern Erfolge und leidet mit ihnen, wenn Drogensucht und Emotionen mit ihnen durchgehen. Ein tolles Buch!
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Taylor Jenkins Reid: Daisy Jones and The Six.
Ullstein, Juni 2020.
368 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,99 Euro.
Freitag, 17.07.2020
Autor: Andreas Schröter
Drei ältere Herren treffen sich für ein Wochenende an genau dem Ort wieder, an dem sie auch schon vor über 40 Jahren zusammen waren: in einem Häuschen in Chilmark auf Martha‘s Vineyard. Mit einem entscheidenden Unterschied: Damals war auch die freche und lebenslustige Jacy mit von der Partie, in die alle drei Jungs verliebt waren.
Doch seit diesem Wochenende fehlt jede Spur von Jacy. Was ist aus ihr geworden? Ist sie womöglich einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen? Hat der unsympathische Nachbar oder gar einer der Jungs etwas damit zu tun? Könnte es sein, dass sie auf dem Anwesen in Chilmark begraben ist?
Doch ein Krimi, nach dem sich das anhören mag, ist Richard Russos Roman „Jenseits der Erwartungen“, der aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, nur zu einem kleinen Teil. Der 1949 geborene US-amerikanische Schriftsteller und Pulitzer-Preisträger nimmt sich viel Zeit, seine drei so unterschiedlichen männlichen Hauptfiguren Lincoln, Teddy und Mickey genau zu durchleuchten. In vielen Rückblenden lernen wir die drei Männer mitsamt ihren Familien kennen und erfahren, wie sie zu dem geworden sind, was sie heute sind, welche Geheimnisse und Narben sie mit sich herumtragen – und auch welche Lebenslügen sie sich und anderen vormachen.
Leser, die auf psychologisch genau ausgearbeitete Figurenporträts stehen, sollten an diesem Roman ihre Freude haben. Die Kehrseite: All das braucht Platz, sodass die eigentliche Handlung bis zur überraschenden Auflösung nur zögerlich von der Stelle kommt. Insgesamt ein überdurchschnittlich guter Roman, wenn auch womöglich nicht der allerstärkste von Richard Russo.
Richard Russo: Jenseits der Erwartungen.
DuMont Buchverlag, Mai 2020.
432 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Freitag, 03.07.2020
Autor: oliverg
Montag, 08.06.2020
Autor: rwmoos
Ende mit Enten
Wie möchten Sie ihre letzten Stunden verleben? Zu Hause? Dort wo sie in einer vertrauten Umgebung sind und vielleicht noch ein paar Ihrer Lieben um sich haben? Wenn aber Ihr menschgewordenes Erbgut bei Ihnen überhaupt nicht als lieb durchgeht?
Dann doch lieber von unterbezahlten Profis medizinisch betreut in einem Krankenhaus oder Pflegeheim das Leben aushauchen?
Über 76% aller Befragten wollen in den vertrauten vier Wänden sterben.
Warum sterben dann über 80% aller Deutschen in einem Krankenhaus oder Pflegeheim?
Weil wir, die Verwandten, die Verantwortung scheuen? Weil wir fürchten, uns selbst vorzuwerfen (oder vorgeworfen zu bekommen), nicht alles Menschenmögliche getan zu haben, damit es doch wieder aufwärts geht? Weil Liebe und Fürsorge doch das Beste will?
Und so verrecken die meisten von uns: Von bezahlten Kräften betreut, die ihrerseits zwar durchaus oft ihr Bestes geben. Aber dennoch finden wir uns am Ende so vor: Zurückgebeamt in den Entwicklungsstand von Babys. An Schläuchen hängend und jeden selbstverschuldeten Lebensrisikos beraubt.
Sicher wie in Abrahams Schoß?
Aus diesem uralten Leitbild ist eine Dystopie geworden.
Gerade weil alle das Beste wollen, kommt es zum Schlechtesten.
Wir sterben weder da, wo wir meinen, hinzugehören, noch so, wie wir Würde definieren.
Deshalb haben die Helden von Leonie Swanns Geschichte einen eigenen Weg gefunden.
…
Für die Dorfbewohner von Duck End gelten die sechs alten Leutchen, die sich zu einer Senioren-WG in dem abgelegenen großen Haus Sunset Hall zusammengeschlossen haben, als wahrhaft merkwürdige Gesellschaft. Irgendwas zwischen Alt-Hippies mit Yoga-Affinität und Wohlstands-Senioren mit Waffenschein – jedenfalls nichts, mit dem man gern zu tun hat. Hinzu kommen noch eine Schildkröte als alteingesessenes und ein Wolfshund als neu eingeschmuggeltes Haustier.
Und in der Tat berührt es auch den lesenden Nichtbürger von Duck End merkwürdig, wie gefasst die restlichen fünf Senioren wirken, als eine der Ihren – mit sauberem Kopfschuss versehen – im Garten aufgefunden wird. Ob es Zufall ist, dass die Verblichene sofort durch einen Neuzugang ersetzt wird?
Deutlich verstörter reagiert die Gruppe aber, als sie unmittelbar darauf von weiteren Morden an anderen Senioren der Umgebung erfährt. Dass man die nun einsetzenden Ermittlungen nicht irgendwelchen offiziellen Polizeibeamten überlassen darf, scheint für die abgerüsteten bzw. halb-rüstigen WG-Mitglieder sehr schnell selbstverständlich zu sein, und so nehmen sie das Heft des Handelns in die eigenen Hände.
Einerseits kommen ihnen dabei ihre beruflichen Lebenserfahrungen und ihre diversen Persönlichkeiten zugute, für die das Wort „schillernd“ passend erscheint (so man es nicht als Hommage an einen deutschen Dichter missversteht).
Andererseits sind nicht nur die diversen körperlichen Gebrechen hinderlich, sondern auch zunehmend mentale Ausfälle.
Die eine hört manchmal nichts, die andere sieht immer nichts und eine dritte äußert ständig nur dummes Zeug. Kennt man irgendwoher.
Die anderen drei Figuren der WG sind zudem auch nicht besser dran.
Das Ganze führt zu einem Stilmittel, aus dem die Geschichte ihre Würze bezieht: Wenn die Hauptfigur Agnes an Tinitus leidet und dadurch große Teile der jeweils fließenden Informationen gar nicht mitbekommt, andererseits zu stolz ist, diese Schwäche zuzugeben und entsprechend häufig nachzufragen, nimmt sie uns in diese Informationslücken mit: Die Geschichte entwickelt sich dadurch auch für den Leser mit unausgefüllten Fugen. Und indem wir uns über diese Fehlstellen in der Informationsübertragung ärgern, erleben wir ansatzweise mit und nach, wie es Menschen wie Agnes wirklich geht.
Was wir aber nicht nacherleben können, sind die damit einher gehenden Selbstzweifel. Denn wir als Leser wissen ja genau, dass diese unangenehmen Fehlstellen für unser Lesevergnügen passgenau manipuliert sind und nicht auf das Versagen unserer eigenen mentalen Kräfte zurückgehen.
Das Thema der Informationslücken zieht sich auch für die anderen Protagonisten durch das ganze Buch: Ob Kurzsichtigkeit, Erinnerungsausfälle oder Zweifel an der gesamten eigenen Persönlichkeitsgeschichte – die Senioren schlagen sich tapfer gegen diese Konzessionen an die eigene Zuverlässigkeit … und konfrontieren sich gelegentlich dann doch mit der süßen Versuchung des Loslassens: Gelinde im Lindenhof-Heim weggepflegt zu werden … dem Ende entgegenzudämmern, indem man den Enten zuschaut … das hat ja auch was für sich …
Natürlich wird der eigentliche Kriminalfall schließlich gelöst, weil die Sechs trotz aller Reibereien, gegenseitiger Kränkungen und Missverständnisse zusammenhalten. Und weil sie den Mut finden, sich nicht nur mit ihrer eigenen Vergänglichkeit, sondern auch mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Swanns neuer Detektivroman scheint zunächst wieder genauso leichthin geschrieben, wie man es von ihr zu erwarten glaubt: Gewürzt mit skurrilen Wendungen und kuriosen Gedankenblitzen. Mit merkwürdigen Zufällen und gespaltenen Persönlichkeitskernen. Im Hintergrund dräuen turbulente Geschichten aus vergangenen Tagen, die nie ganz aufgeklärt werden und den Leser die Fäden gedanklich weiterspinnen lassen, ohne dass er zu klaren Lösungen kommen kann.
Aber noch weiter dahinter – und das ist wohl die eigentliche Stärke dieses Buches – zeichnet sich wie eine stehende Welle die Frage ab, wie wir mit unseren alten und pflegebedürftigen Menschen umgehen. Und wie wir mit uns selbst umgehen, um ein Alter in Würde erleben zu können, auch wenn körperliche und mentale Ausfälle das Leben erschweren: Totenhausen, Friedlindenhof oder doch Sunset Hall?
Für dieses Mitnehmen auf den Weg allen Sterbens bin ich der Autorin dankbar. Da nehme ich gern in Kauf, dass die Stärke dieses Buches – wie so oft – auch eine Schwäche mit sich führt: Indem man sich zwischen der leichthin geschriebenen witzigen Story und dem ernsthaften Hintergrund hin und hergeworfen fühlt, fehlt manchmal ein wenig der „eine Guss“, der eine gute Geschichte sonst auszeichnet. Und bei allem Verständnis für die jeweils gefundenen Lösungen habe ich immer auch ein ungutes Gefühl, wenn mir per Sympathie-Aufbau vorgegeben wird, wo Mord als Lösungsansatz in Frage kommt und wo nicht.
Vielleicht sollte man die entsprechenden Ansätze zumindest als Denkanregung begreifen.
Mord in Sunset Hall – eine lustige Kriminalgeschichte mit einem todernsten Hintergrundrauschen.
Reinhard W. Moosdorf
Tüchersfeld, den 12.05.2020
Tags: Altern, Belletristik: Krimi, Pflegenotstand, Philosophie, Politik
Kommentare deaktiviert für Leonie Swann: Mord in Sunset HallSamstag, 30.05.2020
Autor: Andreas Schröter
Der Schweizer Diogenes-Verlag bringt nach und nach die Romane des 2014 gestorbenen US-amerikanischen Schriftstellers Kent Haruf heraus – aktuell „Kostbare Tage“, das im Original unter dem Titel „Benediction“ bereits 2013 erschienen war.
Wie schon in früheren Werken von Kent Haruf entführt uns der Autor in das fiktive Städtchen Holt im US-Bundesstaat Colorado. Im Mittelpunkt steht diesmal der krebskranke „Dad“ Lewis, der nur noch wenige Wochen zu leben hat.
In dieser Zeit versucht er, nicht nur die Nachfolge für seinen Eisenwaren-Laden zu regeln, sondern erinnert sich auch an Episoden aus seinem Leben, von denen nicht alle ruhmreich waren.
So hat er einmal einen Mitarbeiter nach einem Griff in die Ladenkasse entlassen, der sich später umgebracht hat. Auch hat er keinen Kontakt mehr zu seinem homosexuellen Sohn – etwas, woran er sehr leidet, wie der Leser mit fortschreitender Seitenzahl erfährt.
Kent Haruf nimmt in diesem Roman zwei unterschiedliche Aspekte des Lebens in einer Kleinstadt in den Fokus: einen negativen und einen positiven. Zum einen erweist sich die Dorfgemeinschaft als extrem hilfsbereit in allen Lebenslagen. Als einmal ein kleines Mädchen verschwindet, sucht das ganze Dorf nach ihr.
Andererseits sind die Moralvorstellungen eng. Abweichler haben es schwer. Das gilt sowohl für den schwulen Frank als auch für einen Pfarrer namens Lyle, der mit einer ungewöhnlichen Predigt bei der Landbevölkerung aneckt.
Eine sympathische Besonderheit in Haruf-Romanen: Der Autor hat ein Herz für seine Figuren. Er lässt jeden in irgendeiner Weise positiv dastehen.
Wer auf Action und Spannung aus ist, der sollte zu einem anderen Buch greifen, wer feingliedrige Psychogramme der unterschiedlichen Charaktere mag, die in einer Kleinstadt zusammenleben, der liegt mit diesem Buch genau richtig.
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Kent Haruf: Kostbare Tage
Diogenes, Mai 2020
352 Seiten, gebundene Ausgabe, 24 Euro
Donnerstag, 28.05.2020
Autor: oliverg
Sonntag, 17.05.2020
Autor: Andreas Schröter
Eshkol Nevo, geboren 1971, ist einer der angesagtesten Autoren Israels. Nun hat er einen formell ungewöhnlichen Roman vorgelegt, in dem er Fragen von Lesern beantwortet, mit denen wohl jeder Autor im Laufe seiner Karriere behelligt wird: „Haben Sie schon immer gewusst, dass Sie Schriftsteller werden wollen?“, „Was ist Ihr Antrieb zum Schreiben?“ oder „Träumen Sie von Ihren Figuren?“
Natürlich tut er es nicht so, wie man es gemeinhin erwarten würde. Nevo antwortet ausführlich und manchmal, indem er die eigentliche Frage nur am Rande streift.
Obwohl die Hauptfigur so heißt wie der Autor selbst und obwohl diese mehrfach beteuert, immer wahrheitsgemäß antworten zu wollen, kann der Leser letztlich nicht wissen, wie hoch die autobiographischen und die erfundenen Anteile in diesem Buch sind. Doch das macht rein gar nichts, In jedem Fall wirken die Antworten an die Leser glaubhaft, authentisch und nachvollziehbar, und es entsteht ganz nebenbei so etwas wie eine Handlung: So versucht der Ich-Erzähler seine Ehefrau Dikla zurückzugewinnen, die Trennungsabsichten hat – und letztlich ist das eine anrührende Liebesgeschichte. Weitere zentrale Elemente sind der todkranke Freund Ari, den Nevo oft im Krankenhaus besucht, und seine älteste Tochter, die sich von ihm distanziert.
Mit fortschreitender Seitenzahl entsteht das intime Porträt eines Mannes, der an den diversen Realitäten in seinem Leben leidet – egal, ob erfunden oder nicht.
Eshkol Nevo: Die Wahrheit ist.
dtv, April 2020.
432 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Montag, 11.05.2020
Autor: oliverg
Buch:
Graphic Novel:
Dienstag, 05.05.2020
Autor: Andreas Schröter
Von Dave Eggers erscheinen in diesem Frühling gleich zwei Romane. Neben „Der größte Kapitän aller Zeiten“, einer Trump-Parodie, die wir hier ebenfalls besprochen haben, legt der Amerikaner ein Werk namens „Die Parade“ vor.
Es spielt in einem nicht näher benannten Land, in dem es kurz zuvor einen Bürgerkrieg gegeben hat. Zwei Männer, die im Buch bloß „Vier“ und „Neun“ heißen, haben die Aufgabe, eine große Straße zu asphaltieren, die die Provinzen enger mit der Hauptstadt verbindet.
Das hat unbestreitbare Vorteile für die unterentwickelte Landbevölkerung. Sie kann künftig besser Handel treiben und auch die Zentren der medizinischen Versorgung leichter erreichen. Doch es gibt ein dickes „Aber“: Diktatoren werden es leichter haben, diese Bevölkerungsteile zu unterjochen. Tun „Vier“ und „Neun“ also wirklich etwas Gutes für das geschundene Land?
„Die Parade“ ist ein sehr gradlinig und auch minimalistisch erzählter Roman. „Vier“ sitzt in einer hochmodernen Maschine, die zuverlässig und makellos den Asphalt verlegt. Kontakte zu Einheimischen versucht er streng zu vermeiden – ganz so, wie es die Firma, für die er arbeitet, es ihm vorschreibt.
Neun dagegen ist lebenslustig. Die Einladungen zum Essen, die er erhält, nimmt er dankbar an. Das hat Folgen für beide Straßenbauer …
Wie „Der größte Kapitän aller Zeiten“ ist „Die Parade“ ein politisches Buch, das den Sinn der Einmischung von Industrienationen in die Verhältnisse von Entwicklungs- und/oder Bürgerkriegsländern hinterfragt.
Es ist auch ein Buch über zwei Männer, deren Charakter kaum unterschiedlicher hätte sein können.
Auf der Negativseite könnte man diesem Roman eine gewisse Handlungsarmut vorwerfen. Auch gefällt es möglicherweise nicht jedem Leser, dass die beiden Hauptfiguren gänzlich anonym bleiben und man so gut wie nichts über ihr Vorleben erfährt.
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Dave Eggers: Die Parade.
Kiepenheuer & Witsch, April 2020.
192 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Sonntag, 03.05.2020
Autor: Andreas Schröter
Dave Eggers ist mit seinem Roman „Der größte Kapitän aller Zeiten“ eine wunderbare Satire auf das heutige Amerika unter Donald Trump gelungen. Auf einem riesigen Schiff namens „Glory“ wird ausgerechnet der allerunfähigste Mann an Bord zum Kapitän gewählt. Als eine der ersten Amtshandlungen schmeißt er die Bücher weg, die darüber Auskunft geben, wie man ein solches Schiff überhaupt navigiert. Dann entlässt er die Offiziere und wirft missliebige Personen, von denen es aus Sicht des Kapitäns eine ganz Menge gibt, einfach über Bord. Das Schwarze Brett nutzt er vor allem dazu, täglich die Größe und Funktionsfähigkeit seines Penis‘ herauszustreichen.
Man liest dieses Buch und kommt im Grunde aus dem Kichern gar nicht mehr heraus – wobei es natürlich ein Kichern ist, das eine erschreckte Grundnote hat, weil Eggers‘ Gags so zielsicher ins Schwarze der derzeitigen US-amerikanischen Realität zielen.
Natürlich gibt es einige wenige Menschen an Bord, die sich gegen die Schreckensherrschaft des rundum unfähigen Kapitäns stellen. Aber sie haben gegen seine Unterstützer, ein Trupp, der sich „Die Eitlen Gockel“ nennt und im Hahnenkostüm auftritt, keine Chance. Auch externe Helfer, ein Sheriff, der heimlich aufs Schiff kommt zum Beispiel und genauso heimlich wieder geht, aber ein 1000-Seiten Manifest hinterlässt, das niemand liest, kann nichts ausrichten. Gegen Ende tauchen zwei andere große Schiffe auf und machen die Situation für unseren ahnungslosen Kapitän nicht leichter. Womöglich sind damit China und Russland gemeint.
Wegen der hohen Gagdichte ist es allerdings gut, dass dieses Buch nur 128 Seiten hat. Länger hätte man diesen hilflosen Unsympathen womöglich nicht ertragen können – wie im richtigen Leben
Dave Eggers: Der größte Kapitän aller Zeiten.
Kiepenheuer&Witsch, April 2020.
128 Seiten, Gebundene Ausgabe, 14,00 Euro.
Freitag, 01.05.2020
Autor: Andreas Schröter
Stern-Reporterin Nora Gantenbrink hat unter dem Titel „Dad“ einen Roman über eine Vater-Tochter-Beziehung geschrieben. Und in einigen Interviews hat sie bereits verraten, dass vieles davon autobiografisch ist.
Wie die Romanfigur war auch Gantenbrinks Vater das, was man früher einen „Hippie“ nannte. Beide sind später an Aids gestorben.
Zentraler Handlungsstrang sind mehrere Reisen, die die Tochter – Marlene heißt sie im Roman – zu den Sehnsuchtsorten des Vaters unternimmt: Marrakesch in Marokko, Goa in Indien und Koh Samui in Thailand. Nicht überall stellt sich für sie die Faszination ein, die der Vater erlebt haben muss.
In anderen Handlungssträngen geht es um Beziehungen und Freundschaften in Marlenes Gegenwart.
Wie schon in Nora Gantenbrinks Erzählband „Verficktes Herz“ (2013) gibt es auch in „Dad“, dem unterhaltsamen Debütroman der Autorin, jede Menge große Gefühle. Es wird geweint, gelitten und geliebt. Das muss man in seiner Fülle dann gelegentlich auch aushalten.
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Nora Gantenbrink: Dad.
Rowohlt, Februar 2020.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Mittwoch, 29.04.2020
Autor: Andreas Schröter
Ein Wiedersehen mit alten Bekannten aus dem fiktiven Städtchen Crosby in Maine erleben die Leser in Elizabeth Strouts neuem Roman „Die langen Abende“. Da ist zum Beispiel Olive Kitteridge, die etwas widerborstige ehemalige Mathelehrerin, die trotz aller Härte, die sie nach außen hin ausstrahlt, einige schwer verdauliche Kröten schlucken muss. Die Ablehnung durch die Familie ihres Sohnes zum Beispiel oder gegen Ende des Romans auch die Anfeindungen des Alterns.
Olive Kitteridge war bereits Hauptfigur in Strouts Roman „Mit Bilck aufs Meer“ (2012), wovon zwei Jahre später auch eine vierteilige Mini-Fernsehserie gedreht wurde.
Weil im neuen Roman viele Kapitel von anderen Figuren handeln, die jedoch alle in Crosby leben, mutetet dieser Text – wie in Strout-Büchern häufig – bisweilen wie eine Sammlung von Erzählungen an. Bemerkenswert sind zum Beispiel Ehepartner, die nicht mehr miteinander sprechen und deren Wohnzimmer durch ein Absperrband unterteilt ist: Jeder hat seine eigene Hälfte.
Elizabeth Strout gelingt es wieder, den Leser sehr nah an ihre Figuren heranzuführen – ein Buch, das auch ohne die ganz große Action spannend und lesenswert ist.
Elizabeth Strout: Die langen Abende.
Luchterhand Literaturverlag, März 2020.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Mit flattr kann man Bloggern mit einem Klick Geld zukommen lassen. Infos