Rüdiger Zill: Der absolute Leser

Zwischen Rom und Kairo liegt das Mittelmeer, das langsam durchfahren wird.

Zum 100. Geburtstag des Philosophen Hans Blumenberg legt sein von ihm hass-geliebter Verlag „Ein intellektuelle Biographie“ [sic!] – wie der Untertitel auf dem Titelblatt lautet – vor. Autor ist der ausgewiesene Blumenberg-Kenner und Herausgeber des Nachlasses Rüdiger Zill. Bei den meisten Philosophen, so auch bei Blumenberg, ist das Verfassen einer Biographie eine vertrackte Sache, da sie in der Regel kaum genug äußerliches Leben von Interesse vorweisen können – auch Zill kommt nicht umhin, den bekannten Heidegger-Witz „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb.“ herbeizuzitieren –, um damit ein Buch von ansehnlichem Umfang zu füllen. Dennoch gelingt Zill das Kunststück, eine umfangreiche, exzellent lesbare und zumindest für jemandem vom Fach interessante und eingängige Lebensbeschreibung zu liefern.

Zills Text ist in drei große Abschnitte eingeteilt: Leben – Schreiben und Publizieren – Entwicklung des Gedankens. Auch im ersten Abschnitt finden sich lange Passagen, die der Analyse einzelner Schriften oder der Genese bestimmter Themenkomplexe in Blumenbergs Denken gewidmet sind; man darf diese Einteilung also nicht zu streng auffassen. So findet sich zum Beispiel eine erstaunliche breite Erörterung von Blumenbergs Abiturrede – die er nicht persönlich halten durfte, da er als Sohn einer Jüdin fortgesetzt Repressionen ausgesetzt war – oder auch eines frühen Aufsatzes über Hans Carossa – der von Zill vollständig richtig als eine Art von Hermann Hesse der 20er und 30er Jahre eingeordnet wird –, die deutlich machen, wie sehr es in jeder Periode von Blumenbergs Leben an Äußerlichkeiten mangelt. So finden sich dann leider auch nach dem Eintritt Blumenbergs in den lehrenden Teil der akademischen Welt weite Teile, die mit der Darstellung von Streitereien und Intrigen, vermeintlichen Beleidigungen und übertriebenen Empfindlichkeiten gefüllt sind, die den nicht akademisch Involvierten einmal mehr von der Albernheit dieses ganzen Betriebes überzeugt, der sich vorgeblich auf der Suche nach der Wahrheit befindet.

Dessen ungeachtet zeigt sich überall Zills Kennerschaft nicht nur der Schriften Blumenbergs, sondern auch der gesamten Geschichte der westdeutschen akademischen Philosophie der Nachkriegszeit. Er weiß alle Akteure mit großer Sicherheit einzuordnen und zu charakterisieren. Bei aller Sympathie für Blumenberg verliert er nicht die Objektivität und kann die Schwierigkeiten im Umgang mit Blumenberg, der immer dazu neigte, divergierende Interessen oder auch nur Nachlässigkeit seines Gegenübers als persönlich gegen ihn gerichteten Affront aufzufassen, durchaus richtig einschätzen.

Der dritte Abschnitt zeichnet Blumenbergs philosophische Entwicklung nach, wofür vier Aufsätze des Philosophen zum Anlass genommen werden, in denen er sich im Abstand von jeweils ungefähr zehn Jahren Gedanken über die Aufgaben und den Sinn von Philosophie überhaupt macht. Auch hier zeigt sich Zills Kennerschaft in der Aufarbeitung der Traditionslinien, in denen Blumenbergs Denken steht. Überhaupt muss man Zills Versuch Respekt zollen, Blumenbergs breites philosophisches Denken in einigen großen Zügen zu ordnen.

Hans Blumenberg ist einerseits einer der zugänglichsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts überhaupt, der mit seinen kurzen und kürzesten Texten (zum Beispiel: Schiffbruch mit Zuschauer, Die Sorge geht über den Fluß, Löwen) intelligent und ohne bedeutenden theoretischen Anspruch zu unterhalten weiß, andererseits gehören seine Metaphorologie, Anthropologie, Wissenschafts- und Begriffsgeschichte mit zum anspruchsvollsten, das in der deutschen Nachkriegsphilosophie entstanden ist. Zills Buch kann eine gute Unterstützung dabei sein, sich von einem zum anderen vorzuarbeiten.

Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg – Ein[e] intellektuelle Biographie. Berlin: Suhrkamp, 2019. Pappband, Lesebändchen, 816 Seiten. 38,– €.

Aus gegebenem Anlass (XXII) – Auf dem Weg in die Zukunft

Und jeder Führung ledig, rollte und rollte die Lokomotive unablässig dahin. Endlich konnte die Störrische, die Wunderliche dem Feuer ihrer Jugend nachgeben wie eine noch ungezähmte Stute, die den Händen des Hüters entkommen war und über das flache Land galoppierte. Der Kessel war mit Wasser versehen, die Kohle, mit der die Feuerbüchse gerade aufgefüllt worden war, geriet in Brand; und während der ersten halben Stunde stieg der Druck toll an, wurde die Geschwindigkeit erschreckend. Ohne Zweifel war der Oberzugführer vor Müdigkeit eingeschlafen. Die Soldaten, die noch betrunkener wurden, weil sie so zusammengepfercht waren, gerieten plötzlich in fröhliche Stimmung über diese ungestüme Fahrt und sangen lauter. Maromme wurde wie in einem Blitz durchfahren. Beim Herannahen der Signale, bei der Durchfahrt durch die Bahnhöfe ertönten keine Pfeifsignale mehr. Es war ein Geradeausgalopp, das Tier, das mit gesenktem und stummem Kopf zwischen den Hindernissen dahinschoß. Es rollte und rollte ohne Ende, durch den gellenden Lärm seines Atems gleichsam immer wahnwitziger gemacht.

In Rouen sollte Wasser genommen werden; und Entsetzen ließ den Bahnhof zu Eis erstarren, als man diesen wahnsinnigen Zug, diese Lokomotive ohne Führer und Heizer, diese Viehwagen, die mit pa­trio­tische Kehrreime brüllenden Muschkoten angefüllt waren, in einem Taumel aus Rauch und Flammen vorüberrasen sah. Sie zogen in den Krieg, und sie wollten schnellstens dort unten an den Ufern des Rheines sein. Die Bahnangestellten waren mit aufgerissenem Mund und mit fuchtelnden Armen stehengeblieben. Sofort ertönte der allgemeine Schrei: Niemals würde dieser zügellose, sich selbst überlassene Zug ungehemmt den Bahnhof von Sotteville durchfahren, der wie alle großen Bahn­be­triebs­wer­ke stets durch Rangierfahrten versperrt, mit Wagen und Lokomotiven verstopft war. Und man stürzte zum Telegraphen, man warnte. Dort konnte gerade ein Güterzug, der das Gleis besetzte, in einen Schuppen zurückgedrückt werden. Schon war in der Ferne das Rollen des entlaufenen Ungeheuers zu hören. Es war in die beiden Tunnel hin­ein­ge­stürmt, die bis nahe an Rouen heranreichen, es kam mit seinem wütenden Galopp heran wie eine ungeheure und unwiderstehliche Gewalt, die nichts mehr aufzuhalten vermochte. Und der Bahnhof von Sotteville wurde ohne Halt durchrast, es sauste mitten durch die Hindernisse, ohne irgendwo hängenzubleiben, es tauchte wieder in der Finsternis unter, in der sein Grollen nach und nach erlosch.

Aber jetzt läuteten alle Telegraphenapparate der Strecke, alle Herzen klopften bei der Nachricht von dem Geisterzug, den man soeben in Rouen und Sotteville hatte vorüberbrausen sehen. Man zitterte vor Angst: ein voraus befindlicher Schnellzug würde sicherlich eingeholt werden. Er aber, wie ein Keiler im Hochwald, setzte seinen Lauf fort, ohne auf die roten Signallichter oder die Knallkapseln zu achten. In Oissel wäre er beinahe an einer Rangierlokomotive zerschellt; Pont-de-lArche setzte er in Schrecken, denn seine Geschwindigkeit schien sich nicht zu verringern. Von neuem verschwunden, rollte und rollte er in die schwarze Nacht hinein, man wußte nicht wohin.

Was lag schon an den Opfern, die die Lokomotive unterwegs zermalmte! Fuhr sie nicht trotz allem der Zukunft entgegen, unbekümmert um das vergossene Blut? Ohne Führer inmitten der Finsternis, wie ein blindes und taubes Tier, das man in den Tod rennen ließ, rollte und rollte sie dahin, beladen mit jenem Kanonenfutter, jenen Soldaten, die schon stumpfsinnig vor Müdigkeit und betrunken waren und die sangen.

Émile Zola
Das Tier im Menschen

Lila Azam Zanganeh: Der Zauberer

Zanganeh-ZaubererEine merkwürdige Mischung aus biographischer Studie, literarischem Essay und Fan-Prosa über Vladimir Nabokov und einige von seinen Büchern. Merkwürdig ist das Buch vor allem deshalb, weil es von einer Art naiver Begeisterung getragen ist, die normalerweise nicht lang genug überlebt, um in einem Buch dokumentiert zu werden. Für jemanden, der von Nabokov nur das Übliche oder gar kein Buch gelesen hat, mag das ganz nett sein, doch diejenigen, die sich nur ein wenig besser auskennen, werden schwerlich mit dem Buch zufrieden sein.

In der Hauptsache geht es um drei Bücher Nabokovs: die beiden Romane „Lolita“ und „Ada“ sowie seine Autobiographie „Erinnerung, sprich“; das ein oder andere wird zwar en passant zusätzlich zitiert, doch bleibt es bei marginalen Zitaten. Weder Nabokovs frühe Versuche im Kriminal- oder Unterhaltungsgenre werden erwähnt, noch seine Bücher, die sich in der Hauptsache um staatliche Gewalt, Gefangenschaft und Tod drehen. Denn Zanganeh geht es bei Nabokov wesentlich um eine Sache: um – ach! – die Liebe! Und die wahre Liebe gibt es natürlich immer nur in der Erinnerung, sei es Nabokovs sentimentaler Blick zurück auf seine russische Jugend oder Humbert Humberts erste und einzige pubertäre Verliebtheit an der Riviera.

Man muss fair sein und zugeben, dass Zanganeh sich wie Nabokov selbst darüber im Klaren ist, dass das Sentimentale nur eine Seite der Medaille darstellt und stets verquickt ist mit zerstörerischen Umständen: politischem Umsturz, Pädophilie oder Inzest. Doch diese Seite stört bei Zanganehs Neigung zur Sentimentalität, weshalb der unbelehrte Leser einen eher schiefen Eindruck von der Welt der Nabokovschen Fiktionen erhält. So ist Humbert Humbert zwar immer noch der egozentrische, verantwortungslose Asoziale des Romans, doch ist in Zanganehs Blick seine narzisstische Fixierung auf Dolly Haze trotz allem Liebe. Nabokov würde es wahrscheinlich mit einem schiefen Lächeln quittieren.

Neben der Auseinandersetzung mit einigen von Nabokovs Texten, wird er als Lepidopterologe gewürdigt (seine Fähigkeiten als Schachkomponist bleiben unerwähnt), sein Sohn Dmitri tritt auf und wir erfahren dies und das über die Autorin, die sich als Leserin Nabokovs immer wieder mit ins Spiel bringt. Zumindest dieser letzte Aspekt des Buches ist originell und trägt der Einsicht Rechnung, dass Lektüre im Idealfall immer die Verflechtung zweier – im Fall dieses Buches sogar dreier – Individualitäten darstellt.

Insgesamt für all jene (und das werden wohl die meisten sein), die Nabokov nicht oder nur aus dem einzigen Buch „Lolita“ kennen, wahrscheinlich eine anregende und informierende Lektüre, für einen Achtel-Kenner wie mich zu selektiv und enthusiastisch.

Lila Azam Zanganeh: Der Zauberer. Nabokov und das Glück. Aus dem Englischen von Susann Urban. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2015. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 240 Seiten. 19,95 € (Preis für Mitglieder) / 22,95 €.

Jahresrückblick 2014

Traditionen entstehen nur durch stures Wiederholen, deshalb auch für das gerade vergangene Jahr ein Rückblick auf meine drei besten und drei schlechtesten Lektüren.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2014:

  1. Isaak Babel: Mein Taubenschlag – war für mich mit Abstand die Entdeckung des vergangenen Jahres. Ein origineller, sprachlich intensiver und exakter Beobachter und Erzähler!
  2. William Faulkner: Schall und Wahn – es ist sehr fein, dass Rowohlt seine Reihe mit guten und sehr guten Faulkner-Übersetzungen fortsetzt. Dieses Buch lässt wohl am deutlichsten des Einfluss von Joyce auf Faulkner erkennen.
  3. Johannes Willms: Tugend und Terror – eine exzellente Gesamtdarstellung der Revolution mit dem Fokus auf die Ereignisse in den jeweils gesetzgebenden Versammlungen, die aber dennoch keinen wichtigen Aspekt der Revolution unbeachtet lässt.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2014:

  1. Arnold Zweig: Die Feuerpause – ein aus heutiger Sicht unnötiges Buch, das nichts Wesentliches zum Zyklus Der große Krieg der weißen Männer beiträgt und besser ungeschrieben geblieben wäre.
  2. Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität – ein selbstverliebtes Buch eines Möchtegern-Autors, in dem bis auf einen einzigen Witz eigentlich nichts passt.
  3. Hans Herbert Grimm: Schlump – ein ziemlich schreckliches Me-too-Buch zum Ersten Weltkrieg, das besser in der Versenkung geblieben wäre, in der es schon so erfolgreich verschwunden war.

Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs

Solche Verkettungen, aus mehreren Zufällen geboren, erscheinen dem Menschen leicht als Fügungen, ver­an­stal­tet von einem zielvollen Wissen.

Zweig-EinsetzungMit diesem in der Chronologie der Handlung sechsten und letzten Band von Zweigs Zyklus „Der große Krieg der weißen Männer“ (erschienen 1937, als Zweig bereits in Palästina im Exil war) habe ich mich ähnlich schwer getan wie mit dem nachträglich in die Handlung eingeschobenen Band „Die Feuerpause“. Auch diesmal gelingt es Zweig nicht, eine wirklich überzeugende Handlung zu konstruieren, die seine beabsichtigte Intention trägt. So dreht sich die erste Hälfte des Romans immer wieder um die Auseinandersetzung, welcher der deutschen Anwärter auf den litauischen Königsthron gehievt werden soll, ohne dass dabei irgendeine Art von Fortschritt in der historischen Entwicklung oder der Einsicht des Lesers in den Prozess erzielt wird.

Im Zentrum des Romans steht diesmal Hauptmann Paul Winfried, der bereits in „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ eine führende Rolle gespielt hatte. Er ist inzwischen nicht mehr Adjutant seines Onkels, des Genrals von Lychow, der nun in der Ukraine stationiert ist und dort für Ordnung sorgen soll, sondern fungiert in der Mi­li­tär­ver­wal­tung Ober-Ost in Wilna als dessen Verbindungsoffizier. Der Leser bekommt Winfried zuerst als eingermaßen angepassten, etwas naiven Offizier vorgeführt, der rasch in die Nähe und das Vertrauen des obersten Befehlshabers an der Ostfront General Clauss gerät. Al­ler­dings wandelt sich Winfried in der Königsfrage unter dem Einfluss seiner Freundin Bärbe und deren Familie von Saulus zum Paulus und gerät so in Opposition zum allmächtigen General, der ihn diesen Fehltritt mit einem etwas groben Soldatenscherz (Verhaftung als Spion und einige Tage Zwangsarbeit) vergelten lässt. Da unglücklicherweise zur selben Zeit auch Winfrieds Onkel in der Ukraine einem Attentat zum Opfer fällt und der Autor zudem auch noch Winfrieds schwangere Freundin Bärbe an der Grippe sterben lässt, darf unser Held am Ende des Romans als einsichtiger und geläuterter Phoenix aus der Asche dieses Elends emporsteigen.

Das alles ist sehr konstruiert und daher auch trivial. Die his­to­ri­schen Ereignisse bleiben an und für sich bedeutungslos und dienen Zweig nur als Hintergrund für die Wandlung seines Protagonisten. Zwar gelingen hier und da einige wenige Seiten, etwa die auf denen das Elend der litauischen Juden unter der deutschen Besatzung knapp und bewegend geschildert wird, aber alles in allem dümpelt das Buch in weiten Teilen vor sich hin, auf jeder neuen Seite in wieder einem Gespräch das altbekannte Stroh noch einmal dreschend, vor­an­ge­trie­ben allein vom seitenschindenen Willen seines Autor.

Es ist ein wenig schade, dass der Zyklus mit seinen beiden letzten Bänden so deutlich abfällt, wobei „Einsetzung eines Königs“ noch der bessere von beiden ist. Auch muss man wohl dem allgemeinen Urteil beitreten, dass der zuerst entstandene „Streit um den Sergeanten Grischa“  zugleich auch schon den Höhepunkt des ge­sam­ten Zyklus darstellt. Zweig ist es besonders mit den beiden nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Bänden nicht gelungen, den Zyklus noch einmal zu beleben.

Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs. Berlin: Aufbau-Verlag, 2004. Kindle-Edition. 596 Seiten (gedruckte Ausgabe). 7,99 €.

Arnold Zweig: Die Feuerpause

Er überflog die folgende Seite, mußte aber gähnen und dachte: Genug;

Zweig-Der-grosse-KriegDer sowohl in der Chronologie der Handlung als auch der Entstehung fünfte Roman des Zyklus  „Der große Krieg der weißen Männer“ erschien 1954 als erste Nachkriegs-Fortsetzung der Reihe. Es handelt sich um den ent­täu­schend­sten Teil des Zyklus, insbesondere deshalb, weil Zweig hier versucht, den Vorläufer „Erziehung vor Verdun“ umzuschreiben und ideologisch aufzuwerten.

Erzählt wird von wenigen Tagen Ende November, Anfang Dezember 1917 in Merwinsk, jenem kleinen Örtchen, das der Leser schon aus „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ kennen könnte. Handlung in einem wesentlichen Sinn gibt es nicht, sondern es wird vor dem Hintergrund der sich anbahnenden Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk eine eher lockere Folge von Ereignissen und Gesprächen unter jenem Leuten geschildert, die auch schon im „Grischa“ eine bedeutende Rolle spielten. Dabei steht im Mittelpunkt ein ausführlicher Bericht des Schreibers Bertin von seinen Erlebnissen an der Westfront, die – wie schon gesagt – bereits den Stoff der „Erziehung vor Verdun“ gebildet hatten. Allerdings verändert Bertin dabei die Kernhandlung um den Tod des Unteroffiziers Christoph Kroysing: Der ältere Bruder Kroysings kommt nun überhaupt nicht mehr vor, sondern Bertin stilisiert sich selbst zum potentiellen Helden der Geschichte, der dafür sorgt, dass Kroysing wenigstens nachträglich juristische Gerechtigkeit widerfährt. Könnte man dies noch als zwar geschmacklose, aber dennoch verständliche Verirrung des Schriftstellers Bertin durchgehen lassen, so ist es mehr als unwahrscheinlich, dass es für diese neue Fassung der Ereignisse keinen Widerspruch aus dem Kreis der Zuhörer gibt, denn wenigstens der Kriegsgerichtsrat Posnanski weiß um die Geschehnisse im Fall Kroysing, ist er es doch gewesen, der Bertin als potentiellen Zeugen zu sichern gesucht hat, indem er ihn als Schreiber anforderte.

Zu dem alten Material kommen eine große Menge anekdotischer Erzählungen hinzu, die alle mehr oder weniger darauf aus sind, Bertins kritische Einstellung zu Krieg und gesellschaftlicher Ordnung in Deutschland zu beleuchten. Auch hier wäre eine nachträgliche Selbststilisierung der Figur eine mögliche Interpretation, grundsätzlich ist aber einzuwenden, dass Zweig mit dieser rückwirkenden sozialistischen Heiligsprechung Bertins den Entwicklungscharakter seines früheren Romans, der ja bereits in dessen Titel seinen Ausdruck findet, schwer konterkariert.

Ich bin nun kein Zweig-Fachmann und kenne daher die Gründe nicht, die zu diesem Überschreiben des früheren Textes geführt haben. Es ist durchaus möglich, dass Zweig mit „Die Feuerpause“ versuchen musste, den Zyklus als ganzen zu retten, indem er ihn im ideologischen Sinne an die Forderungen der DDR, in der Zweig inzwischen lebte, anpasste. Es mag auch sein, dass er inzwischen davon überzeugt war, dass das früher verwendete Konzept des Bildungsromans zu bürgerlich gewesen war und der Stoff und die Figur einer ideologischen Zuspitzung bedurften. Was auch immer diesen Palimpsest der „Erziehung vor Verdun“ verursacht hat, er ist ein Fremdkörper innerhalb des Zyklus und weder inhaltlich noch formal überzeugend.

Arnold Zweig: Die Feuerpause. Berlin: Aufbau-Verlag, 41961. Leinen, Fadenheftung, 440 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa

„Ach Sch…“ Er sprach, sich bückend, das Wort nicht zu Ende; der Kamerad verstand ihn ohnehin. Es war das populärste Wort des ganzen Krieges.

Zweig-GrischaMit diesem 1927 erschienenen (auf 1928 vordatierten) Roman legte Arnold Zweig den Grundstein seines Zyklus „Der große Krieg der weißen Männer“, der damals erst nur eine „Trilogie des Übergangs“ werden sollte. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ sollte vermeintlich das Mittelstück werden und an einem Einzelschicksal jene Wandlung sichtbar werden lassen, die Zweig durch den Ersten Weltkrieg in Deutschland hervorgerufen sah. Ob er die von ihm erzählte Geschichte, der angeblich eine wahre Begebenheit zugrunde liegen sollte, nicht überfrachtet, bleibt zu erörtern.

Erzählt wird das Schicksal des russischen Kriegsgefangenen Grischa Iljitsch Paprotkin, der um den Frühlingsanfang des Jahres 1917 herum in einem Güterzug versteckt aus einem in Polen befindlichen deutschen Gefangenenlager nach Osten flieht. Als er den Zug verlässt, findet er sich in Litauen wieder, wo er nach einigen Tagen, die er sich in den Wäldern durchschlägt, von einer kleinen Gruppe von Widerständlern gegen die deutschen Besatzer aufgelesen und beherbergt wird. Rasch entspinnt sich ein Liebesverhältnis zwischen Grischa und Babka, der Anführerin der Gruppe, was Grischa aber nicht von seinem Plan abbringt, nach Russland zu Frau und Kind zurückzukehren. Als er nach einigen Wochen seine Flucht fortsetzt, rät ihm Babka, sich im Falle der Gefangennahme als der Versprengte Ilja Bjuschew auszugeben, der in der Obhut der Gruppe verstorben war. Grischa fürchtet sonst, in dem Fall einer erneuten Gefangenschaft als Geflohener zu einer längeren Haft verurteilt zu werden und  so seine Chance einzubüßen, bei Kriegende mit den anderen Kriegsgefangenen ausgetauscht zu werden.

Leider erweist sich gerade diese Finte als tragischer Fehler: Als Grischa nämlich von den Deutschen in der Nähe des kleinen Ortes Merwinsk aufgegriffen wird, beharrt er auf seiner Geschichte, der Versprengte Bjuschew zu sein, der bereits wochenlang versuche, in die russischen Linien zurückzukehren. Zum Verhängnis wird Grischa eine neue Weisung der militärischen Führung, die zum Zweck der Aufrechterhaltung der Disziplin angeordnet hat, alle sich nicht sogleich in deutsche Gefangenschaft begebenden russischen Versprengten und Deserteure als Spione zum Tode zu verurteilen. Als Grischa das Todesurteil des Bjuschew verlesen wird, besinnt er sich seiner wahren Identität und erzählt die Geschichte seiner Flucht.

Es scheint nun vorerst einmal alles seinen rechtmäßigen Gang zu gehen: Der Schreiber Bertin, inzwischen Gehilfe des Kriegsgerichtsrats Posnanski, macht das Lager ausfindig, aus dem Grischa geflohen ist. Das Lager entsendet zwei Soldaten, um Grischa zu identifizieren, was denn auch unter großem Hallo des gegenseitigen Wiedererkennens geschieht, und anschließend gibt die Division in Merwinsk die Akten an das Hauptquartier des  Oberbefehlshabers Ost, Generalmajor Schieffenzahn, damit dort festgestellt werde, welches Militärgericht für den Gefangenen Paprotkin denn nun zuständig sei. Leider erfährt dort der Generalmajor zufällig selbst von der Sache und beschließt, sie als einen politischen Fall zu behandeln. Er lässt also seinen Juristen die Akten nach Merwinsk zurückgeben mit dem Vermerk, dass das Todesurteil des Bjuschew an Grischa zu vollstrecken und ihm der Vollzug zu melden sei.

Mit diesem Befehl des Oberbefehlshabers kommt die Kommandantur in Merwinsk mit ins Spiel, die nun für die Exekution Grischas zuständig geworden ist. Dem der Kommandantur vorstehende Rittmeister von Brettschneider sind sowohl der rechtliche Standpunkt des Kriegsgerichtsrates als auch die Identität des Gefangenen Paprotkin gänzlich gleichgültig. Er wittert nur eine Gelegenheit dem Divisionschef von Lychow eine Niederlage beibringen und sich gleichzeitig beim Generalmajor lieb Kind machen zu können. Dagegen versuchen General von Lychow, sein Adjutant und Neffe Oberleutnant Winfried, Kriegsgerichtsrat Posnanski und Schreiber Bertin – zudem unterstützt von zwei Krankenschwestern, die als Liebesobjekte in Kriegsgeschichten offenbar unumgänglich sind – die Ausführung des Hinrichtungsbefehls zu verzögern, bis der General Gelegenheit hat, mit dem Generalmajor persönlich den eigentlich nichtigen Fall zu erörtern.

Doch kurz bevor es zu diesem persönlichen Treffen kommt, ordnet Schieffenzahn die Vollstreckung des Todesurteils nochmals an mit dem Zusatz, dass er binnen 24 Stunden den Vollzug gemeldet haben möchte. Das Gespräch zwischen Schieffenzahn und von Lychow endet zwar kläglich für den Letzteren, aber in einem Anflug von Mitleid mit dem alten Preußen ist Schieffenzahn anschließend für einen Moment geneigt nachzugeben. Doch leider bricht gerade in diesem Augenblick durch einen geschickt erfundenen Schneesturm die Telefonverbindung nach Merwinsk zusammen.

In Merwinsk werden noch verzweifelte Pläne geschmiedet, Grischa zu retten: Sowohl die inzwischen nach Merwinsk gekommene Babka, die von Grischa schwanger ist, als auch die Gruppe um Oberleutnant Winfried versuchen Grischa vor dem Tode zu bewahren, doch scheitern schließlich beide am Widerstand Grischas. Ihm ist es genug, er will nicht durch eine weitere Episode von Hoffnung, Gefangenschaft oder Flucht und Verstecken, sondern will nur noch seine Ruhe haben, die er am ehesten im Grab zu finden hofft. Die minutiöse und eindringliche Beschreibung des letzten Tages Grischas mit Ausheben des eigenen Grabs, Rasieren, Henkersmahlzeit, Aufsetzen des Testaments, Marsch zur Hinrichtungsstätte und Exekution gehört mit Sicherheit zum Bewegendsten und Beeindruckendsten im Werk Arnold Zweigs. Allein für diese Passage lohnt sich die Lektüre des Romans. Darüber hinaus glänzt dieses Auftaktstück des Zyklus mit der im Vergleich sachlichsten und angemessensten Sprache und überzeugt insgesamt auch durch seine durchweg ökonomische erzählerische Konstruktion.

Fraglich aber scheint mir, wie oben schon angedeutet, ob Zweigs Intention, an diesem Einzelfall exemplarisch den Wertewandel zwischen der deutschen Vor- und Nachkriegsgesellschaft festmachen zu wollen, zu überzeugen vermag. Zweig reduziert damit die hochkomplexe Wandlung der europäischen Gesellschaft in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts auf die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. dem Verhältnis von Recht und Unrecht im Staate. Zwar scheint eine Passage wie diese nahezu prophetisch:

»Tja«, räusperte sich Posnanski endlich, »wie sagten Sie, Deutschland? Was will das heißen, mein Lieber? Wer hochsteigt und ein gemischtes Wesen ist, trampelt auf seiner Seele herum und sinkt also innerlich. Deutschland an Macht geht auf wie ein Napfkuchen, Deutschland als Sittlichkeit schrumpft ein zur Fadendünne. Wen wundert das? So geht es den Staaten. Und es macht auch nicht viel Erst wenn der Faden risse, wenn Rechtlosigkeit als Zustand allgemeine Billigung und ein Siegerbehagen fände, sähe es etwas schlimmer aus.

Doch hieße es, dies Zitat überzustrapazieren, wollte man Zweig hier bereits das Verbrecherregime der Nationalsozialisten vorausahnen lassen. Vielmehr setzt Posnanski optimistisch fort:

Aber da werden immer Leute sein, die ihre Hand zwischenlegen. So kleine Klicken wie wir hier; und wenn sie sich Mühe geben, können sie den ganzen dicken Kloß soweit als lebensnötig wieder durchsäuern. Und wenn nicht — Deutschland ist nicht unentbehrlich, und wenn es jetzt eine Zeitlang abträte, hätte es sich mit diesem Johann Sebastian [Bach] allein schon ein ehrendes Gedenken gesichert.

Zweig selbst lässt denn auch wiederholt keinen Zweifel daran, dass sich die Geschichte des Sergeanten Grischa vollständig ausreichend daraus erklärt, dass im Krieg die Rechte des Individuums und noch dazu eines feindlichen Individuums nur ein bedingt schützenswertes Gut sind. Wo Tod und Zufall die lebensbeherrschenden Prinzipien werden, wird Gerechtigkeit noch mehr zum Glücksfall als ohnehin. Man könnte also den Verdacht hegen, dass „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ entgegen der Absicht des Autors nur eine Illustration mehr der altrömischen Einsicht „silent enim leges inter arma“ darstellt. Als solche ist sie allerdings durch und durch gelungen.

Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa. Berlin: Aufbau-Verlag, 2006. Kindle-Edition. 481 Seiten (gedruckte Ausgabe). 7,99 €.

P.S.: Da ich in der Zeit der Lektüre viel unterwegs war, habe ich aus Gründen der Bequemlichkeit diesmal auf die Kindle-Edition des Romans im Aufbau-Verlag zurückgegriffen. Ich habe mir aber nicht die Mühe gemacht, diese Ausgabe, die auf den Text der Erstausgabe zurückgreift, systematisch mit meiner DDR-Ausgabe aus dem Jahr 1980 zu vergleichen und kann daher auch keine Auskunft geben, inwieweit die ältere Ausgabe zensiert bzw. verändert wurde. Wo ich zufällig einmal Anlass hatte, die beiden Texte miteinander zu vergleichen, habe ich keine Abweichung entdecken können.

Aus gegebenem Anlass (XIV) – Das Mitmachen Englands

Den vierten August, Eintritt Englands in den Krieg, feierte man in der Division und nicht den zweiten, den unserer eigenen Kriegserklärung an Rußland und Frankreich, weil, wie von Lychow augenfunkelnd sagte, erst durch das Mitmachen Englands die Geschichte den nötigen Schick bekommen habe. Er schätze, legte er behaglich dar, indes er den gelben Käsebissen auf sammetschwarzem Pumpernickel zurechtschnitt, die militärische Kraft und Schulung der Franzosen, der Russen gewiß nicht gering ein. »Das sind alte Kriegervölker wie wir, ich meine die Preußen«, krächzte er fröhlich, bequem in seinen großen Stuhl zurückgelehnt, zu Generalmajor von Heßta, dem Artilleriekommandeur zu seiner Linken, »und für Kriegervölker will ein Krieg nicht viel bedeuten; man gewinnt einen, man verliert wieder einen, und dann fängt man eben den dritten an; darum keine Feindschaft nicht – ich meine Feindschaft, richtige, auf Tod und Leben. Mit den Engländern drüben raucht das aus ganz anderer Pfeife; die haben ihre kriegerische Zeit längst hinter sich, ihre Fechternaturen schicken sie in die Kolonie, und da legen sie ihnen ja die Erde zur Auswahl vor – und basta. Wenn man die erst einmal wachgekitzelt hat, so daß sie losgehn wie eine gepiesackte Bulldogge, dann wird’s ernst; und den Ernst haben wir nun auf uns gezogen und können bloß durchs Ziel gehn – oder verrecken. Und wenn man in demokratischen Zeiten, wo Hinz und Kunz ganz im Ernst gefragt werden möchte, ob es ihm beliebt, zu sterben, Krieg führen will, dann muß es schon um die Wurst gehn, um die letzte, die allerletzte, verstehn Sie, wenn man aus den Burschen den richtigen Saft herausquetschen soll. Und darum trinken wir auf Englands Wohl, weil es uns gezwungen hat und weiter zwingt, die letzte Rate zu mobilisieren. Am zweiten August konnte es noch so werden wie Siebzig; mit dem vierten bekam die Kiste ihr eigenes Profil. Prost, Herr Kamerad!«

Arnold Zweig
Der Streit um den Sergeanten Grischa

Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun

„Mensch“, schrie Kroysing wiederum, und seine Augen glänzten im Lichte des dritten Glases Kognak, „wissen Sie immer noch nicht, daß alles Schwindel ist, Schwindel wie bei denen drüben? Wir bluffen, und die bluffen, und bloß die Toten blufffen nicht und sind die einzig Anständigen bei dem Theater …“

Zweig-Der-grosse-KriegDieser 1935 erstmals erschienene Roman umfasst zusammen mit „Junge Frau von 1914“ (1931) den Stoff zum ersten Teil der zuerst geplanten Trilogie, in deren Zentrum „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927) stehen sollte. Während sich der Vorgänger, worauf der Titel schon hinweist, hauptsächlich auf Lenore Wahl konzentriert, dreht sich diese Erzählung ausschließlich um Werner Bertin. Die Handlung schließt ohne größere Lücke an die von „Junge Frau von 1914“ an, an dessen Ende sich der frisch mit Lenore verheiratete Werner zurück zu seiner Einheit nach Verdun aufgemacht hatte. Mitte Juli 1916, während die Schlacht um Verdun in vollem Gange ist, leistet er hier Dienst als sogenannter Schipper, also als nicht an der Waffe ausgebildeter Armierungssoldat.

Das Rückgrat der Handlung bildet eine miltärische Affäre um den Tod des jungen Unteroffiziers Christoph Kroysing, der sich bei seinen Vorgesetzten unbeliebt gemacht hat, weil er Unterschlagungen beim Proviant seiner Einheit angezeigt hatte. Er wird daher von diesen Vorgesetzten auf den gefährlichsten Vorposten seiner Einheit beordert in der Hoffnung, eine französische Granate möge das Problem lösen, bevor es zu einem Militärprozess kommen kann, in dem Kroysings Aussage zu ernsten Schwierigkeiten führen würde. Werner Bertin lernt Christoph Kroysing eines Tages zufällig kennen und zwischen den beiden Männern stellt sich sofort ein Verhältnis der Sympathie und des Vertrauens her. Kroysing, dessen Post scharf überwacht wird, fragt Bertin, ob er bereit sei, einen Brief für ihn zu besorgen, in dem er einen einflussreichen Verwandten bitten möchte, den ausstehenden Prozess zu beschleunigen. Werner sagt dies gern zu, doch als er zwei Tage später den Unteroffizier erneut aufsuchen will, ist geschehen, was dessen Vorgesetzte erhofft hatten: Eine französischen Granate ist in seiner Nähe eingeschlagen, und bevor Bertin ihn noch im Lazarett besuchen kann, ist Kroysing verstorben.

Auf der Beerdigung lernt Bertin den älteren Bruder des Verstorbenen, Leutnant Eberhard Kroysing, kennen. Er erzählt Eberhard von seiner Begegnung mit Christoph, der sich daraufhin, von einem schlechten Gewissen geplagt, dass er sich zu wenig um seinen kleinen Bruder gekümmert habe, vornimmt, die Verantwortlichen für dessen Tod juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Die sich aus diesem Vorsatz ergebenden Verwicklungen, in denen Werner eine zentrale Rolle als potentieller Zeuge spielt, liefern im Weiteren den wesentlichen Handlungsfaden. Sie bieten ausreichend Gelegenheit, sowohl die Korruption, Egozentrik und den Antisemitismus des deutschen Offizierskorps als auch das Elend und die Schrecken der Schlacht um Verdun darzustellen.

Zu Werner ist noch zu ergänzen, dass er seinen Vorgesetzten ebenfalls negativ aufgefallen ist, da er sich bei einer Gelegenheit gegen den ausdrücklich Befehl seines Majors um einen französischen Kriegsgefangenen gekümmert hat. Hieraus ergeben sich diverse Schikanen und Benachteiligungen für ihn, die sich erst ganz am Ende auflösen, als er von dem inzwischen mit dem Fall Kroysing befassten Militärrichter unter nicht unerheblichen Aufwand als Schreiber angefordert und in dessen Zuständigkeit versetzt wird. Kurz bevor Werner zu seiner neuen Einheit an die Ostfront aufbricht, stirbt auch Eberhard Kroysing bei einem tragisch konstruierten Fliegerangriff auf das Hospital, in dem er eine Verletzung auskuriert, womit der Fall Kroysing endgültig zu den Akten gelegt werden wird.

Aus Werner ist in dem Jahr, das er vor Verdun verbracht hat, ein deutlich realistischerer Kopf geworden: „Der Armierungssoldat Bertin ist kein Trottel mehr“, heißt es zusammenfassend auf den letzten Seiten des Romans. Auch seine Annäherung an eine sozialistische bzw. kommunistische Sicht der gesellschaftlichen Verhältnisse im Deutschen Reich wird durch den Einfluss zweier Nebenfiguren vorbereitet. Insoweit erfüllt der Roman das Programm seines Titels, wenn auch Werner Bertin noch lange nicht an dem Punkt angekommen zu sein scheint, an dem sein Autor ihn letztlich haben will.

Stilistisch ist der Roman der bislang angenehmste der Reihe, da ihm die romantisierenden Töne der in der Chronologie der Handlung vorangehenden gänzlich fehlen. Man hat hier deutlich das Gefühl, dass dies Zweigs ganz eigener Stil ist, während die früheren Passagen, die die paradiesischen Aspekte der Vorkriegszeit als Gegenfolie zur Kriegszeit entwickeln und die unschuldige Gefühlswelt der Protagonisten herausheben sollten, durchweg als aufgesetzt und stilistisch gekünstelt erscheinen. Alles in allem ist „Erziehung vor Verdun“ daher als der bislang gelungenste Teil des Zyklus zu bezeichnen.

Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun. Berlin: Aufbau-Verlag, 141969. Leinen, Fadenheftung, 504 Seiten. Lieferbar ist neben einer preiswerten eBook-Ausgabe derzeit nur die Hardcover-Ausgabe innerhalb der Werkausgabe des Aufbauverlages.