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Wettbewerb Literatur.digital 2001
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Laokons Ende in Raabes Grosz-Adaption

Knittelverse

Julius Raabe



Mit leichten Schritten kommen Raabes Knittelverse daher, mit einer bisher nicht erlebten Variante des kombinatorischen Erzählens. Zunächst scheint dieses Stück freilich alles andere als zu erzählen, denn zunächst sieht man sich nur dem Bild Brillantenschieber im Cafe Kaiserhof von George Grosz gegenüber. Man mag an Lessings Laokoon denken und daran, dass Bilder eingefrorene Zeit sind und sich nicht narrativ entwickeln können. Aber was Lessing über den Unterschied von bildender Kunst und Sprachkunst sagte, gilt nicht mehr, wenn hinter dem Bild verschiedene Ebenen an Text auf ihren Einsatz lauern.

Eine Ebene ist der Befehlstext, der zum Beispiel dafür sorgt, dass bei Mausklick die Köpfe der Personen auf dem Bild sich bewegen und gar ihre Zugehörigkeit ändern oder eine Person eine Havanna raucht, wobei sich dann tatsächlich auch Qualm über die Szenerie legt. Zugleich erscheinen - dies ist die andere Ebene versteckten Textes - rechts und links vom Bild kreuzreimige Vierzeiler - Raabes sogenannte Knittelverse -, die den vier dargestellten Personen Klick für Klick eine Geschichte anhängen.

Schon diese Idee hat es in sich. Sie macht deutlich, dass ein digitales Bild mehr ist als die Digitalisierung eines Bildes. Im Reich des Digitalen gibt es keine Linie mehr, nur eine entsprechende Verdichtung von Pixeln; jedes dieser Pixel kann separat angesprochen und zum Verlassen seines Platzes programmiert werden. Das digitale Bild ist kein festgehaltener Moment mehr, es hat selbst seine eingeschriebenen Momente. Der Slogan lautet nicht allein: Dies ist keine Zigarre, sondern auch: Dies ist keine Abbildung einer Zigarre. Denn was wir sehen ist immer bloß die temporäre Visualisierung eines alphanumerischen Codes.

Aber Raabes Werk buchstabiert nicht nur das Wesen eines Bildes um, es stellt auch eine originelle Form des Hypertexts dar, denn je nach Ordnung des Klickens erzählt dieses Bild verschiedene Geschichten. Da stiehlt der hagere Mann in der Mitte einmal dem Glatzköpfigen im Vordergrund das Geld, ein andermal tritt er als Komissar auf, dann als Hasardeur, dann wieder - nun als Anarchist - zündet er eine Bombe, die den Bildschirm schwarz werden lässt. Die Entdeckung der ganz im Grosz-Stil nicht gerade feingeschnitzten, und sicher auch nicht zu ernst gemeinten Texte führt zu einem Klickspaß, der immer wieder neue Lesarten des Bildes hervorbringt: Rund 1 800 Wörter bzw. 2,5 engbeschriebene Seiten Text verbergen sich unter der Oberfläche dieses Flash-Werkes.

Aus dem Interview mit dem Autor:

dd: Wie kamst du zum Schreiben digitaler Literatur?

JR: Auschlaggebend für die Beschäftigung mit der digtalen Literatur war der ausgeschriebene Wettbewerb. Ein Wettbewerb bietet ein Forum, liefert Kritik und setzt ein zeitliches Limit für eine Arbeit. Dieser Rahmen war sicher nicht nur mir sehr wichtig. Das technische Handwerk wurde durch den täglichen beruflichen Umgang als Architekt mit dem Computer geschult (auch wenn ich mich, soweit es die Programmierung betrifft, schwer überschätzt habe) und so fiel mir zumindest der Anfang sehr leicht.

dd: Welche Erfahrungen hast du bei der Produktion digitaler Literatur gemacht?

JR: Der Autor muß etwas mehr als nur eine Schreibmaschine bedienen können, er muß sich Fähigkeiten aneignen, die sich sehr von jenen unterscheiden, die er gemeinhin pflegt und entwickelt. Beim Programmieren wird er in jedem Computerprogramm einen gnadenlosen Lektor finden. Wie ein Musiker muß der Autor sein Instument blind beherrschen, es sei denn er findet jemanden, der nach seinen Anweisungen spielt. Ich versuche mich gerade an den ersten Tonleitern. Die Herausforderung besteht darin, beide Bereiche zu verbinden.

Die zweite Eigenart der digitalen Literatur zeigt sich, wenn der Autor sein Instrument virtuos beherrscht und dann richtig aufspielen möchte. Hier lauert die Gefahr, daß eine visuelle Dominante die Arbeit bestimmt. Diese Problematik führt zu der Frage nach der Form, nach der Tarierung aller eingesetzten Mittel, die sich gemeinsam dem Konzept unterordnen müssen.

dd: Wie kamst du auf die Idee der Knittelverse?

JR: Für mich war die Frage nach den Besonderheiten der digitalen Literatur wichtig. Ein Unterschied zu anderen Medien liegt in der Möglichkeit, Varianten einer Geschichte anzubieten, die vom Betrachter entdeckt werden müssen. Diese Varianz wollte ich zum Thema machen. Eine wie auch immer geartete visuelle Gestaltung musste also zwei Aufgaben übernehmen: Sie sollte einerseits den vielen Geschichtchen einen gemeinsamen Rahmen, einen gemeinsamen Ausgangspunkt bieten und andererseits als Navigator fungieren.

Ein Bild als Ausgangspunkt einzusetzten lag nahe, eines von Grosz zu wählen nicht. Die Brillantenschieber erwiesen sich jedoch als dankbares Objekt. Die Art der Darstellung und die Bildaufteilung unterstützten die Möglichkeit kleiner Animationen, die dominanten Köpfe förderten das intuitive Auffindung der Verlinkung und die im Bild ungenannte Beziehung der Schieber zueinander ließen Raum für verschiedene vorstellbare Geschichten.

dd: Knittelverse wurden von den akademischern Wächtern der Poesie lange Zeit als volkstümlich abgelehnt und stehen auch heute als Beispiel für leichte?

JR: Die leichte Kost war mir durchaus recht. Ich bin bald von dem Variantenreichtum überrollt worden, weshalb mir auch einige der schlichten Verse nur sehr holperig gelungen sind. Es stimmt aber, daß diese etwas stoppeligen Verse mit der karikaturartigen Darstellung von Grosz einhergehen. Das Schriftbild unterstützt zusätzlich das Gemenge der leichten Kost. Es ging mir um die Unterbringung vieler verschiedener Geschichten in einem übersichtlichen Bild und dem Betrachter sollte sich diese Arbeit ohne Umwege selbst erklären. Die einfachen Texte gehören zu diesem Konzept.

 

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