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Wettbewerb Literatur.digital 2001
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Multiple Personality Disorder als Bildschirmkombination

Quadrego

Stefan Maskievicz



Quadrego bringt die Psyche einer Multiplen Persönlichkeit auf die Bühne des Bildschirms. "Es ist dunkel und der Morgen reift", so lesen wir, "noch unter der schwarzen Schale. Die Sonne liegt noch unter dem Horizont. Im Zimmer ein bläuliches Licht. Niemand nur sie. Im Bett. Da sind Iris, No, Rolf und Tom. Sie ist allein. Alle sind da. Streit liegt in der Luft. Es ist schon fast ein Ritual. Alle sind eins und niemand ist sich einig. Jeder will sein Recht. Keiner gibt nach."

Was folgt, sind Dialoge und Monologe unter den vier Bewohnern dieses Ich. Die Viererlogik wird aus der Inhalts- auf die Formebene überführt, der Bildschirm zeigt die Portraits der Beteiligten nebeneinander. Aber das ist es noch nicht das besondere an Quadrego. Das besondere ist, dass man die Gespräche nun selbst steuern kann. Dass man entscheiden kann, wer wem antwortet. Maskievicz hat einen komplizierten Mechanismus der Bezüge entwickelt, der allein mit HTML und JavaScripts auskommt. Es ist ihm gelungen, die Sache mit einer Unzahl an if- und for-Befehlen so abzustimmen, dass jedes Image und jeder Text auf dem in 14 Frames aufgeteilten Bildschirm schließlich an der richtigen Stelle, in der richtigen Größe und in der richtigen Reihenfolge erscheint.

Die Freiheit der Kombination vollzieht sich freilich innerhalb der Vorgaben des Autors. Man kann immer nur aus den potentiellen Gesprächspartnern auswählen, die der Autor vorgesehen hat; und was sie dann sagen werden, ist exakt das, was der Autor ihnen in den Mund gelegt hatte. Diese Texte spiegeln die Befindlichkeit der Eingesperrten. Wer da eher Aktion als Psychorhetorik erwartet, wird nicht auf seine Kosten kommen. Die einzige Aktion ist die Verschlimmerung der Multiple Personality Disorder, wenn schließlich auch Georg - bisher reales Gegenüber der Vierer-Gruppe - Teil des multiplen Ich wird. Eine verfahrene Situation, die im Kreislauf der Kombinatorik ihre beklemmende Wirkung entwickelt.

Aus dem Interview mit dem Autor:

dd: Wie kamst du zum Schreiben digitaler Literatur?

SM: Die Medien, die ich als Ausdrucksmittel benutze, sind mir im Laufe der Zeit zugewachsen. Ich habe zunächst Malerei studiert. Meine berufliche Orientierung als Lernsystemlektor und -entwickler waren für die konzeptionellen Schritte digitaler Projekte eine gute Grundlage.

dd: Welche Erfahrungen hast du bei der Produktion digitaler Literatur gemacht?

SM: Das Spiel mit Wort, Bild und Interaktion birgt die Gefahr der Beliebigkeit und Zufälligkeit. Schnell wird jeder Ansatz von Text in Banalität zerkrümelt und muss vom Leser vor dem Genuss wieder zusammengebacken werden. Kunstvolles Kodieren um des entstandenen Kodes willen ist nicht mein Interesse. Ich suche nach Anlässen und Zusammenhängen, in denen es Sinn macht, sich einer neuen Textart zu bedienen. Dann wird Interaktion in die Gesamtheit eines digitalen Werkes einbezogen.

dd: Wie kamst du auf Quadrego?

SM: Die Grundidee zu Quadrego ergab sich aus der Lektüre eines Buches über das Leben am/im Bildschirm (Sherry Turkle: Life on Screen - Identity in the Age of the Internet). Turkle beschreibt in ihrem Buch das Verhalten eines Teilnehmers an einem MUD (Multi User Dungeon), einem Fantasy Spiel mit realen Teilnehmern. Dieser Teilnhemer nahm im Laufe von wenigen Minuten vier verschiedene Rollen ein, die von anderen Teilnehmern als vier unterschiedliche Charaktere im Spiel wahrgenommen wurden. Der Spieler bewältigte den sprunghaften Rollenwechsel mithilfe einer Fenstertechnik auf dem Bildschirm. Je nach Fokus auf eines der Fenster wechselte er die Rolle.

Gleichzeitig recherchierte ich nach Rollenverhalten und Persönlichkeitsspaltung und stieß auf Forschungsberichte über MPD (MultiplePersonality Disorder). Ich war sofort fasziniert von dieser Form der Persönlichkeitsvervielfachung. Es war ein Phänomen, das sich gänzlich von der Vorstellung des Rollenverhaltens abhob. Aus der Rolle wurde die hermetisierte Persönlichkeit.

dd: In der Einleitung heisst es: "Quadrego ist in mehreren Formen geschrieben und lässt sich lesen und erleben." Das Erleben ist ein Mehr gegenüber dem Lesen eines Textes auf Papier. So wird der Rezeptionsprozess selbst zum Träger der Aussage?

SM: Quadrego vereint mehrere Monolog- und Dialogstränge, die sich linear durchleben/lesen lassen. Die Kombinierbarkeit ist ein wesentliches Gestaltungselement, das dem Leser die Freiheit zur eigenen Wegfindung durch den Text gibt. Brüche bei der individuellen Rekombination dürfen beim Lesen nicht spürbar werden. Divergente und konvergente Erzählstränge treffen sich immer wieder in Knotenpunkten, die als solche aber nicht erkennbar sein dürfen.

Das Zusammenspiel der Medien Text und Bild mündet im intermedialen, individuellen Erleben. Der Augenblick, in dem ein bestimmter Text mit einem Bild/Farb-Klang zusammenkommt, ist schwer wiederholbar, da er von der Geschwindigkeit des Lesens und der Aktion des Weiterklickens abhängig ist. Also ist auch das Ergebnis - das Erlebnis - immer wieder ein anderes.

dd: An verschiedenen Stellen lauern zusätzliche 'Text'ebenen, die für das Verständnis des Ganzen wichtig sind, und die man möglicherweise erst beim zweiten oder dritten Lektüredurchgang entdeckt.

SM: Der Wechsel der Augenfarbe von Iris spiegelt das chameleonartige Wesen der Person wieder, die Georg gegenübersteht. Die Verwirrung Georgs im Angesicht widersprüchlicher Gefühle und geheimnlisvoller Andeutungen spiegelt sich in den Augen wider, die die Farben der vier Persönlichkeiten annehmen. Dieser Farbwechsel ist so abgedämpft gestaltet, dass er nicht sofort auffällt.

 

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