Vorwort
Als der DTV und
T-Online im Frühjahr 2001 einen Wettbewerb
für digitale Literatur ausriefen, mögen
sich manche gefragt haben, was um alles in der Welt
digitale Literatur ist? Geschichten und Gedichte,
die am Computer geschrieben wurden? Hypertexte?
Multimedia? Mitschreibprojekte? Aber warum heisst
es eigentlich nicht Netzliteratur?! Und inwiefern
handelt es sich überhaupt noch um Literatur,
wenn das Wort immer mehr dem Bild weicht und
eindrucksvollen Effekten, die eher dem
Programmierer als dem Dichter Gelegenheit geben,
sich auszutoben! Warum nicht einfach Netzkunst?
Oder allgemeiner New media Writing? Doch selbst
wenn der eigentliche Gegenstand geklärt ist:
Es bleibt die Frage, woran man die Sieger erkennt.
Nach welchen Kriterien soll hier die Kritik
erfolgen? Was sagen die Professoren
dazu?
Die Veranstalter
des Wettbewerbs waren sich der ungeklärten
Fragen und der mit dem Unternehmen verbundenen
Risiken durchaus bewusst. Gab es wirklich schon
Autoren, die sich in das neue Medium so
hineinbegeben hatten, die so in das Reich der
digitalen Kommunikation hineingewachsen waren, dass
man mit Qualität rechnen konnte? Oder
würde man nur eine Menge Gedichte und
Geschichten erhalten, die schon lange auf eine
Gelegenheit gewartet hatten, die Schublade - oder
die private Hompage - hinter sich zu lassen, sei es
nun innerhalb eines Buches oder eben eines
Wettbewerbs für digitale Literatur?
T-Online und DTV
ließen sich nicht abhalten. Sie hatten ihre
jeweils eigenen Gründe. Der Vertreter des
neuen Mediums gab dem Wettbewerb online Platz und
technische Betreuung und rief seinem Publikum somit
in Erinnerung, dass es im Internet neben Chat und
Kommerz auch ästhetische Projekte wie dieses
gibt. Der Vertreter des alten, nun: älteren
Mediums hatte all die Berührungsängste
abgelegt, die man von ihm erwarten konnte, um sein
Publikum mit einer Literatur bekannt zu machen, die
nicht mehr zwischen zwei Buchdeckel passt. Der DTV,
so Verleger Wolfgang Balk, "sieht es als seine
wesentliche Aufgabe an, die Literatur von der
Frühzeit bis in die unmittelbare Gegenwart
jenseits des Bestsellergeschäfts in ihrer
ganzen Bandbreite vorzustellen und zugänglich
zu machen. In diesem Sinne engagieren wir uns
für die sich neu entwickelnden literarischen
Formen im Internet, für die wir durch diesen
Preis auch eine größere
Öffentlichkeit interessieren
wollen."
Wenn der DTV den
Wettbewerb nun mit einen Buch dokumentiert, ist das
freilich eine andere Geste als die Buchproduktionen
von Suhrkamp, DuMont oder Kiepenheuer & Witsch,
mit denen jene Netzprojekte - Reinald Goetz'
Tagebuch "Abfall für alle" sowie die
Web-Anthologien "NULL" und "Am Pool" - eine Heimat
im Printbereich erhielten, die der Logik des Buches
entstammten, ihr nie entkamen und im Grunde auch
von Anfang an ins Buch 'zurück' wollten. Das
vom DTV hier vorgelegte Buch bedient sich des
traditionellen Mediums nur als Schutzumschlag
für die beigelegte CD-ROM. Und zwar nicht
allein im physischen Sinne, sondern auch im
aufklärerischen. Denn den auf der CD-ROM
platzierten, in die engere Wahl gelangten 20
Beiträgen sollten einleitende Worte wie
einführende Artikel mit auf den Weg gegeben
werden, die die Einordnung und das Verständnis
dieser Beiträge erleichtern. Es war Eile
geboten, diese Artikel zu bestellen, zu schreiben
und zu redigieren, als der Plan zum Doppelprojekt
gefasst war und, was die CD-ROM betraf, umgehend
realisiert werden konnte. Die am Buch beteiligten
Autoren hatten sich mit den verschiedenen Facetten
des Themas allerdings seit langem beschäftigt,
und so lagen binnen zweier Monate die Beiträge
vor.
Diemut Roether
beleuchtet zunächst die Tendenzen, die sich
auf dem Literaturmarkt für Autoren, Verlag,
Bucheinzel- und Zwischenbuchhandel abzeichnen,
wobei von Print on Demand und Browse and mouse
Büchern ebenso die Rede ist wie von der
Geschenkökonomie, der Selbst-Kannibalisierung
und dem unausgeschlafenen Verhältnis mancher
Verlage zu den neuen Medien. Christine Böhler
beschreibt das Cultural Jamming und Mediahacking
digitaler Robin Hoods; ästhetische
Phänomene also, die unmittelbar aus dem Netz
entstehen und schon weit über das hinausgehen,
worauf dieser Wettbewerb zielte. Die Begriffe und
Ansichten, mit denen die Veranstalter an den
Wettbewerb gingen, verdeutlicht das Essay zum
Wettbewerb "Digitale Literatur?", das auf der
Website des Wettbewerbs auch den Teilnehmern zur
Verfügung stand. Der Beitrag "Geburt und
Entwicklung der digitalen Literatur" rekonstruiert
die Geschichte der Autoren, Förderer und
Beobachter digitaler Literatur mit einem Blick auch
auf die amerikanischen Vorläufer und auf das
nicht immer klar zu trennende Nachbarphänomen
der digitalen Kunst. Jürgen Daibers Artikel
"Zum (noch) ungeordneten Verhältnis von
digitaler Literatur und Literaturwissenschaft" gibt
einige klärende Anmerkungen über die
Voraussetzungen und Sackgassen digitaler
Ästhetik und verrät, was die digitale
Literatur von der Emblematik des Barock lernen
kann. Das Interview mit Peter Schlobinski
diskutiert die Folgen dieses Phänomens
für die Behandlung in den Schulen, Georg
Christoph Tholen beschreibt die Eckpunkte aktueller
Medientheorie und ihrer Praxis an der
Universität Basel. Das Interview mit Mark
Amerika spiegelt die Erfahrungen eines
Netz-Künstlers, der als Professor an einer
amerikanischen Universität dem neuen Thema
Einzug ins Curriculum zu verschaffen sucht. Richard
Karpen schließlich legt Ziel und Arbeitsweise
des unter seiner Leitung gerade geründeten
Center for Digital Arts and Experimental Media an
der University of Washington. Die im dritten Teil
versammelten Kurzbesprechungen der
Wettbewerbsbeiträge verstehen sich nicht als
akademische Anaylsen, sondern als durchaus
subjektiv gehaltenes Be-Sprechen der vorliegenden
Wettbewerbsbeiträge, das den Lesern einen
ersten Eindruck geben und die Begegnung mit dem
ungewohnten Material erleichtern mag.
Dass der DTV dem
Wettbewerb dieses Buch folgen lässt und dass
er sich für eine Wiederholung des Wettbewerbs
in den nächsten Jahren entschieden hat,
spricht für die Zufriedenheit der Veranstalter
mit dem Ergebnis von 2001. Dies heißt nicht,
dass man der Meinung ist, dem berühmten
großen Wurf, der dem neuen Medium
endlich kanonische Weihen bringen würde, schon
begegnet zu sein. Eher war man überrascht vom
breiten Spektrum ästhetischer Experimente, das
die eingesandten Beiträge erkennen
ließen. Es ist denkbar, dass die
Ansätze, dem neuen Medium neue
ästhetische Ausdrucksformen abzugewinnen, in
einer verbesserten Produktionssituation auch
reifere Früchte tragen. Zu einer solchen
verbesserten Produktionssituation gehört zum
einen die Gewissheit künftiger Wettbewerbe,
die eine gelassenere Planung und Durchführung
der jeweiligen Projekte ermöglicht. Und es
gehört die Aussicht auf ein Publikum dazu, das
aufmerksam und kritisch genug ist, um Ansporn
für die künstlerische Arbeit zu sein. Mit
dieser und weiteren geplanten Publikationen sowie
der Wiederholung des Wettbewerbs in den
nächsten Jahren versucht der DTV, den neuen
Autoren und Autorinnen diesen Hintergrund zu
schaffen. So darf man gespannt sein, was die
Zukunft der digitalen Literatur bringen wird.
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