Von der Suche nach dem Sinn des Lebens – Eine Polemik zum Deutschen Buchpreis 2016

Wenn wir in ein paar Jahren, in fünf vielleicht oder in zehn, zurückblicken auf die Romane, die für die Long- und Shortlist des Deutschen Buchpreises 2016 nominiert wurden, werden sie uns dann erzählen, wie es sich angefühlt hat, unser Leben im Jahr 2016? Werden wir uns erinnern, was uns umgetrieben hat, welche Themen im öffentlichen Diskurs eine bedeutende Rolle spielten oder beim Treffen mit Freunden die Gemüter erhitzten, was uns erfreute, was uns besorgte? – Nein, lässt sich da wohl jetzt schon antworten, werden wird nicht.

ThemenEs wird ja jedes Jahr viel genörgelt, wenn die Longlist veröffentlicht wird, dann wieder, wenn die Shortlist feststeht. Viele Leser und Experten vermissen „ihren“ Titel, der doch ganz unbedingt hätte nominiert werden müssen, das eigene Herzens- oder Seelenbuch, oder auch den Roman mit dem beeindruckendsten Plot, mit der ganz besonderen Sprache, das allerbeste Debüt dieses Jahres oder das aller-, allerbeste Alterswerk, den Roman des Autors, der es doch schon lange verdient hätte, den experimentellsten Roman oder auch den konventionellsten, den Roman, der wirklich etwas zu erzählen hat oder den, der Buchhändler und Verlag am meisten erfreut usw. usw.

Und wie sieht es aus mit den Themen, die bei den diesjährig Nominierten eine Rolle spielen? Es stimmt schon, dass es mindestens ein – neudeutsch sogenannter – Coming-of-Age-Roman auf die Longlist geschafft hat, es gibt dort eine Dystopie und ein irritierend-experimentelles Debüt, den Roman, der die 1980er Jahre führt, den, der uns in die Abgründe des Fan-Seins schauen lässt und den, der uns – zum Ausgleich quasi – die Forschungsgeschichte zu Dante aufarbeitet.

Und dann gibt es jede Menge Romane, die um die Sinnsuche kreisen. Da sind Frauen und Männer, meistens haben sie die Lebensmitte schon überschritten, die auf ihr Leben zurückblicken und sich die Frage aller Fragen stellen; da sind die Männer, die aus ihrem Leben aussteigen, da sind die, die auf Reisen gehen, um sich selbst näher zu kommen, manchmal mit einem Fragenkatalog in der Tasche, manchmal aus einer spontanen Idee heraus. Alle wuseln und reisen herum, hin und her, die Mosel herauf, Italien herunter, manche kehren von langen Reisen zurück, manche reisen in die Berge, manche steigen auf Berge, manche reisen mit einem Koffer ungewöhnlichen Inhalts, manche reisen ganz ohne Gepäck, und sie suchen und suchen – nach dem Glück, der verpassten Liebe, dem Hund: die meisten Protagonisten suchen wohl vor allem sich selbst.

Der Jahrgang 2016 also wird als Jahrgang der Sinnsucher in die Buchpreisgeschichte eingehen. Das ist es also, so werden wir in fünf oder zehn Jahren erinnern, wenn wir auf die Titel schauen, was uns damals bewegt hat, die Suche nach uns selbst und nach dem Sinn. Aber dann wird uns – hoffentlich – vage in Erinnerung kommen, dass das ja nicht alles gewesen ist in diesem Jahr. Und wir werden uns fragen, wo die Romane waren, die sich damit beschäftigt haben, was uns hier in Europa gerade so um die Ohren fliegt.

Wo sind sie, die Romane, die sich nicht nur mit dieser Innerlichkeit des Individuums beschäftigen, als gebe es sonst nichts, worüber ein Nachdenken lohnt? Wo sind die Romane, die, seismografisch fast, aufnehmen, was in unserem Land gerade erodiert? Die uns Figuren schenken, die über das Auswandern, das Fliehen erzählen und die Schwierigkeiten des Ankommens, die erzählen über die Begegnungen zwischen dem Neuen und dem Alten, dem Bekannten und dem Befremdlichen? Wo die Romane, die ihre Protagonisten in die Arbeitswelten schicken und erzählen von den Mühen der Personalentwicklung und der Zielvereinbarungsgespräche, von Kostendruck und Effizienz und (Selbst-)Optimierung, vom neuen Dienen und von den Schwierigkeiten des Lebens unter diesen Bedingungen? Wo die Romane, die unter den Bedingungen der sich dramatisch verändernden politischen Verhältnisse spielen, wo die Romane, die von Menschen erzählen, die ins Mühlrad der Digitalisierung gelangen?

Nun mag das eine oder andere Thema zu aktuell sein, um (schon) fiktional bearbeitet werden zu können. Für einen Brexit-Roman oder einen AfD-Roman ist es sicher noch zu früh. Die ökonomischen Verwerfungen aber sind schon länger beobachtbar, darüber schreibt aber kaum ein Autor.

Wenigstens hat es ein Roman auf die Longlist und auch die Shortlist geschafft, der die Erlebnisse von Flucht und den Schwierigkeiten des Ankommens erzählt, einer Flucht aber, die Jahrzehnte zurückliegt und bei der diejenigen, die geflohen sind, die „Guten“ waren, galten sie doch als lebendige Beweise für die Überlegenheit des westlichen Lebens im Wettstreit mit der kommunistischen Lebensweise in Osteuropa. Wo sind aber die Romane, liebe Jury, die von den „neuen“ Fluchten erzählen? Die gibt es ja, die sind im Frühjahr erschienen, die meisten von ihnen Debüts, aber das ist ja kein abwertendes Kriterium, im Gegenteil.

Und wo sind, liebe Schriftsteller, die Romane, die erzählen von den Verwerfungen in unserer Gesellschaft? Müssen wir die französischen, die englischen Romane lesen, wenn wir wissen wollen, wo es gärt, wo die gesellschaftlichen Wirklichkeiten aufeinandertreffen? Oder bleiben uns nur die Sachbücher, wenn wir erfahren wollen, wie uns lieb gewonnene Verhältnisse gerade allüberall abhandenkommen, ein Prozess, der schon vor Jahrzehnten ausgelöst wurde, z.B. durch das Aufkündigen des „Sozialen“ im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, da war noch kein syrischer Flüchtling in Sicht. Mag sich kaum mehr ein Autor auseinandersetzen mit diesen Themen, schickt er seine Protagonisten lieber auf Innerlichkeitsreisen und überlässt das weite Feld lieber den Politologen und Soziologen?

Immerhin, die meisten der nominierten Romane sind „gute“ Geschichten, und manch ein Reisender wird auch bei diesem Tun mit der Gegenwart konfrontiert und setzt sich damit auseinander. Und natürlich: Auch Innerlichkeitsreisen haben ihren Stellenwert, auch über Sinnsucher wollen wir lesen, das gehört ja zum Leben dazu. Aber die Fliehkräfte der Gesellschaft gehören eben auch dazu.

Die Shortlist, die nun heute veröffentlicht wurde, hat dann auch keine besonderen Überraschungen mehr zu bieten. So warten wir auf jeden Fall auf die nächsten Buchpreislisten und schauen, ob sich in Zukunft Autoren und Jurys offener den aktuellen Themen stellen werden. So lange bleiben ja immerhin die Sachbuchtitel.

Beitrag von: Claudia Pütz, Betreiberin des Blogs Das graue Sofa

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8 Comments

  • Reply
    jancak
    20. September 2016 at 17:57

    Ja, das stimmt und stört mich vielleicht auch ein bißchen, die vielen gut konstruierten Romane von älteren Männern, die ihre Midlifekrise ausleben, nach Sizilien oder auf den Berg reisen und vom Sex und vom Sterben schreiben.
    Ich denke aber, daß auch diese Liste die Bandbreite des Literatur schon ein bißchen abdeckt, es gibt einen Abenteuerrroman, der mir allerdings nicht so sehr gefallen hat und das gut konstruierte, was dann wieder ein bißchen künstlich wirkt, hat mich schon gestört.
    Ich lese gerade Lewitscharoff und das ist von den elf Büchern, die ich dann gelesen habe, das beste oder zweitbeste, auf jeden Fall der beste Roman, denn ich halte das Buch von Tomas Melle, das das andere wäre, nicht für einen Roman, aber auch da geht es in einer sehr „zerzwurbelten Sprache“, die mir allerdings im Gegensatz zu ihren früheren Büchern gefallen hat, um einen Dante Kongreß, also auch nicht gerade etwas sehr Alltägliches und um eine Himmelfahrt, die ja nicht realistisch ist, geht es auch.
    Interessant ist auch, daß eine oder einer, als sie von der Facebookseite des dBp gefragt wurde, was man draufhaben will, meinte, daß das, was man gerne liest, also Krimis, Jugendbücher, Fantasy etcetera, nie darauf kommt, weil die Juroren eben einen abgehobenen Literaturgeschmack haben.
    Aber man kann ja lesen, was man will, die Migrantenliteratur statt dem Bodo Kirchhoff, beispielsweise, statt sich zu ärgern, daß diese Bücher fehlen, das aber immer wieder thematisieren, hilft vielleicht auch, weil dann die Bandbreite im nächsten Jahr vielleicht wieder ein bißchen größer ist.
    Liebe Grüße aus Wien!

  • Reply
    Axel
    21. September 2016 at 9:34

    Kirchhoff hat das Thema Flüchtlinge ja nicht ignoriert, im Gegenteil.
    Auch Hool und Melle passen mir nicht recht zu dieser Generalkritik.
    Ich bin mit der Liste in diesem Jahr recht zufrieden.
    Ich habe in diesem Jahr drei aktuelle Romane zum Thema Flüchtlinge gelesen (Köhlmeier, Erpenbeck, Khider). Dass sich „die Schriftsteller“ nicht mit aktuellen Themen beschäftigen sehe ich nicht (und manchmal geht das mit etwas zeitlichen Abstand auch besser).
    Habe diese Polemik aber mit Interesse gelesen, nicht falsch verstehen.

    • Reply
      Claudia
      21. September 2016 at 10:16

      Lieber Axel,
      das Wesen der Polemik ist es ja, nicht ganz genau hinzuschauen und nicht völlig ausgewogen und differenziert zu sein, sondern vielmehr wunderbar zu pauschalisieren. Und tatsächlich, ich habe das ja sogar angedeutet, gibt es auch auf der Longlist Titel, die sich mit aktuellen Dingen ausdeinandersetzen. In DER SUMME aber ist der schwer an sich selbst tragende Protagonist auf der Longlist deutlich in der Überzahl. Und Köhlmeier und Khider, vor allem aber Shida Bayzar, Rasha Khayat und Katharina Winkler, tauxchen nicht einmal auf der Longlist auf (Erpenbeck war im letzten Jahr im Rennen). Prekäres Arbeiten, Arbeiten unter Hochleistungsdruck usw. finden dagegen gar nicht in Romanen statt – vielleicht (Unterstellung), weil Autoren sich in dieser Welt kaum auskennen?
      Viele Grüße, Claudia

  • Reply
    Axel
    21. September 2016 at 12:12

    Es klang so, als ob Du es „den Autoren“ heutzutage generell vorwirfst, daher hatte ich Beispiele genannt, die nicht auf der Liste standen.
    Ich glaube, dass ein Großteil der großen Romane sich eher mit dem Innenleben beschäftigen. Natürlich kann man immer fordern, dass sie sich stärker mit Umweltverschmutzung, Islamismus, dem Auseinandertreiben der Gesellschaft oder dem Leistungsdruck beschäftigen sollen, je nachdem, welches Thema einen gerade besonders umtreibt. (Auch die das tun sind aber meist besser, wenn sie schwer an sich selbst tragende Protagonisten haben.) Aber den Vorwurf gibt es meiner Meinung nach seit Jahrzehnten, das ist kein aktuelles Phänomen.

    Ich persönlich bin aber in der Tat auch eher ein Freund von den melancholischen Romanen über trostlose Endvierziger, die einen Verlust erlitten haben, als von denen, die sich an einem aktuellen Thema abarbeiten.
    Insofern wie immer: vieles Geschmackssache 🙂

    • Reply
      Claudia
      24. September 2016 at 12:41

      So ist das, alles Geschmacksache :-).

  • Reply
    Sabine
    21. September 2016 at 15:20

    Wolltet ihr mit diesem Artikel kritisieren, schluchzen oder euch beklagen? Warum gebt ihr anderen Ansprüchen kein Recht auf Existenz? Lesende und literaturinteressierte sind nicht ausschließlich jung bis ca. Mitte dreißig. Es finden sich auch ältere, die durch berufliche, inzwischen manifestierte Frustrationen gehen, deren Möglichkeiten begrenzter werden je älter sie werden, die extrem-politische Wirrungen nicht zum ersten Mal erleben. Die sich nicht aus Mutlosigkeit den Situationen ergeben, sondern sich auf Wege machen, das eigene Leben in die Welt zu integrieren. Der Schritt dazu ist die Sicht auf das Innere. Das ist eine mutige Angelegenheit. Erst recht in Zeiten, in denen das Äußere glänzen und das Innere gleichgetaktet sein soll. Das ist für mich auf jeden Fall ein Teil der aktuellen Zeit.
    Abschließend (da dies hier ein Blog ist): Werdet ihr Blogger denn eurem Anspruch selbst gerecht? Sucht ihr nach solcher Literatur und besprecht sie auf euren Blogs?

    • Reply
      Claudia
      24. September 2016 at 12:40

      Das schöne an der Polemik ist ja, dass man hemmungslos und völlig undifferenziert schluchzen und jammern kann :-). Auf meinem Blog sind die Themen „Flucht und Entwurzelung“ sowie „Die Ökonomisierung unseres Lebens“ zwei Leseschwerpunkte, ab und zu gibt es auch einen Lesebricht zum Thema „Big Data“, meistens sind das Berichte über Sachbuchlektüren. Zum Blog geht es hier entlang: http://www.dasgrauesofa.com.

  • Reply
    Drehtür | Literaturgefluester
    10. Oktober 2016 at 13:17

    […] obwohl es ein Episodenroman ist, der glaube ich, die Kriterien erfüllt, die manche Blogger auf der Liste vermißten, den sozialen Anspruch und die gesellschaftliche Relevanz, statt des eweigen Jammers um den Tod und […]

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