„Ich bin frei, frei wie ein Vogel ohne Flügel, ein Blechvogel, aber einer, zu dem es keinen Schlüssel mehr gibt, den niemand mehr aufziehen und über die Dielen hüpfen lassen kann.“
Wenn die Fremde vertrauter wird als die einstige Heimat, ist sie dann noch Heimat? Die Vergangenheit mit all ihren Begegnungen und Episoden erscheint, als Asta an einer Drehtür auf dem Münchner Flughafen steht. Viele Jahre hat sie mit verschiedenen Hilfsprojekten im Ausland verbracht, zuletzt in einem Krankenhaus in Managua, der Hauptstadt von Nicaragua. Nun ist sie zurück, 65 Jahre alt, also im besten Alter, um getrost in den Ruhestand zu gehen. Doch Deutschland, die einstige Heimat, verwirrt sie vielmehr, als das sie vertraut wirkt. Asta raucht einen Glimmstängel nach dem anderen dank eines Vorrats an Duty-Free-Zigaretten, die Zeit vergeht. Menschen gehen, Menschen kommen.
Die Drehtür, die dem aktuellen Roman von Katja Lange-Müller auch den Titel gibt, ist nicht nur jene Station, an dem der Leser die in die Jahre gekommene Heldin zu Beginn kennenlernt. Sie ist zugleich faszinierendes Symbol für die Bewegungen im Leben Astas, für einen Ort, an dem Weggefährten erscheinen und verschwinden, und eine Pforte zu fremden Kulturen. Denn Asta ist eine Helfende und viel Gereiste. In Leipzig und Berlin als junge Frau heimisch, führten ihre Wege sie unter anderem nach Tunesien, in die Mongolei und in USA. Schon in der Zeit der DDR überwand sie die Grenze, reiste sie zu Beginn der 80er Jahre in die BRD aus.
Doch für die Erinnerungen braucht es einen Anstoß: Es sind das Umfeld der Drehtür und eben Menschen, die sie auf dem Flughafen still und heimlich beobachtet und die Ähnlichkeiten aufweisen mit jenen Bekannten aus längst vergangenen Jahren, von denen sie in einem inneren Monolog berichtet. Wie die ehemalige Kollegin Tamara aus dem psychiatrischen Fachkrankenhaus, welche die Guerilla-Kämpferin Tamara Bunke verehrte und in Indien mit einer Hilfsaktion Frauen mit Nähmaschinen versorgte, die durch einen tückischen Anschlag mit Brennspiritus schwer verletzt und verstümmelt wurden. Ein junger Asiat lässt Asta an einen Nordkoreaner denken, dem sie einst das Leben gerettet hat. Mit Georg und Kurt tauchen zudem zwei Männer auf, zu denen Asta besondere Beziehungen pflegte, der eine Künstler, der andere Sozialwissenschaftler. Selbst eine Katze bringt sie dazu, sich an einen eher unharmonischen Urlaub in Tunesien zu erinnern.
„Zu helfen weckt ein seltsames Verlangen in dir, aber eines, das gestillt werden kann, so betörend, dass du es wieder tun willst und wieder und immer wieder. Es mag wohl auch tröstlich sein, und nicht nur für den Hilfsbedürftigen, doch mehr noch ist es eine Herausforderung, durchaus im sportlichen Sinne des Wortes. Wenn du zum Helfen berufen oder eben ermächtigt bist, ist es tröstlich und herausfordernd, jemandem zu begegnen, dem es schlechter geht als dir selbst, am besten viel schlechter.“
All diese recht unterschiedlichen Geschichten vereint ein großes Thema: Erzählt wird vom Helfen und der Hilfsbereitschaft, von deren Gründen und Grenzen. Weshalb setzten sich Menschen für andere ein? Ist es ein natürlicher Reflex, welche Rollen spielen Macht und der Gedanke an einen Misserfolg? Fühlt man Schuld, wenn man Hilfe verweigert? Katja Lange-Müller wirft mit ihrem vielstimmigen und weltumspannenden Roman interessante Fragen auf – gerade in der heutigen Zeit, in der in vielen gesellschaftlichen Bereichen das Ehrenamt gefragter ist denn je oder vor allem in sozialen Berufen händeringend nach geeigneten Nachwuchskräften gesucht wird. Allgemein stellt sich der manchmal leise, aber zweifelnde Gedanke, ob sich Hilfsbereitschaft und damit Aufopferung und Menschlichkeit noch lohnen. Denn Asta erlebt auch die Schattenseiten ihrer besonderen Neigung, seien es die mobbende Kollegen in Managua oder die Kaltherzigkeit anderer, die einen spürbaren Kontrast zu ihrer Helfer-Seele bilden.
Über dieses spannende Thema hinaus begeistert die Autorin mit einer feinen, sehr durchdachten Sprache, deren Inhalte und Möglichkeiten an einigen Stellen hinterfragt wird, und einer wunderbar ausbalancierten Stimmung zwischen Melancholie und Humor. Diese Geschichten, die sich um die charismatische Heldin versammeln oder wie bei einer Matroschka das Innenleben der Figur füllen, sind einfallsreich, ohne unreal zu wirken. Dass der kluge und berührende Roman es nicht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, ist ein Fehlurteil, so meine ich.
Der Roman „Drehtür“ von Katja Lange-Müller erschien im Verlag Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 19 Euro.
Besprechung von: Constanze Matthes, Betreiberin des Blogs „Zeichen & Zeiten“
6 Comments
Deutscher Buchpreis 2016 - Die Longlist: Eine Rezensionsübersicht
22. September 2016 at 16:07[…] Buchpreisblog/Zeichen und Zeiten […]
marinabuettner
22. September 2016 at 19:03Ich bin auch ziemlich entsetzt, dass Drehtür es nicht auf die Shortlist geschafft hat. Ist mir unbegreiflich …
Claudia
24. September 2016 at 17:40Ich schließe mich an: „Drehtür“ hätte auf jeden Fall einen Platz auf der Shortlist verdient. Und ich hätte auf diesen Roman auch gesetzt – und hätte die Wette mit Pauken und Trompeten verloren. Merkwürdig…
jancak
10. Oktober 2016 at 13:29Mir hat das Buch auch sehr gut gefallen und ich würde es inzwischen als mein fünftes auf meine persönliche Shortlist tun und neben oder vielleicht sogar vor das „Pfingstwunder“ https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/09/23/das-pfingstwunder/reihen, denn es ist eigentlich das sozialkritische Buch, das uns viel von unserer Gesellschaft erzählt und eine umgekehrte Rückkehr nach Deutschland schildert. Ein Ankommen, wohin man eigentlich nicht will und wahrscheinlich auch nicht sehr willkommen ist!
https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/10/10/drehtuer/
Drehtür | Literaturgefluester
10. Oktober 2016 at 23:17[…] aus und die kann eine, wenn man so darüber nachdenkt, eigentlich umhauen, so daß ich, wie einige andere auch nicht verstehen kann, wieso das Buch nicht auf die Shortlist kam, auf meiner wäre es und es ist […]
Peter
1. Mai 2017 at 19:37Finde ich ebenfalls ein sehr spannendes Buch! Die Erzählweise hat es mir angetan und die Autorin schafft es sehr viel über nebensächlich erscheinende Details zu transportieren.