***** hervorragend **** sehenswert *** Licht und Schatten
** nur bedingtes Vergnügen * überflüssig
Wer ist wir? ***
Installativer Rundgang mit Beiträgen von Max Czollek, Cana Bilir-Meier, Thomas Perle, Atif Mohammed Nour Hussein, Branko Janack u.a.
Dramaturgie, Produktionsleitung und Künstlerische Leitung: Fabian Schmidtlein, Greta Calinescu
Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)
Premiere: 10. Juni 2022 (Kongresshalle)
Besuchter Rundgang: 23.6.2022 (19.30 Uhr)
Die Kongresshalle auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände ist seit langem eine Ansammlung von Steinen des Anstoßes, ein dankbares Objekt für den Streit über die richtiger Erinnerungskultur. Teile des kolossalen Gebäudes werden kulturell genutzt: von den Nürnberger Symphonikern und zeitweise als Ausweichquartier des Nürnberger Sprechtheaters. 2009 inszenierte Kathrin Mädler Peter Weiss‘ Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“ als bedrückenden Rundgang durch die Backstein-Flure der Kongresshalle. 2022 wird nun ein „installativer Rundgang“ in Bereichen der Außenfassade angeboten: „Wer ist wir?“ soll als eine Mischung aus Audio-Spaziergang und Stationen-Drama die Probleme zivilgesellschaftlichen Gedenkens thematisieren.
Fabian Schmidtlein und Greta Calinescu haben dazu verschiedene KünstlerInnen um Beiträge gebeten, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit der Aufgabenstellung auseinandersetzen. Kleine Besuchergruppen starten im 30-Minuten-Takt an der Südpforte des Volksfestplatzes, statt Drei im Weckla, Zuckerwatte und Achterbahn gibt es am Anfang ein anspruchsvolles Essay von Max Czollek unter dem Titel „Beunruhigungskultur“ auf die Ohren - nicht ganz leicht zu rezipieren, wenn nebenan leise der Dutzendteich plätschert und die Sonne vom Himmel sticht. Aussagen von Betroffenen des NSU-Terrors (eingelesen von Süheyla Ünlü) bilden dann eine halbschattige Standpauke und einen Sprung in die bundesdeutsche Aktualität. An der Außenwand der Kongresshalle warten Aydin Aydin und Thorsten Danner neben einer lebensgroßen Puppe im Rollstuhl, die der Berliner Atif Hussein geschaffen und mit einem Monolog versehen hat. Ziemlich sprunghaft und höchst assoziativ berichtet die Zausel-Figur von Beobachtungen am Rande des Monumental-Gebäudes. Die nächste (vierte) Station ist eine Art Ausstellung mit Video-Präsentation, die von Nachfahren der Gastarbeiter-Generation gestaltet wurde. Immerhin war die Kongresshalle eine lange genutzte Packstation der Versandfirma Quelle. Was das wiederum mit der bayerischen Revolution von 1918 und dem Unabhängigkeitskampf in Pakistan zu tun hat, muss der Zuschauer selbst erschließen. Süheyla Ünlü und Anette Büschelberger laden danach vermeintlich zu einem Glas Schampus ein, predigen aber mit Texten von Hannah Arendt und Eike Geisel eher hart gekalktes Wasser - noch dazu in einer schwer aufzureißenden Alu-Folie. Die knapp zweistündige Runde endet mit einem Wiesen-Picknick, bei dem eine migrantisch strukturierte Gruppe der Nürnberger Stadtgesellschaft - instruiert von Theaterpädagogin Anja Sparberg - unterschiedlich spannende Ich-Botschaften aufsagt, immerhin mit wuchtigem Postkarten-Blick auf die Kongresshalle.
Das Ganze ist ein manchmal mühsamer Walk of german life für gutwillige Kultur-Touristen, die auch Ratlosigkeit noch als verstörende Anregung empfinden. Kathrin Mädlers Ermittlung hatte da vor etwa 13 Jahren eine ganz andere Sprengkraft. Mittlerweile wurden schon mehrere Rundgänge aus „dispositionellen Gründen“ abgesagt - zu wenig Nachfrage?
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/wer-ist-wir-ua/09-07-2022/1730
Der unsichtbare Reaktor (UA) ****
Projekt von Nis-Momme Stockmann und Jan-Christoph Gockel
Regie: Jan-Christoph Gockel
Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)
Premiere am 21.5.2022
„Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen“ formulierte Matthias Claudius empfindsam und treffend. Postmodern weitergedacht heißt das dann bei dem Schriftsteller Nis-Momme Stockmann (geboren 1981): wenn mich das Goethe-Institut nach Japan einlädt, dann kann ich daraus ein theatralisches Reiseprojekt mit politischem Hintergrund machen. Es war 2012, ein Jahr nach dem katastrophalen atomaren GAU in Fukushima, als Stockmann sich entschied, in dieser Region mit Notizblock, Fotoapparat und Videokamera zu recherchieren. Es entstanden Interviews mit dort lebenden Menschen, Nachfragen bei Fachleuten und viele Bilder einer zerstörten und verstrahlten Landschaft. 2016 fuhr er noch einmal dorthin, die Sammlung von Notizzetteln und audiovisuellen Dateien schwoll an. 2021 hätte dann die nächste Reise mit einer Gruppe von Schauspielern stattfinden sollen, weil „wahr ist es nur, wenn man da war“.
Doch die Pandemie verhinderte diesen Schlussteil des Projekts, und Stockmann kam auf eine einerseits abwegige, andererseits geniale Idee: er mietete sich den Japaner Yuichi Ishi als Stellvertreter. Ishi war Eingeweihten durch „Family Romance LLC“ (2019), den Film von Werner Herzog bekannt, in dem der deutsche Regisseur das skurrile Geschäftsmodell des Japaners dokumentierte. Bei der Firma „Family Romance“ kann man Stellvertreter für alle Lebenslagen buchen.
Damit war nach zehnjähriger Projekt-Arbeit der Weg frei für die Uraufführung des Stückes am Staatstheater Nürnberg in der Regie von Jan Christoph Gockel, der zuletzt „Wer immer hofft, stirbt singend“, eine vogelwilde Zirkusshow nach Motiven Alexander Kluge an den Münchner Kammerspielen inszeniert hatte.
Wer jetzt freilich ein nüchternes politisches Doku-Drama über den Reaktor-Unfall und seine Folgen erwartet, wird enttäuscht. Dem reisenden Schriftsteller Stockmann geht es vielmehr um eine Selbstreflexion seiner eigenen Rolle als Katastrophen-Tourist und um einen oft sehr emotionalen Drahtseilakt zwischen Wirklichkeit und emotionaler Träumerei. Dazu bringt er sich selbst als fünfmal gespaltene Persönlichkeit auf die Bühne, viermal in Gestalt der Schauspieler Julia Bartholome, Llewellyn Reichmann, Moritz Grove und Raphael Rubino, einmal durch seinen medial vermittelten Stellvertreter Ishi. Mit Kostümen in Holzfäller-Karos, Brillen und Plastik-Perücken illustrieren sie die inneren Monologe des Autors im Stile eines „Making Of“: Wie soll ich anfangen? Ist das Thema nicht schon längst vom Tisch? Je näher man einer Sache kommt, desto unschärfer wird sie! Teilweise fürchtet man, das gewagte multimediale Projekt könnte sich in einer Art „Lost In Translation“ verlieren: „Sag was, damit es weitergeht!“, „Ich bin ratlos“, „An dieser Sache bin ich gescheitert“.
Doch am Ende ist es ein Fundstück am Strand von Fukushima, eine auf einer Schutthalde liegende Tee-Tasse, die als geisterhaftes Sinnbild des ausgelöschten Lebens in den Vordergrund rückt. Oder ist es doch nur ein banaler Glühwein-Becher vom Nürnberger Christkindlesmarkt? Die Wahrheit ist fragil!
Regisseur Gockel hat zusammen mit Julia Kurzweg (Bühne und Kostüme) die schräge Stockmannsche Zettelwirtschaft geradezu poetisch in Szene gesetzt. Mit einer verstörenden Dialektik aus schwülstigem Barock-Dekor und moderner Video-Technik wird die Doppeldeutigkeit des Stückes unterstrichen. Auf der großen Leinwand sieht man die Video-Passagen aus Fukushima, auf der Bühne tanzen die Akteure mit fluoreszierenden Umhängen im Schwarzlicht. Zahnräder aus den Anfängen der Industriellen Revolution befördern ein Stockmann-Alter-Ego mit einem Wolken-Ballon wie Deus ex machina aus dem Schnürboden, putzige Tsunami-Wellen schieben sich als Laubsäge-Arbeiten über die Bühne, dazu mutiert als Soundkulisse der Song „La mer“ zu einem pumpenden Techno-Beat.
Warum in Deutschland am 30. Juni 2011 der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen wurde, warum in Frankreich - und auch in Japan! - unverbrüchlich an der Atomenergie festgehalten wird, das kann und will uns dieses Theaterstück, das sich ganz demütig „Projekt“ nennt, nicht erklären. Wie wir aber mit der Realität von (unsichtbaren) Katastrophen umgehen können, ohne in eine resignative Paranoia zu verfallen, das haben Stockmann und Gockel kongenial ausgebrütet.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/der-unsichtbare-reaktor-ua/31-05-2022/1930
Schtonk! ****
nach dem Film von Helmut Dietl und Ulrich Limmer / Bühnenbearbeitung: Marcus Grube
Regie: Christian Brey
Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)
Premiere am 7.5.2022
Er ist wieder da! Der Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher, der 1983 die Glaubwürdigkeit der Wochenzeitung „Stern“ erschütterte, ereignete sich zu einer Zeit als der Begriff Fake News gänzlich unbekannt war, als gelbe Telefonzellen zur Kommunikation genutzt wurden und als der SPIEGEL-Journalist Claas Relotius noch in den Kindergarten ging. Für alle, die zur U-50-Generation gehören und das skurrile Geschehen nicht live mitverfolgt haben, hier die Fakten: der Reporter Gerd Heidemann vermittelte die von Konrad Kujau gefälschten Hitler-Tagebücher an die Illustrierte „Stern“, die dafür knapp 10 Millionen D-Mark springen ließ und den Fund als Weltsensation feierte, nach der „weite Teile der deutschen Geschichte … neu geschrieben werden“ müssen.
1992 machte Helmut Dietl, der weiß, dass die Medien-Realität oft die beste Satire ist, aus diesem Armutszeugnis der Sensationspresse einen viel beachteten Film mit Starbesetzung (Götz George, Uwe Ochsenknecht, Christiane Hörbiger, Harald Juhnke, Veronica Ferres u. v. a.); 2018 schrieb Marcus Grube für die Landesbühne Esslingen eine Theaterfassung, nun folgte auch das Staatstheater Nürnberg dem Textangebot.
Regisseur Christian Brey, in Nürnberg bereits erprobter Fachmann für leichtere Stoffe, musste allerdings eine Probenphase mit Pleiten, Pech und Pannen durchleben. Zuerst torpedierten zahlreiche Corona-Fälle im Ensemble die Zeitplanung und zwangen schließlich zu einer Verschiebung der Premiere um zwei Wochen. Gleichzeitig waren auch noch Personalrochaden notwendig, weil Maximilian Pulst (vorgesehen für die Hauptrolle des Hermann Willié) ans Wiener Burgtheater wechselt und weil Pauline Kästner (vorgesehen für die Rolle der Martha) sich nach Düsseldorf verabschiedete. So kam Justus Pfannkuch relativ spontan in den Genuss der Hauptrolle, die Rolle der Martha wurde kurzerhand ganz gestrichen.
Doch - oh Wunder - trotz all dieser Malaisen entstand ein bezaubernder Theaterabend, eine satirisch zugespitzte Komödie über Sensations-Journalismus und Nazi-Nostalgie, garniert mit punktgenauer Slapstick-Choreografie und stimmigem musikalischen Background. Anette Hachmann sorgt rund um die gut geschmierte Drehbühne für eine bewegliche Szenerie mit vier Handlungsorten: der Göring-Yacht „Carin II“, der chaotischen Fälscherwerkstatt von Fritz Knobel (Amadeus Köhli), einer mit bis zu vier Personen füllbaren Telefonzelle und dem Besprechungs-Büro der Zeitung. Deren Polstermöbeln ging zwar vernehmlich die Luft aus, was aber für die Inszenierung ganz und gar nicht zutraf. Christian Brey hält die 80er-Jahre-Show permanent am Laufen und schafft spannende Kontraste zwischen Jacketts mit Schulterpolstern und folkloristischen Trachtenjankern, zwischen Hitlers Blähungen und dem kommerzgesteuerten Opportunismus der Journalisten.
Justus Pfannkuch gibt dem Hermann Willié (nur echt mit einem Akzent auf dem letzten e!) die nötige Macho-Öligkeit und prinzipienlose Geldgierigkeit. Mit protziger Brusthaarperücke wirft er sich in Görings Oligarchen-Bademantel und becirct die adelige Nichte Freya von Hepp (Ulrike Arnold), die statt Reitpeitsche ein bisschen rhythmische Bandgymnastik demonstriert. Sehr schön auch Michael Hochstrasser (in seiner letzten Rolle vor der Rente!) als eitler Kunstprofessor Strasser (!), der jederzeit zu Gefälligkeits-Gutachten bereit ist. Genauso stilecht Thomas Nunner als Nazi-Devotionalien-Sammler Karl Lentz, an seiner Seite der krasse WK-2-Invalide, Obergruppenführer von Klantz (Thomas Esser). Gegen die späteren NSU-Terroristen wirken diese Retro-Chargen geradezu rührend. Artistisch beeindruckend der Stern-Verlagsleiter Dr. Wieland von Yascha Finn Nolting: immer bereit zu einer Rolle rückwärts in die Vergangenheit! Mit vielen kleinen Auftritten ein Meister der multipersonalen Rollenvielfalt und der Sprach-Variationen: Sascha Tuxhorn.
Thomas Esser produzierte zu dem bunten Treiben einen schmissigen Soundtrack, bei dem Freddy Quinns „Seemann, lass das Träumen“ zu einem Ballermann-Party-Hit mutiert.
Die Inszenierung beginnt mit dramatischen Feuer-Bildern vom Mai 1945 in Berlin, einer Audio-Sequenz aus Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“ und der Verbrennung des Leichnams von Adolf Hitler, sie endet mit wahnhaften Phantasien des Star-Reporters, der - wie Kate Winslet auf der Titanic - vom Bug der „Carin II“ in den Untergang blickt. Darf man nun über Hitler und seine nostalgischen Nachlass-Verwalter lachen? An diesem Abend muss man!
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/schtonk/13-05-2022/1930
Mein ziemlich seltsamer Freund Walter ****
von Sybille Berg
Regie: Marco Steeger
Stadttheater Fürth
Premiere am 24.4.2022 (Kulturforum Schlachthof)
Lisa ist ein junges Mädchen - im Originaltext knapp neun Jahre alt -, das sich am liebsten im kleinen Kinderzimmer aufhält, wo sie ein großes Kuschelkissen, einen selbstgebauten Computer und ein leistungsfähiges Teleskop um sich hat. Die Welt draußen, ihr „hundekackfarbiger“ Wohnblock ist dagegen eine ständige Bedrohung, weil die Eltern - alkoholisiert und arbeitslos - sich um nichts kümmern, weil auf dem Spielplatz nur prollige Jung-Rapper darauf warten, ihr ein „Opfer“-Plakat auf den Buckel zu kleben und weil sie in der Schule zur gemobbten Einzelgängerin und zum Feindbild ihrer Lehrerin geworden ist.
Lisa wirkt also ziemlich realistisch, ist zunächst aber die Hauptperson in einem Theaterstück für Kinder und Jugendliche, das Sibylle Berg 2014 im Auftrag der Kulturstiftung NRW geschrieben hat und im Consol-Theater Gelsenkirchen uraufgeführt wurde. „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“ gibt es nun auch in einer bemerkenswerten Produktion des Stadttheaters Fürth, ausgelagert in das Kulturforum Schlachthof.
Marco Steeger - fast zwanzig Jahre lang Ensemblemitglied des Staatstheaters Nürnberg und schon immer ein Freund des jungen und jung gebliebenen Theaters - hat die Inszenierung übernommen und eine dynamische, moderne, effektvolle, gleichzeitig aber stets nachdenkliche Bühnenfassung in 80 pausenlosen Minuten gezaubert.
Auf rohen Paletten stehen drei originell illuminierte Glaskäfige (Ausstattung: Linda Hofmann) als Symbole für Lisas Horror-Orte: das Schlafzimmer der Eltern („Wir waren mal eine glückliche Familie“), der Spielplatz („es gibt was auf die Fresse“) und das Schulzimmer („einfach nur langweilig“). Dieses Stationen-Drama durchläuft Lisa jeden Tag, vormittags hin, nachmittags zurück. Doch plötzlich wird ihr Traum Wahrheit: nicht ein deus ex machina bricht in die Szenerie, sondern ein UFO mit exterrestrischen Touristen! Den meisten ist es auf der Welt jedoch zu kalt und zu fremdenfeindlich, nur der 345 Jahre alte Klakalnamanazdt bleibt als sympathischer E.T. zurück.
Lisa nennt ihn zur Vereinfachung Walter, und er startet mit ihr ein Überlebenstraining: sie lernt, wie man sich mit Kung Fu wehrt, wie man die kapitalistische Ökonomie hinterfragt und wie man Lebensqualität definiert. Am Ende steht eine für die Autorin Sibylle Berg fast überraschend positive Mutmach-Botschaft: Aufstehen! Wieder Gehen lernen! Du schaffst es jetzt auch alleine da unten!
Mit Spielfreude und Präzision hält das vierköpfige Ensemble die Geschichte am Laufen. Hannah Candolini ist eine zunehmend selbstbewusste Lisa, Sunna Hettinger und Frederick Redavid switchen temporeich zwischen der Erzählerrolle und der Darstellung von Eltern, Jung-Gangstern und Lehrerin. Mark Harvey Mühlemann stolpert mit einem Hut aus Gummihandschuhen und farbigem Eingeborenen-Kostüm als externer Evaluator durch den grauen Erd-Alltag. Poetry-Slam-Passagen, packende Video-Sequenzen und eine stimmige Hintergrundmusik runden die Fürther Berg-Expedition ab. Langer Beifall beim Premierenpublikum aus allen Altersgruppen.
Amphitryon ***
Lustspiel von Heinrich von Kleist
Regie: Anne Lenk
Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)
Premiere am 26.3.2022
Ach, Alkmene, was hast du dir nur dabei gedacht, als du - unwissend und hinterlistig getäuscht - mit dem Präsidenten des thebanischen Fußballverbands ins Bett gestiegen bist, während dein Mann, der berühmte Mittelstürmer Amphitryon, beim alles entscheidenden Endspiel der Weltmeisterschaft in Pharissa weilte, wo er mit drei Toren zum glänzenden Sieg beitrug? Hast du oberflächliche Spielerfrau nicht bemerkt, dass dir mit dem wertvollen Siegerpokal (im Original war es mal ein goldenes Diadem) ein X für ein U - oder besser: ein A für ein J - vorgemacht wurde?
Für die „Amphitryon“-Inszenierung im Nürnberger Staatstheater hat sich Anne Lenk, die 2020 und 2021 mit zwei Produktionen des Deutschen Theaters Berlin zum Berliner Theatertreffen geladen war, die Welt des Profi-Fußballs als (gewagte) Metapher einfallen lassen. Nun gut, auch da gibt es Fußball-Götter, die Dialektik von Schein und Sein spielt eine wesentliche Rolle und protziges Macho-Gehabe gehört zum Rollenmuster. Und wie sagte schon der legendäre schottische Fußballspieler Bill Shankly: „Einige Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!"
Wenn es jedoch um die tragischen Aspekte dieses Lustspiels von Heinrich von Kleist geht, dann entspricht die Fallhöhe der weiblichen Hauptperson gerade mal den zehn Zentimetern ihrer goldenen Plateauschuhe. Denn diese Alkmene (Anna Klimovitskaya) erscheint im Dallas-Look der 1980er Jahre mit Blondie-Perücke, erst im altrosafarbenen Chiffon-Mini, dann im langen Kleid mit Push-Up-BH (Kostüme: Sibylle Wallum), sie vermittelt etwas Objekthaftes und ist den Übergriffen des Jupiters schutzlos ausgeliefert. Erst als sie ahnt, dass mit ihr ein perfides Doppelspiel getrieben wird, als die Ungewissheiten der Wahrnehmung und auch bezüglich der eigenen Identität einsetzen, gewinnt sie an Profil und an weiblichem Me-Too-Selbstbewusstsein.
Ihr gegenüber stehen zwei Männer - ebenfalls mit blonder Perücke: der Ehemann Amphitryon (Sascha Tuxhorn) und der Göttervater Jupiter (Tjark Bernau), der auch als entrückter Olympier geliebt werden und als aus den Sternen herniedersteigender Liebhaber seine Lust-Befriedigung haben will. Es macht ihm offensichtlich eine teuflische Freude, die Irdischen in völlige Verzweiflung über sich selbst und über ihre Beziehungen untereinander zu versetzen. Beiden Herren mangelt es ziemlich an Attraktivität in ihren graukarierten Sporthemden mit der Rückennummer 10, den kurzen Feinripp-Unterhosen und den weißen Sportsocken, aber wer mit Bällen spielen kann, hat bei Frauen offensichtlich die besten Chancen. Für den echten Amphitryon entwickelt sich schnell eine bei Fußballern eher selten anzutreffende Identitätskrise, frei nach dem Buchtitel von Richard David Precht „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Ähnliches gilt für den Öffentlichkeits-Referenten Sosias (Janning Kahnert), der aber in utilitaristischer Diener-Mentalität gerne seinen Namen an den Gott Merkur (Yascha Finn Nolting) abgibt. Das kann auch die Beziehung zur handfesten Charis (Lea Sophie Salfeld) nicht dauerhaft beschädigen.
Die Produktion war in Nürnberg schon seit zwei Jahren in Arbeit, nun hat man mit großen Pandemie-Pausen den Weg zur Premiere gefunden. Die Bühne von Judith Oswald mit vielfältig beweglichen Kassettenwänden, die sich auch trefflich als Video-Projektionsflächen eignen, erzeugt manchmal unruhigen Drehschwindel, wohl passend zu der Fake-Strategie der Götter. Das Dramaturgie-Konzept, an dem neben der Regisseurin auch Gastdramaturgin Andrea Vilter mitgestrickt hat, macht teilweise Spaß, doch es knirscht auch ein bisschen, wenn sich Blankverse mit Doppelpass und Viererkette vermischen sollen. Rhetorik-Professor Walter Jens, der für sich zu Lebzeiten die Gleichzeitigkeit von Hochkultur und Fußball-Leidenschaft eingeräumt hat, hätte an dem verwirrenden Treiben womöglich seine Freude gehabt. Endstand: ein leistungsgerechtes Unentschieden für Anne Lenk und ihr spielfreudiges Ensemble. Freundlicher Beifall des Publikums auf den Sitzplätzen, die Ultras von den Stehrängen waren noch nicht zugelassen.
Für Alkmene, der am Ende - ganz streng in Schwarz gekleidet - das berühmte Schlusswort („Ach!“) übrigbleibt, ist die Rolle als Leihmutter ein fragwürdiger Trost. Immerhin darf sich die thebanische Nationalmannschaft in ca. 18 Jahren auf einen neuen galaktischen Superstar namens Herkules freuen.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/amphitryon/01-04-2022/1930
Erich Kästner: Ein Mann im Schnee ****
Regie: Martin Mühleis
mit: Walter Sittler
Stadttheater Fürth (28.1.2022)
Eigentlich sind es vier Männer, die für die Bühnen-Produktion „Ein Mann im Schnee“ verantwortlich zeichnen. Zuerst natürlich Erich Kästner (1899 - 1974) selbst, dessen Texte zum Thema Weihnachten und Winter die Basis für eine Mischung aus Schauspiel, Lesung und Musik bilden. Dann der Autor Martin Mühleis, der nun schon zum dritten Mal als Text-Koordinator und Regisseur einen Erich-Kästner-Abend gestaltet hat. Sympathischer Frontmann auf der Bühne ist der bekannte Schauspieler Walter Sittler als freier Sprecher und lesender Rezitator am Holztisch. Den stimmigen musikalischen Hintergrund besorgt Komponist Libor Ŝima, der für die sechsköpfige Band „Die Sextanten“ (mit Bandleader Uwe Zaiser am Saxophon und Lisa Barry - als einziger Frau - an der Violine!) weihnachtliche Melodien in ein leicht swing-jazziges Arrangement verpackt hat.
Schon vor einem Jahr hätte dieses mal heitere, mal nachdenkliche Schnee-Treiben mit Video-Background (Illustrationen: Mario Lars) im Fürther Stadttheater gastieren sollen, nun hat es bei immerhin 50-prozentiger Auslastung der Zuschauerplätze im grauen Omikron-Januar 2022 geklappt.
Im ersten Teil steht TV-Serien-Star Walter Sittler als Kästner mit Knickerbocker und Karostrümpfen auf der Bühne und erzählt von den turbulenten 1920er Jahren, wo es sich die Familie Thaler wegen der Arbeitslosigkeit des Vaters nicht leisten kann, ihrem Sohn Martin die Bahnkarte für die Heimfahrt aus dem Internat an Weihnachten zu bezahlen (aus: „Das fliegende Klassenzimmer“). Im kalten Berliner Dezember 1928 singt die Arbeiterklasse unterm Weihnachtsbaum: „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben! / Nur wer hat, kriegt noch geschenkt. / Mutter schenkte euch das Leben. / Das genügt, wenn man’s bedenkt.“ Andererseits beleuchtet er satirisch das mondäne Treiben in Wintersportorten, wo sich Besserverdiener - wie auch der Autor Kästner! - mit der Drahtseilbahn auf sonnenbeschienene Gipfel transportieren lassen und bei Skilehrer Toni Privatkurse nehmen (aus: „Drei Männer im Schnee“).
Der zweite Teil versammelt Kästner-Texte über den Nachkriegs-Winter 1945, wo nun der 46jährige (lebenslang unverheiratete und damals auch noch kinderlose) Erich nicht zu seiner geliebten Mutter nach Dresden fahren kann und sich stattdessen an die Reichskristallnacht im November 1938 erinnert, die bei ihm mahnende Worte über die Umwertung aller Werte, über den Triumph des Inhumanen in der Zeit des Nationalsozialismus auslösen. Der eilige Nikolaus und der Hausierer in der Vorweihnachtszeit sind leider Trickbetrüger, und in der Silvesternacht blickt Sittler-Kästner bei 12 Grad unter Null vom Balkon auf die Ruinen von München und skandiert: „Lasst das programmen! / Und bessert euch drauflos!“.
Man wünschte heutigen Debatten manchmal etwas mehr vom Mut und von der Klugheit eines Erich Kästner, sein bekanntes Gedicht, das den Abend beschließt, sollte auf Neujahrs-Grußkarten gedruckt werden: „Wird's besser? Wird's schlimmer? / fragt man alljährlich. / Aber seien wir ehrlich, / Leben ist immer / lebensgefährlich.“ Lang anhaltender Beifall für Sittler & die Sextanten.
Was ihr wollt ***
von William Shakespeare
Regie: Rafael Sanchez
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 21. Januar 2022
Ach, Illyrien, du fernes Fantasialand für Gestrandete, für Liebessucher und Selbstdarsteller - wo bist du nur zu finden? Nach der „Was ihr wollt“-Inszenierung von Rafael Sanchez im Nürnberger Staatstheater kommt die geografische Frage einer Lösung etwas näher: die Insel muss irgendwo zwischen Ballermann, Ibiza und Tauris liegen. Dort treffen Paare und Passanten mit offenen Zweier-Beziehungen und offenen Rechnungen aufeinander, man feiert am Strand zügellose Partys, geht seinen diversen erotischen Neigungen nach und lebt nach der Methode „Alles ist verkleidet, nichts ist, wie es scheint“.
Die Bühne - konstruiert von Eva-Maria Bauer - zeigt sich in einer Raunacht im nasskalten deutschen Januar als wärmende Sandstrand-Idylle mit Fernweh-Garantie; Liegestühle, Sonnenschirme, Wasserbälle, Schwimmreifen und eine Kiste Corona-Dosenbier liegen bereit. Der Hintergrund ist eine große Videowand, die abwechselnd mit Meereswellen, quietschbunten Kreisen oder einem Aquariums-Bildschirmschoner mit Seepferdchen bespielt wird. Drohend formt sich in der Mitte ein schwarzes Loch, durch das am Anfang die schiffbrüchigen Zwillinge Viola (Süheyla Ünlü) und Sebastian (Justus Pfannkuch) an Land gespült werden.
Mit ihrer Männer-Verkleidung und einem hautfarbenen Brusthaar-T-Shirt bringt Viola ein Karussell der Irrungen und Wirrungen in Bewegung, in das die ganze Insel-Gesellschaft involviert ist. Als vermeintlicher Knabe Cesario erledigt sie Botengänge für den unglücklich liebenden Herzog Orsino zu dessen Angebeteter Gräfin Olivia, wird aber bald selbst zum Objekt der Begierde für die Gräfin. Und erst die Ankunft ihres verschollen geglaubten Zwillingsbruders Sebastian löst die Verwicklungen.
Man fühlt sich an einen Film von Paolo Sorrentino aus dem Jahre 2011 erinnert („La Grande Bellezza“), eine melancholisch-träumerische, hypnotisch-verführerische Kino-Geschichte über Exzess, Dekadenz und eitles Geschwätz, in der die italienische Promi-Gesellschaft von Silvio Berlusconi bis Flavio Briatore demaskiert wird. Beim Nürnberger Shakespeare gehören Hawaiihemden, Bermudahosen und Goldkettchen zum unverzichtbaren Inventar, man tanzt wie im Club Méditerranée den Bonga Cha-Cha-Cha als trunkene Polonaise oder singt mit dem Schmelz von Rolando Villazon „Unbreak My Heart“ oder „O Sole Mio“.
Gräfin Olivia (Stephanie Leue) torkelt als schrille „Lady In Black“ zwischen den blauweißen Polstern, Sir Toby (Felix Mühlen) und Sir Andrew (Pius Maria Cüppers) geben sich als dümmliche Malle-Proleten die Kante, und Dienstmädchen Maria (Pauline Kästner) schwelgt in sadistischen Phantasien: „Dreams Are My Reality“. Die Närrin (Adeline Schebesch) sondert weise Sprüche ab, die keiner hören will, und verkleidet sich gerne auch mal in einen scheinheiligen Geistlichen. Den skurrilen Kostüm-Höhepunkt (Ursula Leuenberger) bietet der gehörnte Hausmeister Malvolio (Nicolas Frederic Djuren), der sich im schwarzen Borat-Tanga (natürlich auch mit gelben Kniestrümpfen) der Gräfin nähert, dann aber - dank Videoprojektion - in Dunkelhaft versetzt wird. Von der beflissenen bayerischen (!) Polizei wird er mit Elektro-Schockern getriezt und angekettet dem Grafen Orsino (Amadeus Köhli) vorgeführt.
Man sieht also, dass Regisseur Raphael Sanchez der eigentlich unkaputtbaren Shakespeare-Komödie, die sich aus Verwechslungen und falschen Brief-Botschaften speist, ordentlich Zucker in den Hintern geblasen hat, dabei aber manchmal übers Ziel hinausgeschossen ist. Schrille Dialoge, hektische Musikeinspielungen, laute Revolverschüsse, nonverbaler Catch as catch can, ein bisschen Überdosis an Faschingstreiben - da macht sich im Corona-bedingt nur zu 25 Prozent besetzten Zuschauerraum manchmal ein lähmendes Gefühl breit: ist das nicht viel Lärm um nichts?
Die Inszenierung findet zum Glück aber noch einen höchst originellen und versöhnlichen Abschluss: fernab vom Originaltext startet Olivia einen grandiosen Monolog, in dem sie das ganze Bühnen-Personal sprachmächtig abkanzelt und damit in einer theatralischen Meta-Ebene die tragischen Abgründe aller Personen herausarbeitet. Danach flimmert an der Videowand noch ein selbstgemachtes Live-Musik-Video, in dem das ganze Ensemble in der Proben-Werkstatt beobachtet wird. So kann ein Happy End für den aufgeklärten Theaterbesucher auch aussehen.
PS: Ob Shakespeares berühmte Amüsier-Droge auch Nebenwirkungen hat, erklärt „Thomas Gottschalk“ in einem genderpolitisch korrekten Video-Statement!
Mein Kampf ****
von George Tabori
Regie: Ute Weiherer
Fürther Bagaasch-Ensemblebühne
Premiere im Kulturforum Schlachthof Fürth am 10.12.2021
Darf man über Hitler Witze machen? Charlie Chaplin (Regisseur und Hauptdarsteller des Films „Der große Diktator“), Edgar Hilsenrath und Timur Vernes (Verfasser der Romane „Der Nazi & der Friseur“ und „Er ist wieder da“) würden diese Frage eindeutig mit „Ja“ beantworten. Der ansonsten unbekannte Filmstudent Florian Wittmann hat mit seiner Neusynchronisation einer Hitler-Rede durch den Sketch „Leasing-Vertrag“ von Gerhard Polt einen veritablen YouTube-Hit gelandet. Und auch George Tabori hat 1986 entschieden, dass für die Auseinandersetzung mit der Unperson des 20. Jahrhunderts eher eine Farce geeignet ist. So entstand „Mein Kampf“ und erlebte 1987 die Uraufführung unter der Regie von Tabori am Wiener Burgtheater.
Beeinträchtigt von denkbar ungünstigen Rahmenbedingungen hat nun die Fürther Bagaasch-Ensemblebühne ihre Version dieses Stückes verwirklicht. Eigentlich sollte die Premiere schon vor ziemlich genau einem Jahr stattgefunden haben; die Pandemie hat dies verhindert. Dann starb Regisseurin Ute Weiherer am 1. Mai dieses Jahres, so wurde der neuerliche Premierentermin im Kulturforum Schlachthof zu einem posthumen Vermächtnis, belastet durch schmerzliche Corona-Auflagen. Umso mehr muss man der ambitionierten Produktion Beifall zollen und ihr mehr Zuschauer für die folgenden Aufführungen wünschen.
Taboris Stück ist ein hintersinniger, dialektisch angehauchter und teilweise provokanter arisch-jüdischer Dialog zwischen dem jungen Kunststudenten in spe, Adolf Hitler, und dem verarmten jüdischen Antiquar Shlomo Herzl, die beide um 1910 in einem Wiener Männer-Obdachlosenheim Aufnahme gefunden haben.
Karsten Kunde spielt den Hitler als grelle Karikatur mit blau-weißem Ringel-T-Shirt, Lederkniehose und Nazi-Undercut. Er leidet nicht nur unter geistigen Blähungen, liebt es, die Schlachthof-Säulen zu umarmen, träumt mit beleuchtetem Globus von Weltherrschaft und von Untertanen, die auf Gummibärchen-Niveau geschrumpft sind. Schon bei Brechts „Arturo Ui“ ahnte man: er ist ein mieser Schauspieler, er sollte in die Politik gehen!
Mit ihm zusammenwohnen muss Shlomo Herzl, den Uwe Weiherer als eine Mischung aus weisem Nathan und Woody Allen, aus analytischem Sigmund Freud und traurigem Clown verkörpert. Ganz utilitaristisch denkt er, man solle seine Feinde lieben wie sich selbst und fürs Geschäft auch mal eine Ausgabe des Neuen Testaments verkaufen. Bei seinem eigenen Roman, der den Arbeitstitel „Mein Kampf“ trägt, ist er über den Schlusssatz noch nicht hinausgekommen.
Zwei weitere aus der deutschsprachigen Literaturgeschichte wohlbekannte Figuren verkörpert Rike Frohberger (die Tochter von Ute und Uwe Weiherer). Einmal ist sie Gretchen, hier in der nympho-germanischen Lolita-Version, die nach einem Quickie mit Hitler bekennt: „Mir graut vor dir!“ Zum anderen ist sie der schwarz gekleidete Tod, der in Hitler einen begabten Würgeengel und Meister aus Deutschland erkennt.
Frank Strobelt vervollständigt das präzise Ensemble-Quartett als besserwisserischer Koch Lobkowitz und als blutrünstiger Heinrich Himmlisch, der mit dem Hackebeil ein Huhn schlachtet und auf dem Gas-Grill (?) zubereitet. Merke: Wer Vögel verbrennt, wird auch Menschen verbrennen!
Die Premierenbesucher haben natürlich nicht lauthals gelacht, beklatschten aber ein facettenreiches Täter-Opfer-Spiel, untermalt von Wiener-Walzer-Träumereien, drei abgenutzten Nachtlagern und nachdenklichen Monologen.
Anfang und Ende des Anthropozäns (UA) ****
von Philipp Löhle
Regie: Jens-Daniel Herzog
Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)
Premiere am 19.11.2021
Das Anthropozän ist ein Zeitalter, in dem der Mensch das Schicksal des Planeten Erde maßgeblich bestimmt. Der Auftakt dieser Epoche wird von Wissenschaftlern unterschiedlich definiert: ist es der Beginn des 17. Jahrhunderts mit der systematischen Kolonisierung Amerikas, ist es der Beginn des 19. Jahrhunderts mit der industriellen Revolution oder ist es die Mitte des 20. Jahrhunderts mit der militärischen Nutzung der Atomkraft? Gleichzeitig wird in Zeiten des vom Menschen verursachten Klimawandels auch schon über das Ende dieser Epoche spekuliert.
Philipp Löhle ist kein Experte für Geochronologie, aber ein aufmerksamer Beobachter aktueller Diskussionen und gleichzeitig einer der originellsten deutschsprachigen Stückeschreiber; jemand, der es schafft, aus einem Stück verpacktem Tofu ein leckeres Dreigang-Gourmet-Menü zu zaubern, jemand, der es kann, eine zunächst sehr theoretisch erscheinende Thematik in eine lebendige Theater-Erzählung umzusetzen.
Als Hausautor des Staatstheaters Nürnberg (seit 2018) hat er dieses Stück verfasst, das nun in der Regie von Intendant Jens-Daniel Herzog seine deutsche Uraufführung erfährt. Im Widerspruch zum Titel hat der Text eigentlich keinen richtigen Anfang und kein richtiges Ende, sondern wirkt wie eine russische Matrjoschka-Puppe, die man dreimal aufdecken kann, um dann wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Drei Erzählebenen und drei Zeitebenen können geöffnet werden, und alle haben eine innere Verknüpfung und ein gemeinsames Leitthema: es geht jeweils um eine kleine Gruppe von Menschen, die nach einem privaten oder gesellschaftlichen Ausweg suchen.
In der vollautomatisierten Zukunftsebene, die an Motive der Dystopien „1984“ oder „Fahrenheit 451“ erinnert, werden ein Mann und eine Frau - sie heißen Nummer 27 und Nummer 42 - in einer Art Zeugungslabor interniert, damit sie im Rahmen des World Stupidity Programs („Wir werden immer dümmer“) intelligenten Nachwuchs produzieren sollen. 27 und 42 zeichnen sich nämlich durch Lesekompetenz (von Kochbüchern!) und halbwegs intelligente Denkfähigkeit aus.
Auf der Flucht aus dieser Zeugungs-Diktatur erinnert sich Nummer 42 an ihren US-amerikanischen Onkel John, der nach einigen Schicksalsschlägen das kulturell abgeschlossene Urvolk der Sentinelesen aufsuchen wollte, weil er dort vielleicht ohne falsche Sprache und ohne falsche Begriffe weiterleben könnte. Die „Kannibalen“ halten aber nichts von Fremden, schießen Pfeile auf ihn ab und stecken ihn einen heißen Kochtopf, der auf der Bühne allerdings mehr wie ein Whirlpool in einem Wellness-Hotel ausschaut.
Auf der dritten Ebene erleben wir Svantje Plunder und ihren Freund Taivo Tamm, die Johns Sohn überfahren und Fahrerflucht begangen haben. Im Auftrag der UN („World Safety Program“) konzipieren sie eine Methode, um den Atommüll im Weltall zu entsorgen und damit die Welt wenigstens von einem Risiko zu befreien. Die clevere Idee endet jedoch in einer Katastrophe: es regnet Farbe und der weltweite GAU wirkt wie ein apokalyptisches Kunstwerk. Die Menschheit lebt trotzdem irgendwie weiter, nur Mastermind Taivo wird später von einem Windrad-Rotor erschlagen und Svantje trauert um ihn an der Unfallstelle.
Löhles Schlau-Stück erfordert viel assoziatives Mitdenken, entschädigt aber durch punktgenaue satirische Dialoge und grelle Situationskomik. Die Nürnberger Premiere war wirklich ein Freitagabend for future, eine unterhaltsame Denkwerkstatt, ein subtiler Druck auf den Alarmknopf und eine satte Portion zupackendes Gegenwartstheater mit vielen Fragezeichen.
Mitschuld an diesem Erfolg ist das sechsköpfige Ensemble in 17 Rollen, allen voran die zierlich-hysterische Pauline Kästner und der tapsig-grobschlächtige Felix Mühlen. Intendant Jens-Daniel Herzog beweist in seiner ersten Regiearbeit für das Sprechtheater einen guten Blick für richtiges Timing, für funktionale Bühnenkonstruktion (Mathis Neidhart) und eindrucksvolle Videosequenzen (Karolin Killing). Die Befürchtung, dass der Mensch - im Gegensatz zu den Tieren - dumm ist und immer dümmer wird, trifft zumindest auf diese Produktion nicht zu.
Wolken.Heim. / Rechnitz (Der Würgeengel) /
Das schweigende Mädchen ****
von Elfriede Jelinek
Regie: Jan Philipp Gloger
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 22.10.2021
Das ist das Haus Deutschland mit Blick auf die letzten 200 Jahre: im Keller lagern trotz sauberer Verputzarbeiten ein paar streng riechende Leichen, im Erdgeschoß befindet sich viel problematischer Restmüll und im Dach huldigen ein paar Dichter und Denker wolkigen deutschnationalen Idealen. Das ist auch die gleichzeitig geniale und diskussionswürdige Inszenierungs-Konzeption, mit der Jan Philipp Gloger drei Theatertexte von Elfriede Jelinek zusammenspannt und einen sehenswerten Beitrag zum bundesweiten Theaterprojekt „Kein! Schlussstrich“ abliefert.
„Wolken.Heim.“, eine Zitatencollage aus idealistischer Philosophie (Fichte bis Heidegger) und deutschsprachiger Dichtung (Hölderlin bis Kleist), entstand schon 1988 und bildet den kurzweiligen Prolog des Theaterabends. Das achtköpfige Ensemble entert in Alltagskleidung, mit Germanen-Rüstung, Loreley-Perücke und Heidegger-Tracht die Bühne und sucht sich Sprechplätze auf der schiefen Ebene des Daches. Die ideologiekritische Botschaft lautet: Wer von „Heimat“ und „Wir“-Gefühl fabuliert, decouvriert - wie in Max Frischs „Andorra“ - immer das Andere und bereitet den Boden für nationalistische und rassistische Identitätspolitik.
„Rechnitz (Der Würgeengel)“, mit dem die Nobelpreisträgerin schon 2009 den Mühlheimer Dramatikerpreis gewann, ist ein Boten- oder Kellnerbericht über ein Massaker an etwa 180 jüdischen Zwangsarbeitern, das Ende März 1945 in dem kleinen burgenländischen Ort Rechnitz anlässlich einer Feier im Schloss der Gräfin von Batthyany stattfand. Vor der Bühnen-Feuerschutzwand herrscht ein reges Treiben der Kellnerschar, die aber über das Geschehen eher schweigen als reden - ganz wie die Dorfbewohner nach 1945. Die Gräfin konnte unbehelligt in die Schweiz ausreisen, wo sie sich - blendend weiß gewaschen - in eine Art Wellness-Oase mit der Aufschrift „RUHE“ zurückzieht. Wer der Wut über solche Vorgänge nachspüren will, sollte einmal zum Vergleich Miroslav Krlezas Roman „Ohne mich“ (1938) nachlesen.
Der dritte Teil - uraufgeführt 2014 an den Kammerspielen München - springt in die unmittelbare Gegenwart des NSU-Terrors, wo 2013 die prozessuale Aufarbeitung der zehn Morde begann, wo die noch lebende Angeklagte Beate Zschäpe als „schweigendes Mädchen“ agierte und 2018 die Urteile gefällt wurde. Vor den verbrannten Resten der konspirativen Wohnung in Zwickau wagt die Inszenierung einen Drahtseilakt zwischen schrägem Klamauk und kritischer Betroffenheit. Ob die Transformation des Münchner Oberlandesgerichts in ein schrulliges Königlich Bayerisches Amtsgericht (mit dem Richter Amadeus Köhli) dem Thema dient, muss jeder für sich entscheiden. Die Gespräche der Tatort-Reiniger und der skurrile Dialog der beiden Katzen von Frau Zschäpe darf als Belebung von Jelineks ansonsten sehr voluminösen Textflächen vermerkt werden. Viel überzeugender ist da die TV-Show mit Moderatorin Lisa Mies, in der die die Fehleinschätzungen von Strafverfolgungsbehörden und seriöser (!) Presse verdeutlicht werden. Am Schluss schwebt die grandiose Annette Büschelberger als schwarzer Rachengel Elfriede über dem vervollständigten Haus und gibt die Parole aus „Wir müssen reden!“ - und nicht schweigen oder einen Schlussstrich ziehen!
Langanhaltender berechtigter Beifall für die spielfreudigen Schauspieler, für ein überzeugendes Bühnenbild (Marie Roth), für die große dramaturgische Leistung von Brigitte Ostermann und Regisseur Jan Philipp Gloger sowie für die Video-Recherchen von Martin Fürbringer
Spiel der Illusionen (L’illusion comique) ***
von Pierre Corneille
Regie: Andreas Kriegenburg
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 1.10.2021
Neue Spielzeit - neues Glück? Mit viel Optimismus geht Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger in die Saison 2021/22 und hat für den Anfang etwas spielerisch Leichtes ausgesucht, ein Plädoyer für die sinnliche Kraft des Theaters. Das Schauspielhaus ist wieder voll mit erwartungsfrohen MaskenträgerInnen, auf der Bühne entfaltet sich ein Kessel buntes Drehen und Treiben, ein gereimtes (nicht immer gut verständliches) Sprachfeuerwerk im Rahmen einer fast 400 Jahre alten Spielvorlage, die viel Platz lässt für exaltiertes Agieren und für magische Momente. Pierre Corneilles gehobene Komödie ist phantasievolles Theater im Theater, allerdings nicht so zupackend wie die Komödien von Shakespeare und schon gar nicht so analytisch wie Goethes Wilhelm Meister und dessen theatralische Sendung.
Man kann sich wohl darauf einigen, dass der Inhalt in all seinen Facetten und in seiner Gratwanderung zwischen Realität und theatralischer Illusion gar nicht so wichtig ist, dass stattdessen die SchauspielerInnen und einige Aspekte der Inszenierung in Erinnerung bleiben werden. Das Ensemble setzt sich mit Verve in Szene, verdeutlich aber gleichzeitig einen Generationenwechsel am Nürnberger Theater. Während die Kammerschauspieler Hochstrasser, Nunner und Cüppers eher beobachtende Randfiguren mit netten kleinen Standbildern sind, rocken die „Jungen“ den Abend. Allen voran Llewellyn Reichmann, die als Dienerin Lyse für rhythmische Sprach- und Sportgymnastik und für querflötende Einlagen Szenenbeifall einsammelt. Ebenso spielfreudig Yascha Finn Nolting als prahlerischer Tölpel Matamore, Justus Pfannkuch als eiskalt-charmanter Liebhaber Clindor und Felix Mühlen mit einem extravaganten Rollen-Triell. Bei der Isabella von Pauline Kästner scheint wieder ein bisschen Tragödie in das rot ausgeschlagene Zirkuszelt - Nora und Antigone lassen grüßen!
Regisseur und Bühnenbildner Andreas Kriegenburg weiß mit seiner Erfahrung, wie man szenische Akzente setzt und wie man eine Bühne am Rotieren hält, hat mit den Kostümen von Andrea Schraad einen weiteren Hingucker, hätte aber bei der Textfassung ruhig noch ein paar Striche anbringen können. Am Schluss sind sich Publikum und Akteure einig: das Theater ist wieder da, live und mittendrin, vielleicht auch bald wieder als Ort der entspannten Pausen-Plauderei und des Hinterher-Schoppens.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/spiel-der-illusionen/09-10-2021/1930
Saal 600: Spurensuche (UA) ****
von dura & kroesinger
Regie: Hans-Werner Kroesinger, Regine Dura
Staatstheater Nürnberg (Justizpalast Nürnberg, Saal 600)
Premiere am 25.09.2021
Zwei Schauplätze sind es, die den historisch interessierten Touristen in Nürnberg zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit einladen: zum einen das Reichsparteitagsgelände, auf dem auch 1935 die Rassengesetze verkündet wurden, zum anderen der Justizpalast in der Fürther Straße, in dem vor über 70 Jahren (genau: am 20.11.1945) der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof eröffnet wurde. Beide Erinnerungsorte beherbergen jeweils ein sehenswertes Museum: das Dokumentationszentrum und das Memorium Nürnberger Prozesse. Und mittlerweile kann auch das Staatstheater Nürnberg behaupten, mit je einer szenischen Arbeit diese externen Denkmäler bespielt zu haben. War es 2009 Peter Weiss‘ „Die Ermittlung“ (Inszenierung: Kathrin Mädler) als beeindruckender Gang durch die rohen Backsteingewölbe der Kongresshalle, so ist es nun ein weitgehend stimmiges Doku-Projekt von Regina Dura und Hans-Werner Kroesinger im Saal 600, in dem zwischen 1960 und 2020 ganz alltägliche Gerichtsverhandlungen stattgefunden haben, der aber jetzt in das Memorium-Konzept eingebunden wurde.
Die theatralische „Spurensuche“ mit fünf Anfängen muss mit einigen konzeptionellen Fragen umgehen. Wie lässt sich das unüberschaubare historische Quellenmaterial auf eine vorgegebene Spielzeit von etwa 90 Minuten eindampfen? dura & kroesinger (so der Markenname) entscheiden sich im Wesentlichen für eine exemplarische Perspektive, die aus den Aussagen dreier Prozessbeteiligter entsteht: Hermann Görings Vernehmung am 18.3.1946, bei der er sehr erhellend die Reichskristallnacht als Versicherungsproblem thematisiert, der bewegende Bericht der französischen Auschwitz-Insassin Marie-Claude Vaillant-Couturier und die nüchterne Bilanz des SS-Einsatzgruppenleiters Otto Ohlendorf über die Massenerschießungen an der Ostfront. Danach braucht man „keine weiteren Fragen“. Damit ist aber auch angedeutet, dass bei dieser nachdenklichen Aufführung die juristische Problematik der Nürnberger Prozesse nicht verhandelt werden kann.
Die zweite Frage zielt darauf, wie stark man an einem solch ernsthaften Ort theatralische Elemente einbinden darf/soll. Die Inszenierung schafft einen nicht scharf abgegrenzten Bühnenraum im historischen Raum (gestaltet von Rob Moonen). Vor einer funktionalen Videowand werden zwanzig helle Sperrholzwürfel unterschiedlich als Deko-Element, Sitzgelegenheit oder Redepulte arrangiert, viele weiße Papierstapel werden im Saal verteilt, aufgetürmt, zum Einsturz gebracht oder in die Luft geworfen. Das fünfköpfige Ensemble (Anna Klimovitskaya, Stephanie Leue, Adeline Schebesch, Nicolas Frederic Djuren, Janning Kahnert) bewegt sich trotz deklamatorischer Hauptarbeit in spätsommerlicher Alltagskleidung, legt Trinkpausen ein und verdeutlicht die mehrsprachige Atmosphäre des historischen Prozesses.
Das, was Theatermacher gerne ihrem Publikum wünschen (einen „spannenden“ Abend), wird im letzten Drittel eingelöst. Dann schlüpfen die Akteure aus ihren Sprechrollen und artikulieren eigene private Erinnerungsfetzen an die NS-Zeit. Dann befasst sich die Inszenierung kritisch mit den Misserfolgen der weiteren Entnazifizierung nach 1949 und illustriert in bestem Brechtschen Sinne („Der Schoß ist fruchtbar noch …“) durch einen langen Lauftext an der Videowand die ungebrochene rechtsradikale Tradition in Deutschland.
Bei den Nürnberger Prozessen hat man 1945 in dem erstaunlicherweise fast unzerstörten Justizpalast Platz für knapp 400 Pressevertreter und sonstige Besucher geschaffen, bei der „Spurensuche“ 2021 erlaubt die implantierte Stahlrohrtribüne leider nur Sitzplätze für 50 Personen. Dafür wird die sehenswerte Produktion in mehreren Blöcken über die gesamte Spielzeit gezeigt. Sie ist garantiert mehr als nur ein touristischer Tipp, sie ist ein historischer Moment.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/saal-600-spurensuche-ua/27-09-2021/1700
Was ihr wollt ***
von William Shakespeare
Regie: Markus Nondorf
Theater im Kulturkammergut Fürth
Premiere am 29.7.2021
Rechtzeitig zu Beginn der bayerischen Sommerferien hat das Zwillings-Geschwisterpaar Viola und Sebastian (Anna Botzenhardt und Alec Wagner) Abiturzeugnis und Schnelltest eingepackt und eine Kreuzfahrt in den sonnigen Süden gestartet. Weil aber der Vergnügungsdampfer in Seenot gerät, müssen sie sich als Schiffbrüchige an die Küste des Fantasialandes Illyrien (liegt irgendwo zwischen Mallorca und Tauris?) retten und verlieren sich dabei aus den Augen. Auf dem Überraschungs-Eiland regiert der liebestolle Herzog Orsino (Michael Nowak), dessen Avancen von der coolen Gräfin Orsina (Varvara Imas) nur mit lasziven Hüftschwüngen und einem Trauerschleier kommentiert werden. Viola schlüpft auf Arbeitssuche in dreiviertellange Lederhosen, setzt sich eine Schieber-Kappe auf und mutiert zum Transgender-Cesario. Damit eröffnet er/sie ein unübersichtliches Bermuda-Dreieck der Irrungen und Wirrungen, der Eifersucht und der Verwechslungen.
So ungefähr hat William Shakespeare 1602 seine bis heute unkaputtbare Komödie „Was ihr wollt“ angelegt, die nun das Theater aus dem KulturKammerGut in der Freilichtbühne im Fürther Stadtpark an neun Abenden präsentiert. Regisseur Markus Nondorf ließ das Stahlrohrbühnengerüst mit schwarzen, roten und goldenen Tüchern verhüllen und verordnete den schwarz-weiß gekleideten Akteuren ein bisschen Charleston-Atmosphäre aus dem Berlin der goldenen Zwanziger. Die fünfköpfige Bühnenband - angeführt vom Posaunisten Heinrich Filsner - intoniert zeitgerecht „Yes sir, that’s my baby“ oder „O mein Papa war eine wunderbare Clown“ und unterstützt das Ensemble bei den wüsten Gesängen von „Halt‘s Maul, du Arsch“ bis „Love is a losing game“.
Die wirkliche Party geht aber bei den Rüpel-Szenen der Nebenfiguren ab: Sir Toby Rülp (Frank Strobelt) lässt keine Sektflasche ungeöffnet im Kübel und macht seinem Nachnamen alle Ehre. Sir Andrew Bleichenwang (Ralf Ahlborn) ist bei allen Intrigen mannhaft dabei, verliert aber beim geforderten Duell mit zwei grünen Regenschirmen etwas die Courage. Haushofmeister Malvolio (Oliver Reissig) wird zum Opfer eines Fake-Liebesbriefes von der Gräfin, er macht sich mit gelben Strümpfen und kreuzförmigen Strumpfbändern zum Affen und damit zur einzigen halbwegs tragischen Figur des Abends. Die Lieder des Narren Feste, der hier als weiblicher Clown auftreten darf (Andrea Gerhard), umrahmen einen schwungvollen Theaterabend im stimmungsvollen Ambiente trotz harter Sitzbänke, Abstands-Gebot und Stechmücken-Alarm.
Zum Schluss singen alle „Der Regen regnet jeden Tag“, was man der Produktion, die bis zum 6. August jeden Tag stattfinden soll, nicht wünscht. Langer Beifall des Publikums, unter das sich auch Textbearbeiter Oliver Karbus gemischt hatte.
Stolz und Vorurteil* (*oder so) ****
von Isobel McArthur nach dem Roman von Jane Austen
Regie: Christian Brey
Staatstheater Nürnberg (Sommerbühne)
Premiere am 23.06.2021
Das ist aber jetzt echt mal ein Fall für den Gleichstellungsbeauftragten des Staatstheaters Nürnberg: bei den beiden ersten Schauspiel-Live-Premieren im Jahre 2021 („Kluge Gefühle“ in den Kammerspielen und „Stolz und Vorurteil“ auf der Sommerbühne) agierten im Scheinwerferlicht acht Schauspielerinnen (ohne Binnen-I!), die zusammen insgesamt 24 Rollen (davon fünf männliche) verkörperten. Für die Herren des Ensembles blieb nur noch die Aufgabe eines Regisseurs (Christian Brey), eines dezenten Gitarren-Musikers (Thomas Esser) und eines hocherfreuten Ansagers (Jan Philipp Gloger) übrig.
Da wir aber wissen, dass Iro nie gut ankommt, zurück zu den Fakten des zweiten Premierenabends. Vor dem Schauspielhaus wurde auf der kahlen Pflaster-Wüste eine wuchtige Bühne mit perfekter Licht- und Ton-Ausstattung gebaut, davor finden sich locker gestellte Zweier-Stuhlgruppen mit Beistelltischchen für etwa 120 Zuschauer, die in der frischen Luft sogar die Masken während der Vorführung abnehmen dürfen. Der emsige Gastro-Service liefert in der Pause vorbestellte Getränke und Imbisse an den Platz. Wenn dann noch das Wetter mitspielt (am Eröffnungstermin regnete es nur 25 Tropfen in fünf Minuten), ist ein entspannter Abend garantiert.
Dazu wählte die Direktion als Mittel gegen die allgemeine Corona-Depression ein sehr leichtgewichtiges und unterhaltsames Stück aus. Es stammt von der schottischen Autorin Isobel Mc Arthur und ist eine absolut schräge Dramatisierung des Roman-Klassikers „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen. „Pride And Prejudice“, die Geschichte der Familie Bennet mit ihren fünf unverheirateten Töchtern Elizabeth, Jane, Lydia, Mary und Kitty, gehört zum Kanon der anglo-amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts, ein Gesellschaftsroman, der gehobene Unterhaltung mit bürgerlicher Adelskritik und moralischer Erbauung verbindet und dank seiner geschliffenen Dialoge leicht für die Bühne eingerichtet werden kann. Isobel McArthur ging ohne Respekt an dieses Werk und machte 2019 einen zündenden Theaterjux daraus.
Die Nürnberger Inszenierung lebt von geballter komödiantische Frauenpower, allen voran die herrlich verpeilte Annette Büschelberger und die schrille Julia Bartolome, von einem temporeichen Umkleide-Karussell, von netten, kleinen Regier-Einfällen und von erfrischend unperfekt vorgetragenen Pop-Songs wie „I Got You Babe“, „You’re So Vain“ oder „Lady In Red“. Farbenprächtige Blumen-Rankbögen schmücken die Bühne (Anette Hachmann), am Ende bekommen die Besucher sogar einen Blumengruß als Dank für die Treue zum Staatstheater: ein bisschen Hippie-Flower-Power und „Love Is In The Air“ schwebt über dem urbanen Asphalt. Ansonsten sagt der letzte Song alles zum Thema: „Da da da, ich lieb' dich nicht, du liebst mich nicht!“
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/stolz-und-vorurteil-oder-so/25-06-2021/1900
Kluge Gefühle ***
von Maryam Zaree
Regie: Mirjam Loibl
Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)
Premiere am 22.6.2021
Wenn erwachsene Kinder ihre Eltern zu deren Vergangenheit ausfragen, stoßen sie oft auf eine Mauer des Schweigens. Das ging der Generation so, die nach 1945 in der Bundesrepublik geboren wurde, das erlebte die Nachwendegeneration in der ehemaligen DDR. David Grossman machte aus diesem Motiv einen bewegenden Roman („Was Nina wusste“), in dem die Bewältigung der Vergangenheit im Tito-Jugoslawien zu einem harten Mutter-Tochter-Konflikt führt. Maryam Zaree - vielen eher als Schauspielerin bekannt - hat die Umstände ihrer Geburt 1983 in Teheran erst etwa dreißig Jahre später erfahren und aus diesem dramatischen Geschehen ein multimediales Projekt gestaltet: 2017 stellte sie ihren stark autobiografisch eingefärbten Theatertext „Kluge Gefühle“ auf dem Heidelberger Stückemarkt vor und gewann den Autorenpreis, ein Jahr später kam es zur Uraufführung in Heidelberg und zu einer Folgeproduktion in Berlin (Hebbel am Ufer). 2019 führte sie Regie in dem Dokumentarfilm „Born in Evin“, der die Zustände in dem Teheraner Gefängnis nach der islamistischen Revolution unter Chomeini aufarbeitet. „Kluge Gefühle“ ist nun die erste - thematisch völlig coronafreie - Live-Premiere 2021 im Nürnberger Schauspiel.
Tara, die junge Rechtsanwältin mit dem Spezialgebiet Asylrecht (Süheyla Ünlü) lebt als Single in Deutschland, fürsorglich belagert von ihrer Mutter Shahla (Stephanie Leue). Selbst bei ihrer Psychoanalytikerin (Pauline Kästner) öffnet sie sich nur mit angezogener Handbremse. Was ist der Grund für ihre Verunsicherungen? Ist sie zu klug, um Gefühle zu zeigen? Durch Zufall erfährt sie von dem Iran-Tribunal 2012 in Den Haag, wo ihre Mutter als Zeugin ausgesagt hatte: sie war als Oppositionelle eingesperrt und misshandelt worden und hat im Gefängnis „mit verbundenen Augen“ die Tochter zur Welt gebracht. Doch sie wollte das Kind im neuen Land schützen, ihr eine Zukunft frei von dem Grauen des Vergangenen ermöglichen.
Diese Spannung versucht Maryam Zaree immer wieder durch Anflüge von Ironie aufzulockern, manchmal erscheint Tara wie ein weiblicher Woody Allen, wie ein Musterbeispiel für misslingende Kommunikation in den Zeiten der Verdrängung und des Jargons der Eigentlichkeit. Der Schwebezustand zwischen flapsiger Partner-Suche, bockigem Frage-Antwort-Spiel auf der Psycho-Couch und der dramatischen Wiedererkennung der mütterlichen Tragödie kann nicht durchgehend überzeugen, da auch die Inszenierung von Mirjam Loibl sehr zurückhaltend und minimalistisch vorgeht. Die karge Bühne mit einer verschiebbaren Projektionswand (Thilo Ullrich) bietet wenig originellen Spielraum, Licht und Musik setzen kaum Akzente. Die drei Schauspielerinnen verlassen sich eher auf das gesprochene Wort als auf deutliche und deutende Körpersprache. Das Ergebnis ist ein nachdenklich stimmendes Kammerspiel, dem aber der große Zugriff auf das Thema nicht recht gelingen will.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/kluge-gefuehle/25-06-2021/1930
Der Schimmelreiter ***
von Theodor Storm
für die Bühne eingerichtet von Christian Schidlowsky
Regie: Christian Schidlowsky
Gastspiel des Theaters Schloss Maßbach im Stadttheater Fürth (17.6.2021)
„Treffen sich sechs Nordfriesen in einer Bar …“. So könnte ein lauer Witz beginnen - oder die theatralische Umsetzung der bekannten Novelle „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm. Christian Schidlowsky, in der Region als Gründer des Theaters Pfütze bekannt, hat den 1888 erschienenen Prosatext für die Bühne eingerichtet und vor einem Jahr mit dem Ensemble des unterfränkischen Theaters Schloss Maßbach zur Aufführung gebracht. Jedoch nur für kurze Zeit, denn bald nach der Premiere regierte der kulturelle Lockdown und erst die frühsommerlichen Inzidenzwerte 2021 erlauben eine Wiederaufnahme, die nun auch zweimal im Stadttheater Fürth gezeigt wurde.
Storms dramatisches Schauermärchen erzählt die Geschichte des jungen Hauke Haien, der an der Nordseeküste des 18. Jahrhunderts eine Karriere vom Kleinknecht zum Deichgrafen durchläuft, mit seinen ambitionierten und aufgeklärten Deichbauprojekten aber immer wieder auf Widerstand bei den Alteingesessenen stößt. Anders als der gealterte Faust, der am Ende seines Lebens als Landgewinner auf ein „paradiesisch Land“ und eine „kühn-emsige Völkerschaft“ schauen kann, der die Flut draußen keine Angst mehr macht, erlebt Hauke bei einer Sturmflut die Unberechenbarkeit der Natur und eine private Katastrophe. Seitdem geistert er als apokalyptischer Schimmelreiter durch die norddeutsche Volkssage.
Man könnte diesem Stoff eine Menge Aktualität abgewinnen: mit dem Klimawandel steigen die Meerespegel, Plastik-Kontinente schwimmen im Ozean und in vielen Bürgerbegehren werden ehrgeizige Großprojekte abgelehnt. Christian Schidlowsky verkneift sich aber diese Modernismen, er verlässt sich auf den thematischen Kern der Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft, Humanität und Aberglaube und lässt seine Schauspieler in Dialog und Erzähler-Chor das Geschehen transportieren. Das funktionelle Container-Bühnenbild von Peter Picciani mutiert von der Bar zum flachen Deich, und im Hintergrund rauscht in wechselnder Lautstärke die Nord/Mordsee. Mit einer abwechslungsreichen Sprech-Choreografie und vereinzelten Gesangseinsätzen spielen sich die Schauspieler Wollmützen, Sandsäcke und Angora-Felle zu. Benjamin Jorns gibt der Hauptperson jugendliche Dynamik, aber auch punktuelle Selbstzweifel, Anna Schindlbeck ist die standhafte Ehefrau Elke, die das Glück der kleinen Familie verteidigen will. Georg Schmiechen kann als hinterlistiger Gegenspieler Ole Peters Züge des aktuellen Populismus verkörpern.
So entwickelt die realistische Storm-Warnung trotz vereinzelter Durchhänger einen gewissen Sog - fast wie der gefährliche Priel, der am Ende den Deich unterhöhlt hat. Schade nur, dass angesichts der Ü-30-Temperaturen das lange vermisste Live-Erlebnis im Theater nur von einer sehr überschaubaren Besucherschar wahrgenommen wurde: Biergarten statt Deich-Bar!
Phädra ****
von Jean Racine
Regie: Anne Lenk
mit Ulrike Arnold, Maximilian Pulst u. v. a.
Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)
Online-Premiere (auf YouTube) am 23.4.2021
Die große deutsche Rollladen-Firma „Roma“ wirbt in ihren Fernseh-Spots mit dem Slogan „Wenn sie mal für sich sein wollen“. Diese Assoziation drängt sich auf, wenn man das Bühnenbild von Judith Oswald als bestimmende Größe des Theaterabends erkennt. Denn sie hat für die Tragödie von Phädra und Hippolyt, einen rechteckigen Guckkasten gebaut, der überall von modernen Lamellen-Jalousien beschattet ist. Und so sind die Akteure wirklich für sich, wenn sie ihre Dilemmata dialogisch austragen. Sie haben natürlich auch keine Live-Zuschauer, sondern nur distanzierte Beobachter am Laptop, die diese eindrucksvolle Online-Verfilmung - die aber ohne nervige filmische Mittel auskommt und sehr oft dokumentarisch die Bühnen-Totale anbietet - verfolgen. Das karge Mobiliar hat Office-Charakter mit Edelstahl und Leder: ein Schreibtisch (mit Tasten-Telefon!), eine therapeutische (?) Liege und für alle Trauer-Fälle einen Kosmetiktuch-Spender.
Der mythische Stoff des Euripides, den Racine 1677 in die französische Klassik transportiert hat, ist im Grunde eine Variation des Ödipus-Motivs. Phädra, die zweite Gemahlin des Theseus, entdeckt ihre verbotene Liebe zu dem Stiefsohn Hippolyt und wagt es, als eine fälschliche Todesmeldung ihres Mannes eintrifft, sich vor dem jungen Mann zu outen. Dieser aber liebt vermutlich die am Hof festgehaltene athenische Prinzessin Aricia. Als Theseus doch lebend nach Hause kommt („mein Empfang ist Entsetzen“), entwirft die intrigante Amme Oenone für Phädra eine Ausrede: der Stiefsohn sei die Triebkraft dieser Annäherung gewesen. Damit nimmt die tragische Talfahrt ihren Lauf: Hippolyt wird vom Gott Poseidon in den Tod gerissen, die Amme stürzt sich schuldbewusst aus dem Fenster und Phädra greift zum Gift: „Der Tod / raubt meinem Aug das Licht und gibt dem Tag, / den ich befleckte, seinen Glanz zurück“.
Hausregisseurin Anne Lenk, die schon zweimal mit ihren Arbeiten zum Berliner Theatertreffen eingeladen war (leider noch nie mit einer Nürnberger Produktion), gibt dem Stück eine bemerkenswerte Spannung zwischen Moderne und Tradition. Einerseits wählt sie die klassische Schiller-Übersetzung, andererseits versetzt sie die Rollen ins Jetzt und lässt sie wie Personen aus dem heutigen Politikbetrieb erscheinen. Die Phädra der wunderbaren Ulrike Arnold ist ein bisschen eine Mischung aus Hannelore Kohl und Brigitte Macron, ein Charakter zwischen Licht und Schatten, zwischen Empathie und Staatsräson, zwischen weiblicher Emotion und hündischer Geste. Ihr elfenbeinfarbenes Lederkostüm (gefertigt von Sibylle Wallum) und die blonde Sturm-Perücke wirken wie ein corona-typisches Distanz-Signal, wie ein Panzer, hinter dem sich der wahre Mensch versteckt. Sie ist - wie es schon Racine deutete - eine tragische Person „weder völlig schuldig noch gänzlich frei von Schuld“.
Ähnlich der Hippolyt von Maximilian Pulst: mit gymnastischen Bewegungen und mit der Glätte eines Lederanzug-Yuppies kaschiert er seine Unsicherheit zwischen den beiden Frauen. Die selbst auf dem Computerbildschirm erkennbare Ensembleleistung wird abgerundet durch den schnauzbärtigen Theseus von Michael Hochstrasser, die Oenone von Julia Bartolome, die Aricia von Llewelyn Reichman und den aalglatten Erzieher Theramen von Nicolas Frederick Djuren.
Wir können uns im anschließenden Online-Chat auf das Fazit einigen „schwache Menschen sind wir alle“, schalten den PC ab und ziehen kontaktdurstig die Jalousien wieder hoch! Große Empfehlung für einen Besuch der Live-Aufführung - wann auch immer!
https://staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/phaedra/23-04-2021/1930
Macbeth **
von William Shakespeare
Kurznachrichtentheater
Regie: Jan Philipp Gloger
Staatstheater Nürnberg
Online auf Telegram am 12.3.2021
What’s up, Macbeth? Wie geht’s dir machtgeilem Autokraten? Die twittergerechte Antwort in sechs Wörtern lautet „Für Macht geh ich über Leichen!“ oder etwas später „An mir geh ich bald zugrunde!“
Not macht erfinderisch, und so hat ein Team um den Nürnberger Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger die Königstragödie aus dem frühen 17. Jahrhundert in ein Kurznachrichtentheater auf dem Messengerdienst Telegram verwandelt. Etwa 600 Chat-Mitglieder sitzen also am Freitagabend zu Hause vor dem MacBook Air oder anderen mobilen Endgeräten und beobachten passiv (!), was auf dem Account von MacBeth (dahinter verbirgt sich der Schauspieler Justus Pfankuch) so alles gepostet wird. In gut 100 Minuten ploppen dann zahllose Textnachrichten, animierte Emojis, 32 Bilder, 28 Audio-Sprachnachrichten, acht Videos und mehrere Links zu YouTube-Videos auf, die Macbeths Weg vom loyalen Feldherrn zum Königsmörder, zum Serienverbrecher und schließlich zum im Wahn Gerichteten nacherzählen. Das ist zwar technisch auf der Höhe der Zeit, jedoch rezeptiv eher anstrengend und emotional eine blanke Distanz-Katastrophe. Wer die Macbeth-Geschichte nicht vorher im Schauspielführer gelesen (oder natürlich online gegoogelt) hat, versteht nur noch Bahnhof oder - wie man heute wohl sagt - Datenserver.
Der Zuschauer ist ausgiebig beschäftigt, Hintergrundmusik (von Vera Mohrs) downzuloaden, Sprachnachrichten abzuhören und YouTube-Links rechtzeitig zu starten. Letztere und ein paar vorproduzierte Videos sind es dann, die für ein paar Momente entspanntes Zuschauen ermöglichen: zum Beispiel Maximilian Pulsts sächsisch-kabarettistische Version der Pförtnerszene, Macbeths Ausraster bei einem Festbankett, an dem auch der Schauspieldirektor teilnimmt, Lady Macbeth (Lisa Mies), die sich in einem blütenweißen Damenklo auskotzt, und eingestreute Pressekonferenz mit der Moderatorin Adeline Schebesch.
Irgendwann kommt aber der Moment, wo man mit Macbeth aufschreit „Ich will nichts weiter sehn und hören“ und sich nur noch auf das finale Fazit freut: „Das Leben ist ein schneller Schatten, ein Märchen von einem Depp erzählt, voll Lärm und Tollwut!“
Bezeichnenderweise empfehlen die Veranstalter, nach dem Abend die Telegram-App wieder zu löschen, denn sie wissen um die Fragwürdigkeit dieses asozialen Mediums („Die Wahrheit lügt!“), in dem sich vorwiegend anonyme Gewaltphantasten, Verschwörungstheoretiker und Antidemokraten tummeln. Diese Klientel ist immerhin ein passendes Umfeld für die Macbeth-Geschichte, hatte aber wohl zu diesem Zeitpunkt nicht den Macbeth-Account angeklickt.
Wenn dieser Abend wenigstens irgendetwas ausgelöst hat, dann den dringenden Wunsch, dass bald wieder richtiges Theater auf einer richtigen Bühne zu sehen ist.
Isola ****
von Philipp Löhle
Theaterfilm von Sami Bill nach der Inszenierung von Jan Philipp Gloger
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
YouTube-Premiere am 26.2.2021
Die Ursache für die Weltwirtschaftskrise 1929 war eine Überproduktionskrise. Etwas anders verhält es sich heute: die Corona-Pandemie bringt als Folge eine Überproduktionskrise mit sich. Brauereien müssen ihr Bier wegschütten, Wintermode modert an den Kleiderbügeln der Damen- und Herren-Konfektionshäuser und die Theater beklagen einen Premierenstau. Auch das Schauspielensemble des Staatstheaters Nürnberg war während der Lockdown-Phasen nicht untätig und sucht nun nach Wegen, fertige Produktionen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Im Dezember sollte „Isola“, geschrieben von dem Hausautor Philipp Löhle, als Uraufführung im Schauspielhaus starten, nun hat Sami Bill, der in Jan Philipp Glogers Inszenierung für die Video-Installationen verantwortlich ist, einen Theaterfilm gedreht, der - umsonst und zu Hause - seine YouTube-Premiere feierte.
Löhles Stück, das seit April 2020 als Auftragsarbeit des Staatstheaters Nürnberg an der aktuellen Nachrichtenlage gewachsen ist, setzt auf den Verfremdungs-Effekt (allerdings ohne die brechtsche Lehrhaftigkeit) und führt den Zuschauer mit einer Pandemie-Parabel zurück in das Jahr 1838, in das Land der Burgen, der Schlösser und der Kleinstaaterei. Eine skurrile Biedermeier-Festgesellschaft trifft sich in den Räumen des jungen Grafen Wilhelm Friedrich von Munk (Tjark Bernau); doch bald ist von einem (mehreren?) Toten die Rede und von einem Killer (Brandstifter?), der irgendwo draußen vor den Türen sein Unwesen treibt. Man erzählt sich nun aber nicht - wie in Boccaccios „Decamerone“ - gegenseitig Novellen, sondern spricht von etwas Fremdem, auf das man schon lange gewartet habe. Der Totengräber (Raphael Rubino) bringt den ersten Sarg herein und preist seinen beruflichen Erfolg: „Übersterblichkeit, das ist mein Geschäft“. Die Akteure werden zur geschlossenen Gesellschaft, die sich innerhalb der 14 raumhohen Kassettenwand-Türen (Bühner: Franziska Bornkamm) verschanzen und dennoch ein Wechselbad von Sicherheit und Bedrohung erleben. Abstruse Wendungen und Verschwörungstheorien markieren den dynamischen Zickzack-Kurs der Handlung: Hat der Gastgeber alles nur erfunden, um seine Gäste einsperren zu können? Leben wir einen Traum oder träumen wir unser Leben? Dazu kommt noch der Naturforscher Professor Ambrosius Freudenbach (Maximilian Pulst), der Jugendfreund des Grafen, wieder in die Nähe des Schlosses; auf dem Weg dorthin berichtet er von seinen Schmetterlings-Forschungen, von Unterwasser-Entpuppung und dem Streben nach Licht und Luft. Als er Einlass begehrt, wird er als der mordende Fremde gesehen und mit einem Schürhaken durchbohrt.
Löhle hat also tief in dem Fundus der Schauer-Romantik und der Ikonografie der Zombie- und Horror-Splatter-Filme gewildert, die Figuren wirken, als wären sie einer Novelle von Ludwig Tieck entsprungen, die Handlung erinnert irgendwie an eine Detektiv-Story mit Hercules Poirot (Mord im Schloss?) in der Filmregie von Luis Bunuel oder an einen neuen Edgar-Wallace-Streifen. Letzteres ist aber unzutreffend, weil die Blicke nach außen keinen Londoner Nebel zeigen, dafür die Nürnberger U-Bahn-Station Opernhaus (umbenannt in „Isola“) und einen Elefanten, der nicht das sprichwörtliche Porzellan zertrampelt, sondern die Bestuhlung des Nürnberger Schauspielhauses!
In drei Drehtagen wurde aus der premierenfesten Bühneninszenierung von Jan Philipp Gloger ein schön schauriger Film, der deutlich mehr vermittelt als nur die brave Abfilmung des Bühnengeschehens. Anteil an dieser intensiven Psycho-Massage hat auch die grelle Hintergrundmusik von Kostja Rapoport und die spektakuläre Rollen-Interpretation der jungen Flora durch Annette Büschelberger.
Philipp Löhles brillanter Mix aus Assoziationen, Ahnungen und Anmerkungen zur leidigen C-Frage dauert 100 Minuten, erlaubt den Einsatz der Pausentaste und den Getränke-Nachschub aus dem Home-Cooling. Dennoch darf man sich über Jan Philipp Glogers Ankündigung freuen: „Wir werden / müssen das als Bühnen-Uraufführung zur Premiere im Schauspielhaus bringen!“ Denn wie sagt doch der Graf von Munk am Ende so treffend: „Es ist noch nicht vorüber!“
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/isola-ua/20-03-2021/1930
Corpus Delicti ****
von Juli Zeh
Regie: Janning Kahnert
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Live-Stream-Premiere (Online) am 12.2.2021
Bei George Orwells „1984“ ist die Sache eigentlich klar: der Roman ist eine Warnung vor den Machterhaltungs-Strategien oligarchisch strukturierter Diktaturen, vor Überwachung und Manipulation der Bevölkerung. Etwas schwieriger liest sich Juli Zehs Dystopie einer Gesundheits-Diktatur aus dem Jahr 2050. Im Kern ist es ein unterhaltsamer Debattenbeitrag zu einer verfassungsrechtlichen Abwägungsfrage: was ist wichtiger - Gesundheit oder Freiheit? Der Roman war ursprünglich als Theaterstück konzipiert, das 2007 uraufgeführt wurde und nun, in den Zeiten der Corona-Pandemie, neue Aktualität gewonnen hat.
Janning Kahnert aus dem Ensemble des Nürnberger Staatstheaters hat die verordnete Passivität im Bühnen-Lockdown genutzt und hat als Regisseur das Projekt einer filmischen Umsetzung mit sieben befreundeten SchauspielerInnen aus Nürnberg, Hamburg, Hannover und Düsseldorf gestartet. Herausgekommen ist eine knappe Stunde YouTube-Video mit dem dezenten Charme einer Zoom-Video-Konferenz. Die Akteure sitzen distanziert im Home-Office vor ihrer Webcam und werden entweder alleine oder in Gruppen auf dem Bildschirm präsentiert. Das passt, weil das Stück Elemente einer Gerichtsverhandlung und zahlreiche inhaltliche Diskurs-Dialoge enthält. Zwei alternative Sequenzen sind mehrfach in den Ablauf eingeschnitten: die Bewegungen von Moritz Holl (Maximilian Pulst) in der freien(!) Natur und die willfährigen Talk-Bemühungen des Moderators Würmer (Nicolas Frederik Djuren) bei seiner TV-Sendung „Was alle denken“.
Die hauptsächlichen Gegenspieler sind die Biologin Mia Holl (Llewellyn Reichman) und Heinrich Kramer, der Vordenker der METHODE (André Kaczmarczyk). Kramer vertritt die These, dass die Erhaltung der Gesundheit der Bürger die zentrale Legitimation staatlicher Gewalt im 21. Jahrhundert sei. Dafür müssen auch drastische Einschnitte bei den aus dem 20. Jahrhundert gewohnten persönlichen Freiheiten hingenommen werden: es gibt z. B. implantierte Überwachungs-Chips, Fitness-Zwang, Rauch- und Alkohol-Verbot. Das müsse doch der „gesunde“, aufgeklärte Menschenverstand akzeptieren! Dagegen ist Mia Holl von ihrem Bruder Moritz beeinflusst, der für Freiheit und Natur kämpft und erklärt, das Leben sei ein Angebot, „das man auch ablehnen kann“. Moritz wird verhaftet und nach einem Justizirrtum verurteilt, in der Zelle begeht er Selbstmord. Dies treibt Mia in die radikale Opposition, in die Nähe einer terroristischen Vereinigung mit dem schönen Kürzel R.A.K. (Recht auf Krankheit). Dann wird auch sie verhaftet und das Urteil in erster Instanz ist eine besondere Form des Kaltstellens (Einfrieren auf unbestimmte Zeit). Doch weil der clevere METHODE-Staat keine Märtyrer produzieren will, wird noch eine Begnadigung ausgesprochen - dies jedoch mit systemkonformen Auflagen!
Normalerweise würde man hinterher bei einer Premierenfeier angeregte Diskussionen mit anderen Theaterbesuchern und einem Glas Wein führen, doch die Pandemie zwingt zu einer personell eingegrenzten Live-Diskussion auf der Bühne der Nürnberger Kammerspiele (moderiert von Dramaturg Fabian Schmidtlein), an der sich neben zwei Experten und dem Regisseur auch die ca. 600 Besucher aus dem Netz (das wäre immerhin ein volles Schauspielhaus gewesen!) chatmäßig beteiligen können. Ob Mia und Moritz Holl heute Querdenker wären, bzw. ob Heinrich Kramer heute im Beratergremium von Angela Merkel sitzen würde, darf gerne kontrovers weitergedacht werden. Schade nur, dass nach dieser anregenden Premiere noch keine Planungen für weitere Aufführungen von „Corpus Delicti“ - sei es auf YouTube oder irgendwann auf der Bühne - erkennbar sind.
https://staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/corpus-delicti/12-02-2021/1930
Take The Villa And Run ****
von René Pollesch
Regie: René Pollesch
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 30.10.2020
Drei Tage vor dem kulturellen November-Lockdown präsentiert das Staatstheater Nürnberg noch eine spektakuläre Schauspiel-Premiere. René Pollesch, der designierte Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ist - angelockt von Direktor Jan Phillip Gloger - nach Franken gekommen, um mit vier SchauspielerInnen (Julia Bartolome, Süheyla Ünlü, Yascha Finn Nolting sowie Franz Beil, der Gast aus Berlin) und der örtlichen Dramaturgie eine neues Bühnen-Projekt zu gestalten. „Take The Villa And Run“ heißt der - wie meist enigmatische - Titel für diesen ziemlich ergebnisoffenen Arbeitsprozess; Assoziationen zu dem Woody-Allen-Film „Take The Money And Run“ (1969, dt. „Woody, der Unglücksrabe“) oder zu dem gleichnamigen Song der Steve Miller Band aus dem Jahr 1976 mögen erlaubt sein. Eigentlich aber bezieht sich Pollesch auf eine Ikone der Modelleisenbahn-Zeit, auf den Faller-Bausatz „Villa im Tessin“, den es ab 1961 mit 106 Einzelteilen und einer Bauanleitung zu kaufen gab. Denn dieses Symbol des Besitzbürgertums in der späten Wirtschaftswunderzeit ist Vorbild für das Bühnenbild, mit dem Nina von Mechow den Rahmen für ein kunterbuntes Geschehen schafft.
Zunächst ist aber, als Süheyla Ünlü im wehenden Satin-Morgenmantel die Bühne betritt, diese groß und leer und die titelgebende Villa bis auf den Grundriss verschwunden. Hat etwa jemand, der einbrechen wollte, in Brechtscher Dialektik gleich die ganze Villa geklaut? Ist dieser Jemand vielleicht der 14köpfige Jungmädchen-Chor, der bald den Raum bevölkert und gestylt wie New-Mexiko-Cowgirls aus einem Italo-Western in die Debatte eingreift. Die Chor-Truppe - darunter auch das heuer leider arbeitslose Nürnberger Christkind Benigna Munsi - versteht sich allerdings nicht als Kommentator in der antiken Tradition sondern als vielköpfiger Einzel-Akteur, der das dramaturgische Ideal der Rollendistanzierung und Rollendifferenzierung vorführt. Er kann gleichzeitig stehen und liegen, er kann nach rechts vorne und nach links hinten gehen, er kann in die Figur eines Museumsführers oder eines enttäuschten Liebhabers schlüpfen, er kann die ästhetischen Rituale des Mannschaftssports vorführen oder auch mal ganz banal eine Karaoke-Version von dem Rolling-Stones-Hit „As Tears Go By“ vorsingen („It is the evening of the day / I sit and watch the children play“). Vor allem aber kann der Chor aus den bereitstehenden Einzelteilen die Villa wieder aufbauen und mit dieser Heimwerker-Montage die Arbeitsweise des Dramatikers und Regisseurs Pollesch verdeutlichen.
Dieser füttert sein Ensemble in der Probenzeit mit vielfältigen Textbausteinen, die dann - wenn denn alles funktioniert - am Ende ein irgendwie anregendes und möglicherweise stimmiges Gesamtbild ergeben. Der auch in der Aufführung gesprochene Leitsatz lautet „eben ging mir gerade was durch den Kopf“, erinnernd an die Kleistsche Maxime von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Und im Kopf des René Pollesch lauern viele originelle Gedanken und Lesefrüchte. Das mögen Insider-Gags aus der Schauspiel-Szene sein, das dürfen gerne auch Theorien von Brecht und Foucault oder Ergebnisse der Quantenmechanik sein, nicht zu vergessen die reichen Bestände des modernen Wortmülls, der in allen Medien zur Bedienung freigegeben wird. Daraus wird dann postdramatisches Assoziations- oder Diskurs-Theater, kreatives Gedanken-Spiel ganz in der Tradition der bekannten Sprach-Wirrologen Jelinek, Handke oder Marthaler.
Einmal sagt ein Schauspieler vom Balkon der Villa herab; es sei wichtig, dass ein Endprodukt wertvoller sein müsse als sein dafür verbrauchter Rohstoff. Dies ist bei der Nürnberger Inszenierung vortrefflich gelungen, denn die sehr diversen Textstränge fügen sich zu einem fast poetischen Ganzen, das zwar keine Antworten gibt, aber ganz viele originelle Fragen stellt. Selbst wenn man bei manchen verrätselten Passagen nur begrenzt folgen kann, bleibt ein berührender Eindruck von dem, was Theater alles noch kann.
Am Ende wird die Villa leider wieder abgebaut, werden die Einzelteile im hinteren Bühnenraum vom Chor sorgfältig abgestellt, dann senkt sich ein Vorhang. Demonstrativer Beifall der 50 zugelassenen Besucher. Hoffentlich können die Bauteile ab dem Dezember wieder ausgepackt werden! Fight The Virus And Run!
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/take-the-villa-and-run-ua/31-10-2020/1930
Antigone ***
von Sophokles
Regie: Andreas Kriegenburg
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 10.10.2020
Es ist was faul im Stadtstaat Theben: König Ödipus hat seinen Vater ermordet und mit seiner Mutter vier Kinder gezeugt. Zur Strafe schicken die Götter eine Seuche, Ödipus blendet sich selber und verlässt die Stadt. Seine beiden Söhne Eteokles und Polyneikes sollen als Doppelspitze mit Rotationsprinzip die Stadt regieren, was grundsätzlich schief geht und mit einem Krieg um die Stadt endet, bei dem beide getötet werden. Also muss der Onkel Kreon als Autokrat her, um wieder Ordnung nach Theben zu bringen. Eine seiner ersten Maßnahmen ist ein Bestattungsverbot für den Angreifer Polyneikes.
So flapsig kann man die Vorgeschichte zur Tragödie „Antigone“ formulieren, doch das ist nicht der Stil von Regisseur (und Bühnenbildner) Andreas Kriegenburg. Er lässt zunächst einen achtköpfigen Chor in einer Art Gebetskreis mit Mundschutz und grober Khaki-Leinenkluft auf die verschattete Bühne treten, der, eingerahmt von den den Substantiven „Stille“ und „Schrei“, einen Prolog in gebundener Sprache vorträgt. Dazu rieselt beständig von oben Sand auf die Akteure; später wird dieser von Antigone als Grabbedeckung für ihren Bruder genutzt.
Danach die eigentliche Tragödie, jene dialogische Auseinandersetzung mit der Hybris eines Herrschers und dem Recht auf Widerstand. Die Szenerie bleibt gleich, die Seiten- und Hinterwände bestehen aus instabilen Sperrholz-Flächen, aus dem geheimnisvoll choreografierten Zombie-Chor lösen sich Einzelpersonen. Die berühmte Auseinandersetzung zwischen Kreon („Mich wird im Leben nie ein Weib regieren“) und Antigone („Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil“) wird gleich zweimal wiederholt - mit drei verschiedenen Kreons (Michael Hochstrasser, Adeline Schebesch, Amadeus Köhli): Erkenntnisgewinn gering!
Im Mittelpunkt der Inszenierung steht die Antigone von Pauline Kästner, doch im Gegensatz zu ihrer spektakulären Nora in der vergangenen Spielzeit, vermag sie dieser Figur außer verhärmtem Leid, physischer Erschöpfung und inflationärer Emotion wenig mitzugeben. Viel präsenter wirkt da die konsensorientierte Ismene (Anna Klimovitskaya) - möglicherweise die neue Leitfigur bei einer Krisenbewältigung. Die politische Dimension des Stückes gerade in der Gegenwart schimmert nur an wenigen Stellen durch, eher entsteht der gleichförmige Eindruck eines Sandkastenspiels mit Totentanz, erinnernd an manche Regiearbeiten von Ulrich Rasche (freilich ohne dessen gigantomanische Mechanik). Die pointierte Übersetzung des Textes durch Oliver Karbus, der vor langer Zeit in Nürnberg als Schauspieler und Regisseur reüssierte, fokussiert sich vor allem auf das aufklärerische Prinzip der Vernunft und auf eine Polemik gegen den Männlichkeitswahn. Das - zumindest - kann man in den Zeiten von Fake News und Trump gerne unterschreiben.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/antigone/16-10-2020/1930
Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder ****
von Boris Nikitin
Regie: Boris Nikitin
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 19.9.2020
Zur Jahreswende 1999/2000 befürchteten viele den Weltuntergang durch den Zusammenbruch aller computer-basierten Systeme (Y2K) mit Folgen wie Börsencrash oder Crash der Infrastrukturen. Es kam nicht so schlimm: stattdessen wurde Angela Merkel Vorsitzende der CDU, Wladimir Putin russischer Staatspräsident und George Bush jr. US-Präsident. Und die westeuropäische Medienwelt erlebte mit der Reality-Show „Big Brother“ den Beginn eines neuen Formats, der in Deutschland ab Februar 2000 auf dem Privatsender RTL II ausgestrahlt wurde. Menschen gingen freiwillig (?) für 100 Tage in den Studio-Container und ließen sich in ihrem 24stündigen Alltag filmen: ein unverzeihlicher Tabubruch oder eine neue Form der Selbstverwirklichung?
Boris Nikitin hat schon seit dem März-Lockdown den Rückblick auf diese „Erste Staffel“ als Recherche-Projekt gestartet, nun stellt er ziemlich originalgetreu den Big-Brother-Container samt Video-Regieplatz auf die Bühne des Schauspielhauses.
Durch die ersten 70 Minuten vor der Pause muss man durch, denn hier hat die Inszenierung nur Abbild-Charakter und präsentiert mit sechs Schauspielern (Julia Bartolome, Süheyla Ünlü, Tjark Bernau, Yascha Finn Nolting, Maximilian Pulst, Cem Lukas Yeginer) ausgewählte Beispiel jener Papperlapapp-Kultur, erfunden von zynischen Programmdirektoren, die an das abgrundtief Dumme des Menschen glauben. Das meiste spielt sich innen ab und wird durch Kameras auf eine große Leinwand übertragen, nur manchmal treten die Bewohner ins Freie, auf die Liegestühle, an den Grill, an die Fitnessgeräte oder zum Hühnerstall. Besinnlich wird es, wenn Tjark Bernau sich in der Nacht aufs Klo zurückzieht und vielleicht über die Frage nach der Problematik des gelingenden Dialogs im modernen Drama bei heruntergelassener Unterhose nachdenkt. Beim bildungsbürgerlich-medienkritisch orientierten Zuschauer schleicht sich zunehmend ein Gedanke ein: „Ich habe mir den Quatsch nie angeschaut, warum muss ich das nun im Theater tun?“
Doch gemach; nach dem unverzichtbaren Informations-Input folgt im zweiten Teil ein virtuoses Spiel mit Parallelebenen, Verzerrungen und Irritationen. Süheyla Ünlü zitiert Passagen aus George Orwells Dystopie „1984“, Julia Bartolome verwandelt sich kurzzeitig in eine amerikanische Werbe-Tussi, die euphorisch die Einrichtungsgegenstände präsentiert, Tjark Bernau schlüpft in die Rolle eines Medienkritikers und Yascha Finn Nolting setzt zu einem furiosen Monolog über die Arbeitsplatz-Probleme in den Neuen Bundesländern an.
Diese erfrischenden Verfremdungen laden zur Selbstbefragung ein: Ist die ganze Welt mit YouTube, Instagram und Video-Überwachung schon zum Container geworden?
Das Erdbeben in Chili ***
von Heinrich von Kleist
Regie: Jan Philipp Gloger
Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)
Premiere am 18.9.2020
Mit Sicherheitsgurt und angezogener Handbremse startet das Nürnberger Schauspiel in die Corona-Saison 2020/21: kleine Produktion, k(l)eine Bühne, kleines Publikum - zu dem aber immerhin der bayerische Kulturminister Sibler, der OB König und die Bürgermeisterin Julia Lehner gehörte.
Schauspieldirektor Gloger hatte für den Auftakt Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ ausgesucht und als rudimentär szenisches Lesedrama für drei Schauspieler einstudiert. Bei Kleists 19 Reclam-Seiten (veröffentlicht 1806) geht es um die emotionale Achterbahn-Fahrt des Paares Jeronimo und Josephe samt ihrem unehelichen Kind Philipp. Wegen sittenwidrigem Verhalten soll sie mit Enthauptung bestraft werden, er plant im Gefängnis seinen Selbstmord. Doch ein verheerendes Ereignis, das Erdbeben, das 1647 in St. Jago (= Santiago de Chile) stattfindet, bedeutet für die beiden die überraschende Rettung und das erfreute Wiederfinden: „Wie viel Elend über die Welt kommen musste, damit sie glücklich würden“. Aber die Idylle und der Glaube, dass der menschliche Geist gerade angesichts einer Naturkatastrophe „wie eine schöne Blume“ aufgehe, währen nur kurz. Beim Dankgottesdienst (wofür?) in der Kirche kommt es zu einer Hasspredigt des Geistlichen gegen die Sittenverderbnis der Stadt, der aufgehetzte Mob verfällt sofort wieder in alte aggressive Verhaltensmuster und ermordet das sündige Paar mit Keulenhieben. Nur der kleine Philipp überlebt, er wird von Don Fernando als Pflegesohn angenommen - vielleicht ein Ausblick auf eine bessere Zukunft der Menschheit?
Bezüge zur gegenwärtigen Pandemie lassen sich da zweifellos finden, Kleist sprachlich fesselnde und ergebnisoffene Grübelei über Theodizee und die Dialektik der Weltgeschichte angesichts der Abläufe der Französischen Revolution lädt zur vertiefenden Nachbesprechung ein - was leider (noch) nicht in den Räumlichkeiten des Staatstheaters möglich ist!
Drei Ensemble-Mitglieder in leicht historisierender Schwarz-Weiß-Kleidung sprechen die Novelle ohne jede Kürzung vor einer schmucklosen silbergrauen Bretterwand (Bühne und Kostüme: Tanja Berndt), die kurz mit Morgenröte, häufiger mit Tageslicht oder Nachtdunkel angestrahlt wird: Pauline Kästner bewegt sich meist in der „Rolle“ der Josephe, Amadeus Köhli meist in der „Rolle“ des Jeronimo, Sascha Tuxhorn erledigt mit partieller Verstörung die erzählerischen Abschnitte und das heldenhafte Auftreten des Don Fernando. So entsteht der diskrete Charme eines Hörbuchs mit Bildschirmschoner und netter Hintergrundmusik - nach 55 Minuten ist alles vorbei.
Wer Lust zu einer vergleichenden Theaterfahrt hat, kann nach München reisen, wo das Residenztheater mit dem gleichen Text die Saison am 25. September eröffnen wird. Die Regie von Ulrich Rasche verspricht immerhin mehr Bühnenspektakel, mehr chorische Intensität und mehr musikalisches Drama.
Nürnberg spielt eben in dieser Saison zunächst mal in der 2. Liga!?
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/das-erdbeben-in-chili/19-09-2020/1700
https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/das-erdbeben-in-chili
Zdenek Adamec (UA) **
von Peter Handke
Regie: Friederike Heller
Salzburger Festspiele (Landestheater Salzburg)
Premiere am 2.8.2020
besuchte Vorstellung: 16.8.2020
Am 6. März 2003 hat sich der junge Tscheche Zdenek Adamec (18) auf dem Prager Wenzelsplatz öffentlich verbrannt und damit eine Serie von öffentlichen Selbsttötungen fortgesetzt, die 1969 der Student Jan Palach aus Protest gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes begonnen hatte. Adamec tat seine Motive in einer Internet-Botschaft kund, in der er die ganze Welt als "vom Geld dominiert und verdorben" bezeichnet, in der er das Fernsehen als "satanische Erfindung" tituliert, mit der Kinder zu blutrünstigen Monstern erzogen werden, und in der er von einer "echten Herrschaft des Volkes" träumt. Er beendet seinen Abschiedsbrief mit den Worten "Macht keinen Irren aus mir!"
Schon in seinem 2017 veröffentlichten Roman "Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere" ist Peter Handke auf diesen Fall gestoßen und lässt den jungen Mann Valter über Zdeneks Motive reflektieren: sein "Sterben war gemeint als Protest", er "hat sich aus der Welt katapultiert, um zu protestieren gegen die Welt". Nun entstand daraus ein Theatertext, der bei Suhrkamp veröffentlicht wurde und wenig später bei den verkürzten Salzburger Jubiläums-Festspielen seine Uraufführung fand. Der umstrittene Nobelpreisträger bemüht sich aber kaum um dokumentarische Recherche oder um dramatische Zuspitzung (wie das etwa Frank Wedekind beim Schülerselbstmord des Moritz Stiefel in "Frühlings Erwachen" getan hat), vielmehr mangelt er das Thema durch seine sehr beliebig wirkende Assoziations-Maschinerie, einer Mischung aus bildungsbürgerlichem name dropping und popkultureller Rückerinnerung. So entsteht ein lauwarmer, rätselhafter und leicht vergesslicher Theaterabend, in dem sieben rollenlose Schauspieler Handkes Textflächen aufsagen und drei Musiker banale und bedeutungsschwere Hintergrundmusik produzieren. Selbst das engagierte Programmheft der Dramaturgin Andrea Vilter kann mit einem mehrseitigen Glossar nicht erklären, warum plötzlich auf der Bühne Oldies wie "Black Is Black", "Summer Wine" oder "Memphis Tennessee" gesungen werden. Offensichtlich desorientiert steuert Regisseurin Friederike Heller die Akteure durch dieses sogenannte "Festspiel", das in einem quasi-sakralen Ambiente mit drehbarer gotischer Kreuzgang-Architektur stattfindet (Bühne: Sabine Kohlstedt). Sagen wir es direkt: Peter Handke ist ein belesener, aber weltfremder Scharlatan mit der Neigung zu punktueller Provokation, der eigentlich nichts mehr zu sagen hat, das aber mit sprachlicher Brillanz und Virtuosität trotzdem tut. Sein letztes sehens- und lesenswertes Produkt war "Immer noch Sturm" (2010).
https://www.suhrkamp.de/buecher/zden_k_adamec-peter_handke_42920.html
The Legend Of Georgia McBride (DSE) ****
von Matthew Lopez (aus dem Englischen übersetzt von Hannes Becker)
Regie: Christian Brey
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 25.1.2020
Bisher verortete man das Thema Drag-Queens nur in Castings-Shows des Privatfernsehen - wie derzeit auf ProSieben, wo eine illustre Jury aus Heidi Klum, Bill Kaulitz und Conchita Wurst ihr Urteil abgibt, ob pompös als Frauen verkleidete Männer lippensynchron angesagte Pop-Songs vortragen können. Mit „The Legend of Georgia McBride“, dem Stück des US-amerikanischen Autors Matthew Lopez kommt der Trend nun auch auf die Staatstheater-Bühne und erhält in Nürnberg eine fulminante deutschsprachige Erstaufführung.
Lopez hat sich dazu 2015 eine weitgehend banale Story ausgedacht, die ansatzweise an die „Ladies Night“ (bzw. an den Film „Ganz oder gar nicht“) erinnert, wo Stahlarbeiter aus Sheffield aus drängenden Geldsorgen eine Männer-Strip-Show auf die behaarten Beine stellten. Hier ist es nun der erfolglose Elvis-Presley-Imitator Casey, der (zunächst) unfreiwillig Teil einer Drag-Queen-Performance in einer Florida-Strandbar wird. Dabei lernt er einiges über die Außenseiter-Rolle dieser Akteure, gefährdet aber gleichzeitig das Hetero-Familienglück mit der schwangeren Ehefrau Jo (Süheyla Ünlü, die erst am Ende mitsingen darf). Es kommt zu drag-ödienhaften Krisensituationen und holzschnittartigen Entscheidungs-Dialogen, zu moralinsauren Untiefen der political correctness, die sich aber in einem in einem Alle-Menschen-werden-Brüder (oder Schwestern?)-Finale in Wohlgefallen auflösen. Zum Glück walzt die temporeiche Inszenierung von Christian Brey dieses Handlungsgerüst nicht zu breit aus und streut eine erfrischende Portion Selbstironie darüber.
Geschenkt, denn der Knaller des Abends sind die Drag-Queen-Auftritte von Pius Maria Cüppers als alternde Miss Tracy Mills, der sich in schriller Kostümierung über das Songmaterial von Barbara Streisand, Cher oder den Weather Girls hermacht, und von Yascha Finn Nolting, der als glitzerndes Rhinestone-Cowgirl mit dem Künstlernamen Georgia McBride die Country-Schnulzen von Loretta Lynn, Dolly Parton und den Dixie Chicks performt. Seine Aufnahmeprüfung besteht er mit einer Edith-Piaf-Impersonation, die eigentlich Miss Anorexia Nervosa (Maximilian Pulst) vortragen sollte, die aber beim Rollschuh-Stunt zu Sturze kommt. Als geldgieriger und abgebrühter Clubbesitzer Eddie sorgt Michael Hochstrasser für die passenden Ansagen.
Dazu hat Anette Hachmann die Drehbühne mit einem überdimensionalen Fuchs-Podium und einer funktionalen Garderobe bestückt, Kai Luczak zaubert eine punktgenaue Lightshow, Thomas Esser ist für den knalligen Sound verantwortlich und Yoko El Edrisi hat sich eine muntere Choreografie für vier männliche Triller-Girls ausgedacht. Am Ende verfällt die bestens unterhaltene Premieren-Gesellschaft in rhythmisches Klatschen und spendet stehende Ovationen. Diese Legende hat das Zeug zum generationen- und gender-übergreifenden M/W/D-Publikums-Renner!
Kaspar *****
von Peter Handke
Regie: Jan Philipp Gloger
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 30. 11. 2019
Wer zufällig am Nachmittag im Stadion des 1. FCN eine desolate Mannschafts-Aufstellung erlebt hatte, würde gerne den Satz sprechen, den am Abend im Schauspielhaus der Findling Kaspar Hauser anfangs intoniert: „Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist“. Und der andere wäre dann der historische Stadionbesucher aus dem Jahre 1968 gewesen, der eine Meister-Elf erleben durfte, der der damalige Vollzeit-Provokateur Peter Handke ein „Gedicht“ gewidmet hatte. Die wenig poetischen Verszeilen schmücken auch kurzzeitig die Feuerschutzwand der Schauspielhaus-Bühne, vor der Kaspar (Felix Mühlen mit gefährlicher Fallsucht) und seine beiden Einsager (Maximilian Pulst mit intelligenten pantomimischen Ideen und Janning Kahnert mit präziser Diktion) zum ersten Mal sehr wörtlich aufeinandertreffen.
Ab diesem Moment wird mit großem Sprachwitz und Bewegungstalent die Geschichte „Des Widerspenstigen Zähmung durch Sprache“ gespielt, das Regisseur Jan Philipp Gloger zusammen mit den Dramaturgie-Zuarbeitern Katharina Gerschler und Sascha Kölzow aus dem 1968er-Sprechstück von Handke herausdestilliert haben. Die Regieanweisungen des Autors wurden radikal und konsequent ignoriert (auch die eigentlich vorgeschriebene Pause mit akustischer Sprachfolter für die Zuschauer!), die Sprechtexte zu etwa zwei Drittel gestrichen - und die Copyright-Ergänzung „von Peter Handke“ müsste nun eigentlich „von und nach und mit und über Peter Handke“ heißen. Denn eine heutige Inszenierung kann eigentlich die aktuelle Diskussion über den Nobelpreisträger nicht ausblenden. So entwarf das Regie-Team eine höchst amüsante Zwischen-Passage, in der die verquast-esoterische Sprache und die dubiosen politischen Einlassungen des Herrn Handke (mit gleich dreifacher Präsenz auf der Bühne!) ironisch zerlegt werden - oder mit Boethius: „Wenn du geschwiegen hättest …“. Ansonsten montiert Gloger die schier endlosen Textbausteine aus Spracherwerb, Sprach-Ritualen und manipulativer Sprache in ein unterhaltsames szenisches Konzept, das Stationen der deutschen Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zitiert (Bühne: Judith Oswald). Der derangierte Kaspar durchläuft ein gut bürgerliches Biedermeier-Ensemble und ein strenges Schulzimmer mit hölzerner Zweierbank und Lehrerpult, bis er und seine Kollegen schließlich in der verspiegelten Samstagabend-Disco beweisen, dass man Handkes redundante Ich-Sätze auch als geschniegelten Popsong vortragen kann (Musik: Kostja Rapaport). So vergehen die pausenlosen 90 Minuten - im Gegensatz zu der anfangs erwähnten Fußball-Ödnis - wie im Fluge; der Abend wird zur lustvollen Sprecherziehung mit der Chance für Selbstreflexion samt aktuellem Debatten-Beiwerk ohne besserwisserischen Zeigefinger. Kaspars resignatives Fazit „Schon mit meinem ersten Satz bin ich in die Falle gegangen“ darf bei der angeregten Nachbesprechung gerne vergessen werden. Zu Beginn der letzten Spielzeit hat Jan Philipp Gloger mit dem Ionesco-Abend „Ein Stein fing Feuer“ ein Ausrufezeichen des gar nicht so absurden Theaters gesetzt, das ist ihm nun mit „Kaspar“ in ähnlicher Weise wieder gelungen.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/kaspar/03-12-2019/1930
Nora *****
von Henrik Ibsen
Regie: Andreas Kriegenburg
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 2.11.2019
Den Selbstzweifeln des Regisseurs Andreas Kriegenburg, ob man denn einer heutigen Schauspielerin noch die männlichen Unterdrückungsmechanismen des 19. Jahrhunderts zumuten könne, und ob es stimmig sei, den ersten weiblichen Emanzipationsversuch der Moderne (von der UNESCO als Weltdokumentenerbe gewürdigt) wiederum aus männlicher Perspektive zu inszenieren, ist es zu verdanken, dass das Publikum im Nürnberger Schauspielhaus eine furiose und zugleich nachdenkliche wie emotionale Version von Ibsens „Nora“ geboten bekam. Da mag auch ein bisschen Koketterie des erfahrenen Inszenierungs-Profis dabei sein, das Ergebnis des gut dreistündigen Theaterabends lässt es zu, alle Wenns und Abers beiseite zu wischen. Der Kniff, mit dem Kriegenburg schließlich seine Nürnberger „Nora“ legitimiert und zum Erfolg führt, ist ein doppelter: zum einen bedient er sich bei Bertolt Brecht, dem Theorievater des epischen Theaters, der schon vor etwa 80 Jahren forderte, dass der Schauspieler seine Figur lediglich zu zeigen habe, dass seine eigenen Gefühle nicht grundsätzlich die seiner Figur sein sollten. So entsteht über weite Strecken des Stückes ein anregender (neu geschriebener) Dialog zwischen der grandiosen Schauspielerin Pauline Kästner und ihrer Theaterfigur Nora Helmer. Dabei wandelt sich Pauline/Nora von der kapriziösen Lady in red zur rot geschminkten drama queen und schließlich zum Maskenball-Charlie-Chaplin, der angesichts des Ausbleibens einer wunderbaren Rettung nur noch den traurigen Abgang vollziehen will, der die Selbsterziehung nur in der Freiheit von Mann und Kindern verwirklicht sieht.
Die andere Aktualisierung besteht darin, dass sich Nora und Ehemann Torvald (Maximilian Pulst), der von ihr auch mal „mein kleiner Tori“ tituliert wird, über weite Strecken auf Augenhöhe begegnen. Der aalglatte Banker im Business-Anzug mutiert am Schluss zu einer derangierten Marilyn-Monroe-Puppe, er erkennt langsam, dass seine materielle Freiheit mit einem Rundlauf im Hamsterrad der Karriere erkauft ist.
Kriegenburg hat als gleichzeitiger Bühnenbildner einen funktionalen weißen, in der Größe veränderbaren Bühnenkasten (kein Puppenheim!) geschaffen, der als zentrales Bildsymbol auf der Rückwand eine überdimensionale Nora/Pauline-Aktfotografie zeigt: eine ganz und gar nicht pornografische Hügellandschaft, die Nora am liebsten mit sterbenden Föhren übermalen würde. Mit Plastik-Weihnachtsbaum, mobilem Kleiderschrank, E-Piano und Smartphone-Soundbox werden nur wenige Accessoires zugelassen. Dieses höchst reduzierte Mobiliar richtet den Blick auf das ebenfalls geschrumpfte Personal der Aufführung: Neben Nora und Torvald erlebt man in adäquater darstellerischer Qualität eine leicht verhuschte Kristine Linde mit Second-Hand-Klamotten (Julia Bartolome), einen um die Existenz kämpfenden Rechtsanwalt Krogstadt (Tjark Bernau) und einen den Tod ins Auge schauenden Pausen-Clown Dr. Rank (Raphael Rubino).
Langanhaltender Beifall und berechtigte Bravo-Rufe für Regie und Hauptdarstellerin. Unbedingt sehenswert!
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/nora/03-11-2019/1900
Der Verschwender ***
von Ferdinand Raimund
Inszenierung: Georg Schmiedleitner
Landestheater Linz (Schauspielhaus)
Premiere am 12.10.2019
besuchte Vorstellung: 23.10.2019
Als Hugo von Hofmannsthal die Uraufführung seines Stückes "Jedermann" 1911 in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt erlebte, konnte er noch nicht ahnen, dass er damit einen modernen Klassiker der pädagogischen Besserungsliteratur geschrieben hat. Erst die Entscheidung, diese szenische Umsetzung des Bibelspruches "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ zum touristischen Dauerbrenner der Salzburger Festspiele (seit 1920) zu machen, führte zur Kanonisierung des Mysterienspiels, das mittlerweile mehr vom Salzach-Ambiente denn vom Inhalt lebt. Dabei hatte der Österreicher Ferdinand Raimund schon 1834 ein Original-Zaubermärchen vom Sterben des reichen Mannes in Wien präsentiert: "Der Verschwender". Es handelt vom aufhaltsamen Abstieg des Julius von Flottwell, der sich trotz der Warnungen guter Geister dem Glanz des Mammons unterwirft und dann gut zwanzig Jahre später angesichts der Ruine seiner Existenz zu der Erkenntnis kommt: "Ich habe mich versündigt an der Macht des Geldes".
Regisseur Georg Schmiedleitner kehrt mit diesem Musterexemplar des Wiener Volkstheaters an die Anfänge seiner Karriere, nach Linz zurück. In einer bildstarken und musikalisch radikal modernisierten Fassung balanciert er dieses Stück zwischen bürgerlichem Tugendideal des 19. Jahrhunderts und aktueller Kapitalismuskritik. Die ziemlich vordergründige Gleichheits-Ideologie des Hobelliedes wird als Elektro-Pop-Hymne nur zitiert (Musik: Joachim Werner live am Klavier und an sonstigen Klangerzeugern), das wenig differenzierte Ideal der braven Handwerker-Familie wird durch Schminke und den Realismus der Rosa (Anna Rieser) kräftig konterkariert. Im Mittelpunkt der drehfreudigen Inszenierung steht Julius von Flottwell (Christian Higer), der zunächst im glänzenden Pyjama-Höschen mit protziger Goldkette durch das Publikum auf die Bühne klettert und dort einer feierfreudigen Party-Gesellschaft Kokain und Geldscheine zuwirft. Sein "Schloss" ist eine zweistöckige Wohnlandschaft, die oben als gläsernes Luxus-Penthouse und unten als Dienstboten-Areal mit Garage und enger Biedermeier-Kammer konstruiert wurde (Bühne: Florian Parbs). Am Ende sitzt Flottwell im abgewetzten Mantel wie Beckmann draußen vor der Tür seiner abgewrackten Residenz und lässt sich vom Tischler Valentin (Julian Sigl) erklären: "Da ist der allerärmste Mann dem anderen viel zu reich. Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt's beide gleich".
Leider kann die ambitionierte Bühnenfassung nicht auf ein gleichmäßig besetztes Ensemble zurückgreifen, sodass die Kontrastfiguren zum Verschwender (besonders der intrigante Kammerdiener Wolf) recht klischeehaft und oberflächlich ausfallen und selbst dem Protagonisten am Ende etwas die Luft ausgeht. Dennoch ein sehenswertes modernes Märchen, das im Gegensatz zum "Jedermann" mit surrealen Zwischentönen Nachdenklichkeit erzeugt.
https://www.landestheater-linz.at/schauspielhaus/stuecke/detail?EventSetID=3104&ref=3104155191241
I Love You, Turkey! ***
von Ceren Encan
Übersetzung aus dem Türkischen: Oliver Kontny
Regie: Selen Kara
Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)
Premiere am 5.10.2019
Seit mindestens einem Vierteljahrhundert stellt sich die Türkei in Bezug auf Europa die Frage „Reingehen oder draußen bleiben?“. Seit gut zehn Jahren erörtern junge Bewohner der Metropole Istanbul das Problem „Gehen oder Bleiben?“. Zu dieser Gruppe gehört ohne Zweifel auch die Dramaturgin Ceren Ercan, die vor Ort miterleben musste, wie eine Mehrheit (?) in der Türkei ihr Heil beim diktatorischen starken Mann und beim Abbau des liberalen Rechtsstaats sucht. Dieses Thema hat Ercan zu einer Bühnen-Trilogie angeregt, deren Teil 1 „I Love You, Turkey!“ 2017 beim Internationalen Theaterfestival in Istanbul für Aufsehen sorgte. In den Nürnberger Kammerspielen ist nun zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung (von Oliver Kontny) dieses höchst aktuellen Stücks zu sehen.
Der Prolog vor den Bühne wagt einen fragwürdigen geschichtlichen Verweis: zwei Schauspieler zitieren aus dem Gespräch von Rainer Werner Fassbinder mit seiner Mutter im „Deutschen Herbst“ 1979: „Ich hab auch Angst, aber ich hab das Gefühl, dass ich hier nicht weg kann.“ Hätte man nicht besser an die Situation in der DDR 1989 oder im Deutschen Reich ab 1933 erinnern sollen?
Der zentrale Schauplatz danach ist nicht ohne Symbolik: ein Waschsalon, der mit Stahlgerüst und grauen Fliesen das Bild einer Gefängniszelle vermittelt. Darin neun Waschmaschinen, deren beleuchtete Ladefenster an einschüchternde Überwachungskameras erinnern (Bühne: Lydia Merkel). Kafka und Orwell lassen grüßen, denn hier treffen sich Menschen, denen aus unbekannten Gründen zu Hause das Wasser abgestellt wurde und die feststellen müssen, dass ihre Präsenz in den sozialen Medien lückenlos überwacht wird. Da ist die Übersetzerin Irem (Lisa Mies), die seit über 90 Tagen in einen Selbstwäsche-Streik getreten ist, weil ihr an der Türkei einiges stinkt. Verschüchtert die modebewusste Damla (Süheyla Ünlü), deren Freund aus Arizona Freiheits-Mails schreibt. Dazu die junge Mutter Defne (Lea Sophie Salfeld), die ihren Sohn Dervish Direnç (auf deutsch: Widerstand) genannt hat, und der schwule Radiomoderator Emre (Amadeus Köhli), der in einer bewegenden Rede von der Niederschlagung der Gay-Pride Parade erzählt. Ihnen gegenüber steht der Salon-Manager Alican (Nicolas Frederic Djuren), ein leicht übergriffiger Handlanger des Systems mit unklarer Vergangenheit. Er stöbert in der Wäsche der Kunden und findet ein T-Shirt mit verdächtigem Aufdruck, ein Kurdentuch und einen Kissenbezug mit westlichen Comicfiguren: „Wenn es ihnen hier nicht passt, dann können sie auch das Land verlassen!“
Aus dieser bewusst überzeichneten Personen-Aufstellung entsteht in der Regie von Selen Kara, die in der letzten Saison den sehr regionalen Liederabend „Die Musik war schuld“ verantwortet hat, eine flotte Nummern-Revue mit einigem szenischen Spektakel, mit besinnlichen Momenten und eindringlichen Monologen, untermalt von Video-Einspielungen und getragenem Background-Piano (Vera Mohrs). Das neue Grundprinzip der Diversität ist in jedem Fall gewahrt: es gibt ein sehr informatives zweisprachiges Programmheft und türkische Untertitel an beiden Bühnenseiten. Der traditionell deutsche Besucher des Staatstheaters erhält einen lohnenswerten Zeitgeschichte-Crash-Kurs „Türkisch für Anfänger“, ob auch Deutsch-Türken aus der Umgebung in großer Zahl diese Einladung zur Selbstreflexion annehmen werden, bleibt abzuwarten. Das Stück jedenfalls endet mit Ablenkung bei einer Schaumparty, einem Bühnen-Dreh zur westlichen Cocktail-Bar und langem Beifall für die Akteure - besonders für die anwesende Autorin Ceren Ercan.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/i-love-you-turkey-dse/09-10-2019/1930
Die Besessenen ***
nach den Bakchen des Euripides in einer Übertragung von Roland Schimmelpfennig
Inszenierung: Jan Philip Gloger
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 28.9.2019
besuchte Vorstellung: 29.9.2019
Die Götter sind ziemlich sauer, wenn man als normaler Sterblicher an ihrer Göttlichkeit zweifelt. Und sie denken sich brutale Strafen für die Ungläubigen aus, damit künftighin niemand mehr ihre Allmacht in Frage stellt. So könnte man in „einfachem Deutsch“ die Quintessenz von Euripides‘ erst posthum (also etwa um 400 v. Chr.) aufgeführter Tragödie „Die Bakchen“ beschreiben. Eine ganz andere Lesart wäre natürlich auch möglich: will hier ein aufgeklärter Schriftsteller die Vernunftwidrigkeit jener dionysischen Verblendung und Unmenschlichkeit in drastischer Weise ins Schaufenster stellen? Soll hier Dionysos, der Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase als Rattenfänger von Hameln an den Theaterpranger gestellt werden?
Während nun Regisseur Ulrich Rasche beim Opening des Wiener Burgtheaters zu diesem Stück wieder einmal einen stählernen Maschinenpark auf die Bühne wuchtete und das Ensemble in monotonen chorischen Sprechgesang versetzte, geht Jan Philipp Gloger bei der Saisoneröffnung in Nürnberg einen anderen, allerdings auch nicht gänzlich überzeugenden Weg: er unterwirft die Euripides-Tragödie einem textlichen Re-Launch (von Roland Schimmelpfennig) und dreht das Stück - zusammen mit den beiden Dramaturgen Brigitte Ostermann und Fabian Schmidtlein - durch eine gewagte Assoziations-Mühle mit punktuellen Kalauer-Untiefen. Das beginnt schon bei dem Titel: „Die Besessenen“. Dabei sind jene in Wahnsinn verfallene Jünger des Dionysos-Kultes gar nicht zu sehen (Fake News?) und die beiden alten Weisen (Kadmos und Teiresias) wirken eher wie nostalgische Alt-Hippies aus San Francisco („wear some flowers in your hair“). Die markanten Personen des Stückes sind eindeutig der jung-dynamische thebanische König Pentheus (Sascha Tuxhorn) und seine Mutter Agaue (Ulrike Arnold), die sich zunächst als Vertreter einer rationalen Staatsmacht positionieren. Bei Agaue beginnt diese Rolle mit einer ikonisch drapierten Politiker-Festrede (übernommen von dem römischen Philosophen Chrysostomos), die aber bald vom göttlichen Dreigestirn (Cem Lukas Yeginer, Annette Büschelberger, Anna Klimovitskaya) handgreiflich gestört wird. Pentheus will gegen das dionysische Treiben die traditionellen Sanktionsmittel des Staates anwenden, bis auch er in seiner Identität als mächtiger weißer Mann empfindlich erschüttert wird und sich in Frauenkleidung und Blondie-Perücke als voyeuristische Conchita wiederfindet. Am Ende ist er der im wahrsten Sinne des Wortes Zerrissene, seine Mutter die Kindes-Mörderin und Heimatlose.
Dazu eröffnet das Bühnenbild von Judith Oswald noch eine etwas rätselhafte Meta-Ebene: ein auf-, ab- und zubewegter Vorhang hinter dem Vorhang, der beidseitig bespielt wird und ein bisschen das Spannungsfeld zwischen Wahn und Wirklichkeit ausleuchten soll.
Direktor Gloger hält sich wieder an die scheinbar fest etablierte Nürnberger Theater-Zeit: 100 Minuten ohne Pause. Danach allseitiges Stirnrunzeln.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/die-besessenen/01-10-2019/1930
Die Empörten **
von Theresia Walser
Inszenierung: Burkhard C. Kominski
Landestheater Salzburg (Salzburger Festspiele)
mit: Caroline Peters, Silke Bodenbender, Andre Jung
Premiere am 18.8.2019
besuchte Vorstellung: 29.8.2019
Das ist die Crux von Auftragsarbeiten: man kauft die Katze im Sack, hofft auf Qualität der Namen und auf eine stimmige Vorbereitung. Im vorliegenden Fall sollte Theresia Walser ein Stück für die Salzburger Festspiele schreiben, das danach (= ab Januar 2020) noch am Schauspiel Stuttgart weiterverwertet werden kann. Das Ergebnis ist ein reichlich zähes Kammerspiel, das zwar gängige Problemfelder der Gegenwart anspricht, jedoch nie zu einem wirklich bedenkenswerten Theaterabend wird.
Die Autorin Walser liefert im Wesentlichen feuilletonistische Textflächen ab, die mal gebremst provokativ, dann wieder stilistisch bemüht in eine groteske Handlung gepresst wurden. Natürlich wissen wir, dass bei tragischen Unfällen (hier rauschte ein Pizza-Bote mit Lieferwagen in die Fußgängerzone) ein Terror-Verdacht in kleinen Städtchen zur Hysterie führen kann, dass Kommunalpolitiker manchmal Kot oder Dreck oder totes Getier im Briefkasten vorfinden, das man über Kreuze in Amtszimmern streiten kann und dass aus einstmals links sozialisierten Kindern auch rechtspopulistische Schreihälsinnen werden können. Doch was hier in knapp zwei Stunden die Bürgermeisterin (Caroline Peters), ihr Bruder, ihr Redenschreiber (Andre Jung) und ihre AfD(?)-Gegenkandidatin (Silke Bodenbender) im Vorfeld der geplanten Trauerfeier miteinander verhandeln, dreht sich mit gestelzten Monologen und banalen Dialogen virtuos im Kreis. Wenn dann Frau Achmedi (Anke Schubert), die Frau des Opfers, die Bühne betritt, wird es kurzzeitig besinnlich, doch auch ihre Logik und ihre Aussagen bleiben vage und ambivalent. Ach ja, wahrscheinlich ist eben die Welt so!
Die im Titel angekündigten "Empörten", also doch wohl die heute so bekannten Wutbürger sind auf der Bühne weder zu sehen noch zu hören. Und der literaturhistorische Verweis auf den Kreon-Stoff führt gänzlich in die Irre, denn es war ja Antigone die für ihren Bruder das Recht zur Bestattung einforderte. Hier aber will die Bürgermeisterin ihren toten Bruder in einer Holzkiste verstecken - also sozusagen die Leiche im Keller zwischenlagern - um bei der bevorstehenden Wahl bessere Chancen auf das Amt zu haben. Regisseur Kominski verlässt sich angesichts dieser Textschwäche ganz auf die Sprechmacht der Hauptdarsteller, wobei ihm aber Silke Bodenbender wegen offensichtlicher Profillosigkeit ausfällt. Auch die Bühne (Florian Etti und Sebastian Pircher) mit ihrer wenig schlüssigen Landschafts-Video-Projektion im Hintergrund bringt keine Spannung ins Geschehen. Zurück zum Anfang: Qualität der Namen ist eben noch keine Garantie für die Qualität eines Theaterabends!
https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/premieren/die-empoerten/
Die besondere Art des Aneinander-Vorbei-Redens
Georg Schmiedleitner über seine Regie- und Leseerfahrungen
mit dem Autor Ödön von Horváth
Welche Stationen der Begegnung / Auseinandersetzung mit Ödön von Horváth (als Leser, als Besucher von Theateraufführungen, als verantwortlicher Regisseur) fallen Ihnen ein?
Meine erste Begegnung als junger Regisseur fand am Anfang der 1990er Jahre in Linz statt. Damals arbeiteten wir an Horváths Frühwerk „Mord in der Mohrengasse“ und brachten eine sehr experimentelle Inszenierung auf die Bühne. Seitdem habe ich bei Horváths bekannten Volksstücken etwa neunmal Regie geführt, z. B. bei den Salzburger Festspielen, im Wiener Volkstheater oder im Nürnberger Staatstheater. Als Zuschauer war ich besonders beeindruckt von Christoph Marthalers Produktion „Kasimir und Karoline“ 1997 in Hamburg und von Martins Kuŝejs Interpretation der „Geschichten aus dem Wiener Wald“ 1998 ebenfalls in Hamburg.
Was reizt Sie als Regisseur an seinen Volksstücken?
In erster Linie die äußerst präzisen und hintersinnigen Dialoge. Auch die Schauspieler merken schon bei den ersten Proben, dass hier eine ganz besondere Art des Miteinander- und des Aneinandervorbeiredens stattfindet. Wenn ich die Sätze von Horváth höre wie etwa den von Oskar zu Marianne („Jetzt möcht ich in deinen Kopf hineinsehen können, ich möcht dir mal die Hirnschale herunter und nachkontrollieren, was du da drinnen denkst“), muss ich sagen, dass er ganz nahe bei Georg Büchner, bei Thomas Bernhard, ja sogar bei Samuel Beckett ist.
Wie aktuell ist für Sie das Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“?
Ich halte die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ für ein zeitloses Werk, das allerdings auch ohne erkennbaren Zeitbezug aufgeführt werden sollte. Man sieht Menschen, die vom Leben überfordert sind, die mit dem Tempo der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr mithalten können. Sie versuchen diesen Konflikt irgendwie zu überspielen und ihr Scheitern durch vordergründiges Sprechen zu übertünchen.
Wie gehen Sie als Regisseur mit Horváths Aussage in seiner „Gebrauchsanweisung“ um, in der es heißt, es dürfe kein Wort Dialekt gesprochen werden.
Ich halte Horváths Gebrauchsanweisungen insgesamt für sehr hilfreich und teile die Meinung, dass man die Sprache der Akteure von deutlicher Dialektfärbung freihalten sollte. Gerade bei österreichischen Schauspielern ist es aber sehr schwierig, dies verständlich zu machen, da sie glauben in den berühmten Wiener Schmäh verfallen zu müssen.
Wie sehr fühlen Sie sich dem musikalischen Hintergrund des Stücks verpflichtet?
Ich habe bei allen meinen Inszenierungen die musikalischen Vorgaben zum Teil berücksichtigt, habe aber auch durch bewusste Überzeichnung der Lieder, die etwa beim Heurigen gesungen werden, für eine Verfremdung der Wiener Walzerseligkeit gesorgt.
Wie viel Tragödie würden Sie bei dem Stück zulassen?
Es gibt unzweifelhaft ausgesprochen tragische Momente: etwa dann, wenn der Zauberkönig nach Mariannes Auftritt in der Bar Maxim erklärt „ich bin in einer Untergangsstimmung“ um dann fortzufahren „jetzt möchte ich Ansichtskarten schreiben, damit die Leut vor Neid zerplatzen, wenn sie durch mich selbst erfahren, wie gut dass es mir geht“. Marianne kommt dann mit ihm ins Gespräch und erklärt, dass ihr Sohn seinen Namen Leopold trägt.
Wie erklären Sie Horváths Leitmotiv von der menschlichen Dummheit („nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit“)?
Es handelt sich nicht um das, was man herkömmlich als Dummheit bezeichnet, es ist vielmehr die angelernte Sprache, jene Kalendersprüche, mit denen die Menschen kommunizieren. Ich sehe da Parallelen zu der heutigen virtuellen Realität, wo die Leute via Twitter, Facebook und Instagram in einer drastisch verkürzten und damit auch deutlich weniger reflektierenden Sprache unterwegs sind.
Wie erklären Sie die Horváth-Renaissance einerseits und die Brecht-Flaute andererseits auf den deutschsprachigen Bühnen nach 1965?
Als Regisseur muss ich einfach feststellen, dass einem Horváth viel mehr Freiheiten lässt, dass der Raum für Interpretationen und Variationen viel größer ist. Wenn man Brecht inszeniert, ist man sehr stark von dem ideologischen Hintergrund und von dessen Dramenkonzeption gebunden. Das geht wahrscheinlich außer mir auch anderen Theaterschaffenden so.
Wie gehen Sie mit einer Theaterkritik um, die beispielweise schreibt: Es „fehlt Schmiedleitner ein entscheidender Zugriff auf das Stück. Drei Stunden lang wird nicht deutlich, was ihn an Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ eigentlich interessiert“ (Wien 2008)?
Das hat mich schon getroffen, ich habe es nicht mit Freude gelesen. Allerdings wurde ein paar Wochen später die Aufführung als „Kult“ tituliert. So unterschieden sich die Ansichten.
Das Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“ ist in einigen Bundesländern verpflichtende Lektüre für das Abitur. Sollte man ein solches Theaterstück im Unterricht nur lesen, ohne je eine Inszenierung gesehen zu haben? Ist Horváths Volksstück auch für eine Schülerbühne geeignet?
Grundsätzlich finde ich es gut, dass in der Schule Theaterstücke von Horváth gelesen werden. Man sollte im Unterricht allerdings unbedingt auch Raum lassen für Versuche einer szenischen Lesung, um den Schülern ein Gefühl für die Tiefe der Horváthschen Dialoge zu geben. Noch besser ist natürlich - wenn möglich - der Besuch einer Aufführung, die Anlass zu Diskussion gibt. Ob die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ für eine Schülerbühne geeignet sind, wage ich zu bezweifeln. Denn es scheint mir für Amateure schwierig, die Abgründigkeit einiger Charaktere adäquat umzusetzen.
Das Gespräch wurde am 23.5.2019 in Nürnberg geführt
Der Sandmann ***
von E.T.A. Hoffmann (in einer Fassung von Clara Weyde und Brigitte Ostermann)
Inszenierung: Clara Weyde
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 1.6.2019
Ach, waren das noch (gute?) Zeiten, als im Theater Bühnenstücke aufgeführt wurden, die dafür geschrieben, mit Regieanweisungen versehen und von themenbezogenen Dialogen angetrieben wurden. Doch spätestens seit Elfriede Jelineks Textflächen und den Erfolgen der szenischen Umsetzung von Bestseller-Romanen wie „Tschick“ und „Auerhaus“ wird alles Geschriebene, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist, von ambitionierten DramaturgInnen auf Bühnentauglichkeit untersucht und im Rahmen einer kreativen Textwerkstatt präsentiert.
So nun auch E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“, eine feinsinnige, hintergründige Erzählung aus dem Jahr 1816, die das Spannungsfeld zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen dunklen Mächten und menschlicher Vernunft ausleuchtet. Diesen Klassiker der schwarzen Romantik, der in ein paar Tagen auch im Münchner Residenztheater seine Premiere erleben wird, haben Clara Weyde und Brigitte Ostermann für die Nürnberger Staatstheater-Bühne zugerichtet, wobei die negative Konnotation des Verbs „zurichten“ für diese Produktion gar nicht so abwegig erscheint. Mit gehörigem Assoziations-Aufwand wird die kleine Prosa-Erzählung nach allen Regeln der Kunst bebildert, ohne dabei jemals die Substanz der bloßen Lektüre zu erreichen. Die Schauspieler stecken in Kostümen, die an Fliegermonturen des frühen 20. Jahrhunderts erinnern, die Bühne (von David Hohmann) zeigt sich als dunkel verholzte Aussegnungshalle, in der sich einmal der Blick auf Caspar David Friedrichs nachgestelltes Gemälde „Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung)“ öffnet. Das Ensemble übt sich in gar wunderlichen Choreografien (erdacht von José Hurtado) - sei es als Mönchskutten-Polonaise, als barocke Tanz-Formation oder als Electropop-Zappelphilippiade - und erinnert auch wegen der uniform geschminkten Gesichter an Robert-Wilsonhaftes Figurentheater (der übrigens schon 2017 bei den Ruhrfestspielen den „Sandmann“ auf die Bühne gebracht hat). Die originelle Textstruktur von Hoffmanns Erzählung wird einer grundlegenden Umstellung unterzogen und mit zahlreichen Variationen angereichert. Deshalb mutiert der menschliche Automat Olimpia (Pauline Kästner in einer bemerkenswerten Rollenstudie) zur living doll, zu einem Produkt der künstlichen Intelligenz, angelehnt an die häusliche Befehlsempfängerin Alexa oder an aktuelle Pflegeroboter. Die Hauptperson Nathanael (Maximilian Pulst) verfolgt das traumatische Geschehen als lebendige Leiche, die aus dem Sarg hüpft und in sprunghaften Rückblicken die eigene Krankheitsgeschichte nacherlebt. Als Professor Spalanzani bekommt Sacha Tuxhorn wieder einmal die Möglichkeit, einen seiner wirren, aber fesselnden Monologe abzuliefern; auch einige Kollegen dürfen Sprachspielerisches weitgehend sinnfrei ausprobieren.
Für die Augen, jenem zentralen Symbol der Geschichte, wird also allerhand geboten; wer aber ohne vorherige Lektüre oder qualifizierte Einführung ins Theater geht, dürfte ansonsten nur Bahnhof verstehen und in einer „zerrissenen Stimmung des Geistes, die … alle Gedanken verstört …“ die Räumlichkeiten nach 95 pausenlosen Minuten wieder verlassen.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/der-sandmann/02-06-2019/1900
Herzliches Beileid ***
von Georges Feydeau
Inszenierung: Dieter Dorn
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 10.5.2019
Am Anfang scheint noch alles in bester Ordnung: Madame Yvonne steckt wohlgefüttert in ihrer Bettenburg (oder: Matratzengruft), höchst poetisch umhüllt von einem riesigen Chiffon-Vorhang. Doch dann klingelt es heftig an der Tür, draußen steht kein Feuerwehrmann (wie in Ionescos „Kahler Sängerin“), sondern der spätheimkehrende Ehemann Lucien, der leicht derangiert nach einem ausschweifenden Künstlerball um vier Uhr früh seine Wohnung ansteuert, jedoch seinen Schlüssel vergessen hat. Das Chiffon-Zelt verschwindet ansehnlich in Richtung Hinterbühne, übrig bleibt ein Schlafzimmer in einer Bühnen-Pappschachtel (arrangiert von Peter Nitzsche) als Austragungsort einer deftigen Zimmerschlacht. Denn die Eheleute sind sich in wohliger Abneigung zugetan und lieben es, sich gegenseitig künstlerische oder körperliche Defizite an den Kopf (d.h. bei Lucien: an die Ludwig-XIV-Perücke) zu werfen. Darunter leidet auch das verhuschte Dienstmädchen Annette (Süheyla Ünlü), die nun das Bett räumen, Kamillentee servieren und Garderobe bereitstellen muss. Die launige Groteske erlebt ihren Höhepunkt, als der Diener Joseph (Yascha Finn Nolting) die Nachricht vom plötzlichen Tod der (Schwieger-) Mutter überbringt. Soll man sich nun über die anstehende Erbschaft freuen oder einen Menschen betrauern, den man vor kurzem noch als „Kamel‘“ tituliert hat? Am Ende - und das heißt schon nach 70 Minuten - kommt es in der Tradition der Verwechslungs-Salon-Komödie jedoch ganz anders.
Schauspieldirektor Gloger hat für diesen Abend seinen Münchner Lehrmeister Dieter Dorn (83) gewinnen können; dieser wollte allerdings die französische Miniatur mit Becketts „Glückliche Tage“ koppeln und damit sozusagen die Szenen einer Ehe ins absurde Universum der 1960er Jahre weitertransportieren. Doch nach einem Einspruch von Becketts Erben (klingt wie der Name einer Neo-Gothic-Band?) musste Dorn umdisponieren und sich auf die boulevardeske, im Humor aber recht bittere Komödie konzentrieren. Dies tut er mit dem konventionellen Regie-Florett sowie einer präzisen Sprach- und Personen-Führung. So entstehen - auch dank Ulrike Arnold und Thomas Nunner - zwei eindrucksvolle Charakterbilder, die es nicht beim Klamauk bewenden lassen: der mittelständische Buchhalter, der gerne am Busen der großen Kunst schnuppern würde, und die fallsüchtige Ehefrau, die ihre Brüste nicht mit Kleiderhaken verglichen haben möchte. Am frühen Ende gibt es langen Beifall und das wirkliche Bedauern über die verhinderte Verlängerung mit Sandburg, Winnie und Willie.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/herzliches-beileid/16-05-2019/1930
Lazarus ****
von David Bowie und Enda Walsh
Inszenierung: Tilo Nest
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Premiere am 2.2.2019
Vor drei Jahren hat sich David Bowie von dieser Welt verabschiedet. Seine letzten künstlerischen Lebenszeichen waren das Album „Black Star“ mit der Single „Lazarus“ und einem dazu gehörigen vieldeutigen Video-Clip. In Zusammenarbeit mit dem irischen Dramatiker Enda Walsh konzipierte er das szenische Projekt „Lazarus“, das man Musical nennen soll - aber nicht muss. Nürnberg ist nun nach Düsseldorf, Hamburg und Bremen die vierte Aufführungs-Station der deutschen Textfassung.
Der Berliner Tilo Nest ist für die Inszenierung verantwortlich und hat dafür ein buntes Assoziations-Arsenal ausgepackt, das zum Glück nicht den Anspruch erhebt, irgendetwas abschließend zu erklären. Der Schauplatz mit seiner grau-nebligen Wartesaal-Atmosphäre erinnert an Andre Hellers Verszeile von New York als einem Fundbüro, bei dem sich die Verlorenen selber abgeben. Aber: „This is not America“, das ist die fiebrige Traumwelt, das ist die Passionsgeschichte des Thomas Jerome Newton, der von der Schwerkraft der Erde gefesselt ist und an irreversibler Welt-Fremdheit leidet. Er ist ein leichenblasses Phantom, jedoch nicht der Oper, sondern des Alltags. In seinem Gin-getränkten Kopf spielt sich ein ziemlich wirres Kino ab, das manchmal wie Botho Strauß‘ „Paare, Passanten“, manchmal wie „Star Trek“ und manchmal wie „E.T.“ wirkt. Sascha Tuxhorn, ein Schauspieler der den Satzbruch zum grandiosen Stilmittel ausdeuten kann, präsentiert die Hauptrolle keineswegs als David-Bowie-Klon, eher wirkt er wie eine Mischung aus Arthur Millers Handlungsreisendem und Borcherts Kriegsheimkehrer Beckmann.
Erinnerungen an eine Mary Lou werden durch den Song von Ricky Nelson zitiert, ein mephistophelischer Valentine (auch vokal sehr präsent: Nicolas Frederick Djuren) verweist auf die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, an die Ambivalenz von eros und thanatos. Menschen tauchen auf, die helfen wollen, aber keinen Zugang finden: der „Sozialarbeiter“ Michael (Frank Damerius), die unglücklich verliebte Elly (Lea Sophie Salfeld) und schließlich das irreale Mädchen (Pauline Kästner). Letztere baut verträumt mit Klebeband eine Rakete, um gemeinsam die Erde zu verlassen, was aber natürlich zum Scheitern verurteilt ist. Im Mittelpunkt des zweistündigen Abends steht eindeutig die Musik von David Bowie, 17 Songs aus den letzten fast fünfzig Jahren (von „The Man Who Sold The World“ bis „No Plan“), getragen durch eine soundstarke Acht-Personen-Live-Band und den putzigen Backgroundchor der Teenage Girls rund um die beiden musikalischen Leiter Vera Mohrs und Kostia Rapoport. Stefan Heyne reizt die Möglichkeiten der Nürnberger Bühnenmechanik dankbar aus, Nebel- und Windmaschinen sowie Video-Projektionen (letztere allerdings in Ermangelung einer sinnvollen Projektionsfläche verschenkt!) sind ja eh schon Standard-Zugaben.
Eines ist sicher: zu diesem Musical werden keine Pauschal-Touristen mit Fernbussen chauffiert, dafür könnten aber David-Bowie-Fans, ernsthafte Schauspiel-Gänger und Suchende aller Art an dem bildstarken Spektakel Freude haben. Das resignative Nachwort ergibt sich aus den „Hope“-Kritzeleien im Bühnenbereich: „die Hoffnung stirbt zuletzt, aber auch sie stirbt!“ Faszinierend, aber sehr, sehr rätselhaft! Langanhaltender Beifall des Premieren-Publikums.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/lazarus/12.02.2019/1930
Das Ding ***
Von Philipp Löhle
Inszenierung: Jan Philipp Gloger
Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)
Premiere am 15.11.2018
besuchte Vorstellung am 19.1.2019
Das Ding ist nicht ganz neu: schon 2011 wurde das Stück von Philipp Löhle geschrieben, dann brachte es Jan Philipp Gloger am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und bei den Ruhrfestspielen auf die Bühne. Nun also ist das Ding mit dem Theaterdirektor, mit seinem Hausautor Löhle und mit dem Schauspieler Janning Kahnert nach Nürnberg gewandert. Das Ding ist eine Baumwollsaat mit weißen Flusen drumrum. Das Ding ist aber gleichzeitig ein Dingsymbol für die Globalisierung. Und somit ist „Das Ding“ eine leicht komödiantische oder groteske Globalisierungs-Parabel, die zeigt, wie vieles mit vielem vernetzt ist, wie manches rund um die Welt ge- und verhandelt wird.
Das Stück beginnt mit einem szenischen Prolog vor etwa 500 Jahren, als der portugiesische Kapitän Magellan unter spanischer Flagge die erste WorldWideUmsegelung schaffte. Dann aber übernimmt das eigentliche Ding die Hauptrolle: es wird in Afrika geerntet, nach China verschifft, dort zum einem Sporttrikot verarbeitet, von einem deutschen ambitionierten Hobby-Fußballer (Maximilian Pulst in der Rolle des Patrick) getragen, von einem liebestollen Chinesen durchschossen und schließlich als Restmüll wieder nach Afrika weitergeleitet.
Fünf Schauspieler schlüpfen auf der schmucklosen Bühne in ca. zehn Rollen, bedienen sich aus zwei Kartons mit Perücken und anderen Kopfbedeckungen und bringen mit viel Engagement und komödiantischem Talent den doch etwas konstruiert wirkenden Text zum Leben. Es vermischt sich Privates - die Ehekrise von Katrin (Anna Klimovitskaya) und Thomas (Tjark Bernau) - mit Weltpolitischem, ein Zufallsfoto aus dem Kinderzimmer eines verstorbenen Mädchens wird zum viel diskutierten Ausstellungsstück in Museen und der Schweizer Beat handelt nach einer Pleite bei Bio-Saaten mit abgewrackten Bürgerkriegs-Waffen. Ganz klar(?): die Gleichzeitigkeit von Globalisierung und Neuer Unübersichtlichkeit bestimmt unser Leben! Löhle stellt sein Handlungs-Puzzle ohne didaktischen Zeigefinger zur Diskussion und Regisseur Gloger erzeugt ohne großen Aufwand etwas, was man kritische Unterhaltung nennen könnte.
Mittlerweile gibt es ein von Philipp Löhle mit afrikanischen Schauspielern erarbeitetes Parallelstück („Das Dong“) - fehlt nur noch ein Stück über den chinesischen Politiker („Der Deng“) und über das Pro und Contra von Biogas („Der Dung“)! Dingeling!
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/das-ding/26.01.2019/1930
Der erste Mensch ****
von Albert Camus
Inszenierung: Michael Mühleis (ensemble.sagas)
mit Joachim Król
Stadttheater Fürth (20.1.2019)
Vom Tellerwäscher zum Millionär? Keineswegs: vom bildungsfernen Kind im Armenviertel von Algier zum Literaturnobelpreisträger; das ist die unglaubliche (?) Geschichte von Albert Camus. Joachim Król präsentierte diese Erfolgsstory als musikalisch unterlegte Bühnen-Lesung im voll besetzten Fürther Stadttheater.
Als der Wagen des Verlegers Michel Gallimard am 4. Januar 1960 auf der Strecke von Paris in die Provence auf einen Alleebaum prallte, bedeutete dies auch das Ende des Beifahrers: des Schriftstellers und Philosophen Albert Camus. Auf dem Rücksitz überlebte aber ein 144seitiges Manuskript in einem Lederkoffer, das erst 34 Jahre später unter den Titel „Der erste Mensch“ erschienen ist. Mit diesem Roman wollte der Literatur-Nobelpreisträger Camus (geboren 1913) eine Suche nach seinen familiären Wurzeln und nach seinem Aufwachsen in der französischen Kolonie Algerien unternehmen. Er erfand dazu die Kunstfigur Jacques Cormery, das alter Ego des Verfassers, der sich als 40jähriger am Soldatengrab seines Vaters in die Vergangenheit zurückversetzt.
Martin Mühleis vom ensemble.sagas interpretiert diesen Text als exemplarischen Bildungsroman, er konzentriert sich auf Passagen, die zeigen, wie es der kleine Jacques/Albert schafft, die bildungsferne Welt der Mutter (als Analphabetin) und der Großmutter (als gestrenges Familienoberhaupt) durch den Übertritt an ein Gymnasium in Algier zu verlassen und seine Lust auf Lernen, Lesen und Erkenntnis zu stillen. Schlüsselfigur (und Ersatz-Vater) ist dabei der Volksschullehrer Germain, der die Talente des Zehnjährigen erkennt, ihm ein Stipendium verschafft und damit die Bedenken der Großmutter zerstreut.
Im Mittelpunkt der literarischen Bühnenproduktion steht der vor allem als Frankfurter Tatort-Kommissar bekannte Schauspieler Joachim Król. Er sitzt hinter einem Lesepult auf einem hohen Barhocker und trägt mit großem stimmlichem und körperlichem Einsatz die Geschichte des kleinen Jacques vor. Mit Händen und Füßen verdeutlicht er die einzelnen Szenen: den Jagdausflug mit Onkel Etienne, die ritualisierte Kommunion, die Aufnahmeprüfung für das Lyzeum, die Preisverleihung an den herausragenden Schüler und die wenig erfreuliche, aber finanziell notwendige Ferienarbeit. Umrahmt wird Król von dem fünfköpfigen „Orchestre du Soleil“, das mit Akkordeon, Oud, Klarinette, Bass und Perkussion einen maghrebinischen Klangteppich als Hintergrund bereitstellt.
Der Theaterabend, den auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt, verbreitet eine positive Grundstimmung, eine Hoffnung auf Bildungs-Chancengerechtigkeit jenseits aller sozialen Unterschiede und entgegen allen zweifelnden OECD-Gutachten. Getrübt wird diese Atmosphäre nur durch die nervige dreimalige Warteschleife hinterher: an der Garderobe, am Kassenautomaten und an der Ausfahrt der Tiefgarage!
https://www.sagas.de/kuenstler/joachim-krol
Zum Nachlesen: Albert Camus: Der erste Mensch. Rowohlt Taschenbuch Verlag (Reinbek 1997), 288 Seiten, 10,00 €
Der Zorn der Wälder *****
von Alexander Eisenach
Inszenierung: Kieran Joel
Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)
Premiere am 5.10.2018
besuchte Vorstellung am 29.12.2018
Ist es möglich, einen politisch-philosophischen Diskurs in den Handlungsrahmen eines schwarzen Krimis der 1920er Jahre zu stecken und damit einen kurzweiligen dramatischen Abend auf der Bühne zu gestalten? Den schlagenden Beweis für diesen literarischen Spagat liefert „Der Zorn der Wälder“, ein Text von Alexander Eisenach, der 2017 als Auftragsarbeit für das Theater Bonn entstanden ist.
Darin geht es vordergründig um einen Auftrag für den Privatdetektiv Gordon Pritchett, der nach dem verschwundenen Bestattungsunternehmer Carl Carsons fahnden soll - Auftraggeber ist dessen Frau Emma. Doch mit zunehmenden Naschforschungen zeigt sich, dass der Fall kaum eine kriminalistische Seite und nur ganz am Rande einen Eifersuchts-Aspekt hat, sondern dass es vielmehr um das Projekt eines Individuums geht, der sich zum Ausstieg aus den menschenunwürdigen Bedingungen des Kapitalismus entschlossen hat, und glaubt, mit einem Rückzug in die Wälder sein Nein zur modernen Gesellschaft artikulieren zu müssen. Diese Position, die stark an „Walden“, die Aussteigerbibel von Henry David Thoreau aus dem Jahre 1854 angelehnt ist, die gleichzeitig mit dessen anderer These von der Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat operiert, muss sich im Laufe der Inszenierung immer wieder - auch mit Blick auf aktuelle Entwicklungen - hinterfragen lassen. Auch jene tendenziell elitäre These von den Grenzen der Mehrheitsdemokratie und dem Recht des Individuums auf Widerstand steht auf dem Prüfstand der Bühne.
Die Nürnberger Aufführung ist hervorragend getragen durch ein originelles Regiekonzept von Kieran Joel und dem präzisen fünfköpfigen Ensemble (Anna Klimovitskaja, Stephanie Leue, Yascha Finn Nolting, Süheyla Ünlü und Cem Lukas Yeginer). Auf der schwarzen Kammerspielbühne (von Matthias Koch) stehen lediglich ca. 25 Straßenlaternen mit unterschiedlichem Neigungswinkel, die als Großstadt-Dickicht, als Lichtspiel und als Table-Dancing-Stange genutzt werden können. Die fünf Akteure stehen als permanenter Chor auf der Bühne, setzen mit beigem Trenchcoat, schwarzem Schlapphut und Zigaretten-Chorographie nostalgische Bezugspunkte zum Film-Genre. Durch kleine Details werden die einzelnen Personen der Handlung sichtbar, insgesamt aber fühlt sich der Zuschauer einem spät-antiken Chor ausgesetzt, der zum Nachdenken, zum Reflektieren auffordert. So macht Gesellschaftskritik und Kritik der Gesellschaftskritik Spaß! Ein kompaktes 70minütiges Theatererlebnis, das dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet ist.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/der-zorn-der-waelder/05.01.2019/1930
Macbeth ****
Von William Shakespeare
Inszenierung: Philipp Preuss
Premiere am 8. 12. 2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)
Machtgeile Autokraten stehen hoch im Kurs - auch im Theater. Deshalb ist er wieder da, zum Beispiel auf den aktuellen Spielplänen in München, Berlin oder Hannover: Macbeth, der legendäre Usurpator des Königsthrons von Schottland. Das Schauspielhaus Nürnberg macht jetzt aus dem klassischen Stoff ein Shakespeare-Kompaktstudium mit der Repeattaste.
Um es gleich vorweg zu sagen: wer sich von diesem Abend eine linear nacherzählte Geschichte des blutrünstigen Triebtäters und gewaltbereiten Tyrannen erwartet, muss sich wie im falschen Film vorkommen. Denn Regisseur Philipp Preuss hat in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Sascha Kölzow etwas ganz anderes vor. Er nimmt die Shakespeare-Tragödie als Fundgrube für Textbausteine („Ich habe die Tat getan“, „Blut will Blut“), schrumpft die Handlung und das Personal auf ein Minimum ein und lässt die destillierte Essenz in einer Art Endlosschleife ablaufen. In der Musik nennt man das Loop, wenn eine kurze Tonfolge eingespielt, dann mehrfach wiederholt und mit anderen Sequenzen vermischt wird. Die Reaktion ist wie bei einer alten Vinyl-Schallplatte, die einen Sprung hat, oder bei der Warteschleife des Telekom-Kundenservice: es wirkt entweder nervig oder bewusstseinserweiternd.
Die männlichen Hauptfiguren der Inszenierung sind nur König Duncan, Macbeth und sein ursprünglicher Kompagnon Banquo. Diese werden im rastlosen Rotationsprinzip von vier Schauspielern mit großem physischen Einsatz dargestellt: Julia Bartolome, die in der Vergangenheit schon als Richard III. ihren Mann gestanden hat, Yascha Finn Nolting, Felix Mühlen und Raphael Rubino. Zu ihnen gesellt sich als einzige klar identifizierbare Einzelperson die Männer-Flüsterin Lady Macbeth von Lisa Mies. Mit jenem Personen-Quintett wird in sechs Schleifen das Geschehen bis zur Ermordung des Königs Duncan durch Macbeth nachgespielt und die Wiederkehr der bösen Tat repetitiv bestärkt. Redundanz als Lehr-Methode?
Nur die Kostüme und der Zeitbezug ändern sich: beim ersten Loop fühlt man sich ins 17. Jahrhundert versetzt, beim zweiten ins Ende des 19. Jahrhundert, beim dritten in die Gegenwart. Und weil im entscheidenden Moment jeweils ein steter Blutstropfen vom Bühnenhimmel herabfällt, gewinnt auch die Farbe Rot an Dominanz.
Die Bühne von Ramallah Sara Aubrecht präsentiert sich als goldglänzender Echokammer-Käfig mit wenigen Utensilien: drei Bäume (Wald von Birnam?), ein Flügel, drei Mikrofone, fünf Kronen und zwei Bluteimer. Die verzerrten und in Wiederholungen zerhackten Stimmen der Schauspieler ergeben zusammen mit einem bedrohlich an- und abschwellenden Hintergrund-Sound (eingespielt von Mitgliedern des Opernchores des Staatstheaters) eine beklemmende akustische Dimension.
Im zweiten Teil der pausenlosen 105 Minuten entledigen sich die Akteure ihrer Pelzmäntel und sind reduziert auf die anfangs noch weiße Unterwäsche, bilden aber bald ein blutiges Gruppenbild mit Dame. Das ist der Moment für die Ausrufung des heimlichen Mottos dieser Aufführung: „Horror, Horror, der Wahnsinn hat sein Meisterstück vollbracht“ sowie für ein wildes Puzzle aus Shakespeare-Zitaten und weiteren Assoziationen. Nun darf auch Sascha Tuxhorn als sprachmächtiger, närrischer und stark alkoholisierter Pförtner den Ausflug in den Nihilismus des absurden Theaters wagen und seinen komödiantischen Monolog („Es war einmal …“) mit einer Hamlet-artigen Kopf-Kamera und ein bisschen Klavier-Geklimper untermalen. Er deutet das Leben - natürlich auch das Stück - als „Märchen, von einem Narren erzählt, voller Schall und Wut und ohne Bedeutung“.
Wer sich auf die besondere Regiesprache des Österreichers Philipp Preuss, der gerne im Schnittfeld von darstellender und bildender Kunst arbeitet, einlässt, wird belohnt: Shakespeares resignativer Blick auf die ewige Wiederkehr von Gewalt, Macht, Intrigen und Skrupellosigkeit erfährt durch diese Dramaturgie der Warteschleife eine stimmige und bildstarke Aktualisierung. Ein lebendes Gemälde über die Verrohtheit der Welt ohne erhobenen Zeigefinger.
Allerdings: Im Original öffnet sich durch den Ausblick auf den jungen Malcolm ein Fenster der Hoffnung. Diese vielleicht doch noch optimistisch stimmende Wendung verweigert die experimentierfreudige Nürnberger Inszenierung, die mit dem ehrlichen Titel „Macbeth - deconstructed & reconstructed“ besser angekündigt worden wäre. Längerer Beifall eines teilweise ratlosen Publikums. Danach kommt die Zeit der Reinigungskräfte und der Weißwäscher.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/macbeth/24.01.2019/1930
Die Musik war schuld.
Ein Nürnberger Liederabend ***
von Selen Kara und Vera Mohrs
Inszenierung: Selen Kara
Uraufführung am 30.11.2018 (Staatstheater Nürnberg, Kammerspiele)
Wenn Neu- oder Gast-Nürnberger von der Direktion den Auftrag bekommen, einen Liederabend mit Bezug zu Nürnberg zu machen, kann das merkwürdige Formen annehmen: von Anbiederung bis zu Ahnungslosigkeit. Keines von beiden ist Vera Mohrs, der neuen Musikverantwortlichen im Schauspiel, und Selen Kara passiert, dennoch atmet ihr szenisches Song-Konzept etwas Bemühtheit, etwas Suchendes, aber nicht so recht Findendes, etwas Lavierendes - eben ein Bühnen-Experiment, das nur zum Teil gelungen ist. Man mag sich darüber freuen, dass weder Bratwürste, Lebkuchen, Clubsongs noch Burg-Panoramen, Trichter oder Weihnachtsmärkte vorkommen, dafür ist der Blick aus der Perspektive einiger Nürnberger Randfiguren oder ironischer Spötter reichlich spröde und arg gekünstelt in eine Rahmenhandlung verpackt.
Die Bühne (Lydia Merkel) ist eingerahmt mit mittelalterlichen Felsengängen, davor sitzen, singen und spielen die sechs Akteure - gedresst und geschminkt wie zu einer Rocky Horror Picture Show - um den Brunnen, der an Jürgen Webers „Ehekarussell“ erinnern soll, jenes damals höchst umstrittene Kunstwerk, das im Auftrag von Baustadtrat Otto Peter Görl (nicht: Wöhrl) gestaltet und 1984 am Weißen Turm aufgebaut wurde. Mit gewisser Distanz beobachtet der „Kaffehaus-Literat“ Hermann Kesten (Adeline Schebesch) von einem Bistrotisch aus das Geschehen und kommt am Ende zu dem dialektischen Fazit: „Ich fühle mich in keiner Stadt der Welt so zu Hause wie in Nürnberg. Und in keiner Stadt der Welt so fremd.“ Die Songs - sparsam mit E-Piano und kleinen Perkussions-Geräten arrangiert - decken eine weite Spanne von Hans Sachs bis Bob Dylan, von Richard Wagner bis Rio Reiser ab, von dem Liedermacher Gymmick stammt eine deutsche Textfassung für Alicia Keys‘ „Empire State Of Mind“, in der aus New York Nürnberg, aus einer Metropole ein Provinznest wird. Haikus des Nürnberger Volkschullehrers Waldemar Graser wurden vertont und dem Bob-Marley Reggae „No Woman No Cry“ das Harmonieschema eines Pachelbel-Kanons übergestülpt.
Das Ensemble präsentiert sich spielfreudig und stimmlich unterschiedlich präsent; nur Lea Sophie Salfeld und Vera Mohrs merkt man einen professionellen Gesangs-Hintergrund an. Ob dieser Abend mit früheren Dauerbrennern wie „Ewig jung“ oder „Sekretärinnen“ mithalten kann, darf trotz Zugabe bei der Premiere bezweifelt werden.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/die-musik-war-schuld-ua/06.12.2018/1930
Meisterklasse ****
von Terrence McNally
Inszenierung: Manuel Schmitt
mit: Annette Büschelberger u.v.a.
Premiere am 14.11.2018
(Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)
Eine gealterte Primadonna gibt zum Ende ihrer Karriere Unterricht für aufstrebende Gesangs-Solisten. Es sind jene Meisterklassen, die am Anfang der 70er Jahre in New York stattfanden, geleitet von Cecilia Sophia Anna Maria Kalogeropoulos, die noch einmal den öffentlichen Focus auf „die Callas“ richteten und Terrence McNally zu einem originellen Kammerspiel inspirierten, das 1995 uraufgeführt wurde. Er gestaltet die kurzweilige Unterrichtsstunde für drei SängerInnen zu der Charakterstudie einer launischen Diva, einer kapriziösen Anti-Pädagogin, einer Musik-Süchtigen, die im Wesentlichen die höchst ironische Parole ausgibt „Es geht hier nicht um mich!“ Natürlich ist das genaue Gegenteil der Fall: die drei Eleven , die Sopranistin Nayun Lea Kim, die Sopranistin Rafalela Fernandes und der Tenor Chang Liu - Mitglieder des Internationalen Opernstudios Nürnberg, bzw. Mitglieder des Ensembles des Staatstheaters Nürnberg - sind nur auswechselbare (aber stimmlich durchaus beeindruckende!)Marionetten für eine selbst bezogene Lehrerin, die ihre Schützlinge mit harten Urteilen demotiviert, sich gerne vom Smartphone und vom putzigen Pudel Alfredo ablenken lässt und bald in Gedanken in ihre eigene ruhmreiche Vergangenheit abschweift. Die zweistündige Lehrstunde bietet eine Paraderolle für Annette Büschelberger, die diese mit souveräner Präsenz bis zur Zerstörung des eigenen Denkmals ausfüllt. Mit diktatorischer Geste degradiert sie den Pianisten (Francesco Greco) zum subalternen Bediensteten und die Gesangsschüler zu verschüchterten Jungspunden. Im großen Haus, das durch die Holzverschalung der Vor-Bühne (Bernhard Siegl) etwas intimen Charakter erhält, ist das Premieren-Publikum sehr angetan und hält sich ganz und gar nicht an die schroffe Anweisung der Hauptdarstellerin: „Keinen Applaus bitte, wir sind hier um zu arbeiten.“
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/meisterklasse/05.12.2018/1930
Ein Volksfeind ****
von Henrik Ibsen (deutsche Neufassung von Frank-Patrick Steckel)
Inszenierung: Jette Steckel
mit: Joachim Meyerhoff, Mirco Kreibich u.v.a.
Premiere am 18.11.2017 (Burgtheater Wien)
besuchte Aufführung am 24.10.2018
Als Henrik Ibsen seinen "Volkfeind" 1882 zur Uraufführung brachte, wusste er noch nichts vom Unkrautvernichter Glyphosat, von der Nitrat-Belastung des Grundwassers, vom Feinstaub und vom Ruß, den Diesel-Motoren ausstoßen, von Kohlekraftwerken, die unsere Klimaschutz-Ziele torpedieren. Wahrscheinlich war auch das verunreinigte Wasser in einem norwegischen Kurbad nur der Aufhänger, um etwas ganz anderes zu zeigen: eine kritische Betrachtung der bürgerlichen Gesellschaft und der Presse im Konflikt zwischen Interessen und Wahrheit. Nachdem nun heute sowohl die Umweltbelastung als auch die Suche der Öffentlichkeit nach belastbaren Fakten im Zentrum der politischen Agenda stehen, spricht vieles dafür, das Stück in einer aktualisierten Version auf die Bühne zu bringen.
Im Wiener Burgtheater tun dies Vater Frank-Patrick Steckel, der mit seiner deutschen Neufassung unsere vielgerühmte "Zivilisation" untersuchen will, und Tochter Jette Steckel, die den Text einfallsreich szenisch bebildert. Im Mittelpunkt stehen die beiden Antagonisten: der Badearzt Tomas Stockmann (Joachim Meyerhoff), der den Weg vom kritischen Reformer zum rebellischen Außenseiter glaubhaft verkörpert. Am Anfang genießt er noch die reinigende Kraft des Wassers, bald aber intoniert er am Esstisch mit seiner Familie den Michael-Jackson-Song "Man In The Mirror" mit den Zeilen "If you want to make the world a better place / Take a look at yourself, and then make a change". Nach der Pause springt er sogar aus seiner Rolle und fordert das be- und eventuell auch erleuchtete Publikum auf, eine veränderte Sehweise praktisch zu erproben. Auf der Bühne wird das tumbe Volk von einer bedrohlich wirkenden Schar von Riesenzwergen repräsentiert, die auf die leidenschaftliche (aber auch ambivalente) Rede des Arztes mit Schweigen und dem Druck der Masse reagieren.
Ganz anders die Überzeugungskraft des aalglatten Bürgermeisters Peter Stockmann (Mirco Kreibich), der seine rhetorisch gefeilten Argumente mit einer Eiskunstlauf-Kür unterlegt und für einen Doppelaxel Szenenapplaus bekommt. Merke aber: wir bewegen uns auf dünnem Eis, das auch noch unwiderruflich zu schmelzen droht!
In einem teils ironischen, teils Mut machenden Happy End wird schließlich das Rettende erwähnt: der das Badewasser verschmutzende Ledergerber Morten Kiil (Martin Schwab) erkennt plötzlich in seinen Enkeln seine Verpflichtung für die Zukunft und Nachhaltigkeit und legt ein halbwegs glaubhaftes Konzept für die Sanierung seiner Chemie-Pfütze vor, nicht ohne allerdings stolz vom finanziellen Erfolg seiner Aktienspekulationen mit dem Kurbad zu berichten. Und so erhält das Prinzip Hoffnung und der Optimismus (wie übrigens auch in der Originalfassung) noch einmal eine Chance.
https://www.burgtheater.at/de/spielplan/produktionen/ein-volksfeind/termine/2018-10-31/982032419/
Komödie mit Banküberfall (DSE) ****
von Henry Lewis, Jonathan Sayer und Henry Shields
Inszenierung: Christian Brey
Premiere am 20. Oktober 2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)
"Alles nur Gauner in dieser Stadt" lautet die abschließende Bemerkung auf der Bühne von Ruth Monaghan aus Minneapolis und dann kommt von den Nürnberger Gaunern im Publikum ein langanhaltender Beifall für eine kaum nachdenkliche, dafür aber umso mehr belachbare Produktion im Schauspielhaus. Aus der Londoner West End-Vorlage macht Regisseur Christian Brey eine temporeiche Nonsens-Revue mit viel Monty-Python-Wortwitz (der auch in der deutschen Übersetzung von Maria Harpner und Anatol Preissler noch zündet!), mit Nackter-Wahnsinn-Slapstick-Dramaturgie, ulkigem Impro-Theater und ein bisschen "Grease"-Musical-Garnierung. An der Jagd auf den Diamanten von Prinz Ludwig beteiligen sich neben Häftling Mitch (Nicolas Frederick Djuren) noch acht andere Akteure, egal ob Bankmitarbeiter, Gefängnis-Aufseher oder Polizeiagenten. Daraus entsteht ein herrlich albernes Verwechslungsspiel mit rasenden Dialogen, schnell wechselnden Bühnenkulissen, akrobatischen Klettereinlagen und ein paar von Lea Saalfeld kess dahingeträllerten Songs der 50er und 6oer Jahre (Musik und Live-Banjo: Thomas Esser). Aus dem gut aufgelegten Ensemble sind besonders Pius Maria Cüppers als Bankdirektor, Maximilian Pulst als Gelegenheits-Taschendieb und Janning Kahnert als bemitleidenswerter Bankangestellter hervorzuheben. Das englische Original erlebte seine Uraufführung 2016 und der Name der Company (Mischief Theatre) ist Programm: alles, was schief gehen kann, geht schief - so auch bei diesem kühn inszenierten Ba-Ba-Banküberfall. Brechts alt-dialektische Frage "Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" schwebt als hintergründiges Motiv über dem Ganzen. Jan Phillip Gloger und sein Team haben damit eindrucksvoll bewiesen, dass sie auch die leichte Muse beherrschen, die aber gar nicht leicht zu beherrschen ist. Eindeutig ein Repertoire-Stück mit langem Haltbarkeitsdatum!
Die Troerinnen / Poseidon-Monolog ****
von Euripides
(übertragen von Konstantin Küspert)
Inszenierung: Jan Philipp Gloger
Premiere am 7.10.2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)
Es mag Zufall sein, dass ausgerechnet in diesen Tagen der Friedensnobelpreis an zwei engagierte Menschen verliehen wurde, die „für ihre Anstrengungen, der sexuellen Gewalt als Kriegswaffe ein Ende zu bereiten" geehrt wurden. Genau um dieses Thema geht es auch Euripides in seiner 415 v. Chr. entstandenen Tragödie, in der er das Leid von vier Frauen (und einem Kind) im Rahmen des Trojanischen Krieges eindringlich vorführt. Gleichzeitig geißelt er die Unmenschlichkeit der hochmütig frevelnden athenischen Sieger, insbesondere von Odysseus, Agamemnon, Menelaos und Neoptolemos.
Im Mittelpunkt des Dramas steht die Königin Hekabe, die am Ende eines aus Eifersucht angezettelten Krieges ohne Mann, ohne Söhne, Töchter, Schwiegertöchter und Enkel dasteht, und als Sklavin des Odysseus verschleppt werden soll. Annette Büschelberger gibt dieser Figur zunächst mit schwarzem Business-Kostüm, blonder Perücke, Highheels und Sonnenbrille eine unnahbare Aura, die aber mit den folgenden Schicksalsschlägen Stück für Stück zerbricht: am Ende steht sie mit blutverschmierten Gesicht vor dem Ende ihrer Existenz.
Anders gestrickt ist Kassandra, seit Christa Wolf eine Gallionsfigur der emanzipatorischen Frauenliteratur. Pauline Kästner gibt ihr Anzeichen einer hintergründigen Überlegenheit, im Hochzeitskleidchen artikuliert sie wahnsinnige Rachegedanken. Andromache (Julia Bartholome) ist die zwangsweise alleinerziehende Mutter, die irgendwie versucht, sich in ihrem Schicksal einzurichten, und Helena (Lisa Mies) posiert als laszive, berechnende Marilyn-Monroe-Kopie.
Bühnenbildnerin Marie Roth hat in die schwarze Umgebung einen hellgrauen, abschüssigen Laufsteg gebaut, sozusagen ein Catwalk mit großer Abrutsch-Gefahr - und am Ende geht's ab in die Grube. Diese höchst symbolische Gangway wird von schräg oben mit beeindruckenden Video-Sequenzen (Sami Bill) bespielt. Im Hintergrund untermalen drohende Perkussions-Gewitter und Sphären-Sounds (Kostia Rapoport) das tragische Geschehen.
Die hochkonzentrierten 75 Schauspiel-Minuten werden durch einen Monolog des Poseidon (Michael Hochstrasser) eröffnet, der mit seinen Andeutungen von den Gefahren des Meeres auch heutige Flüchtlingsschicksale andeutet. Konstantin Küspert hat den originalen Euripides-Text angemessen modernisiert, ohne ganz auf Metrik und tragische Emotionen zu verzichten.
Die sehenswerte Produktion ist praktisch eine Wiederaufnahme von Jan Philipp Glogers Inszenierung am Staatstheater Karlsruhe (2016) - allerdings mit leicht verändertem Personal. Die Kritik lobte damals das Stück als „zeitloses Drama von männlichen Siegern und weiblichen Besiegten“. Im Gegensatz zu der Aufführung der „Perser“ (Aischylos) bei den Salzburger Festspielen 2018 (Regie: Ulrich Rasche), die sich als qualvolles vierstündiges Klagelied entpuppte, ist Gloger die spannende Einladung zum Mitleiden und Mitdenken gelungen - ein weiterer Erfolg für das neue Team des Nürnberger Schauspiels!
Die Möwe ****
von Anton Tschechow
Inszenierung: Anne Lenk
Premiere am 29.9.2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)
Ach ja, die Künstler! Sie verbringen die Sommerferien in noblen Landgütern und haben dabei nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig zu nerven, theoretische Kunst-Konflikte auszutragen, Beziehungsprobleme auszuwälzen, sich dabei vom sonstigen Personal (Gutsverwalter, Arzt, Lehrer) bildungsbürgerlich anhimmeln zu lassen und dieses gelangweilt zu ertragen. Zwei Schauspielerinnen und zwei Schriftsteller stehen im Zentrum von Tschechows Komödie, die nach der Pleite bei der Uraufführung 1896 mittlerweile zum Standardrepertoire deutschsprachiger Bühnen gehört.
In Nürnberg nahm Anne Lenk, die hier den Status als „Hausregisseurin“ zugesprochen bekam, den Gattungsbegriff ziemlich wörtlich und konstruierte aus dem melancholischen Stimmungsdrama ein teilweise fast schon grelles Figuren-Tableau, bei dem aber glücklicherweise keine Person zur Karikatur geschrumpft wurde. In dem sehr sparsam gehaltenen Bühnenkasten aus hellgrauen Platten (Judith Oswald) werden die zehn Akteure wie Schachfiguren platziert, die erstarrt auf ihre Einsätze warten. So lenkt fast nichts von der deutlichen (jedoch nicht immer klar verständlichen) Sprache (in der Übersetzung von Thomas Brasch) und von den konkurrierenden Emotionen ab.
Da ist der Mutter-Sohn-Konflikt zwischen der arrivierten Schauspielerin Arkadina (Ulrike Arnold mit divenhafter Attitüde) und dem Sturm-und-Drang-bewegten Jung-Autor Kostja (Cem Lukas Yeginer als Typ, den man eher bei einem Poetry Slam oder an der McDonalds-Theke verorten würde). Da ist des Weiteren die Dreiecksgeschichte zwischen der ambitionierten Jung-Schauspielerin Nina (Pauline Kästner), Kostja und dem Schriftsteller Trigorin (Amadeus Köhli als sanfter Liedermacher mit Hannes-Wader-Repertoire). Mascha, die Tochter des Gutsverwalters (Anna Klimovitskaya) betäubt ihren Liebeskummer mit einer großen Wodkaflasche und muss sich am Ende mit dem von der Sonne verbrannten, aber inhaltlich blassen Lehrer (Tjark Bernau) begnügen. Mit schräger Maske setzen die Kammerschauspieler-Restbestände der Kusenberg-Ära (Michael Hochstrasser, Thomas Nummer) kauzige Akzente. Auch die vom Himmel fallende tote Möwe und der finale Suizid-Schuss von Kostja - „nur ein Zwischenfall“ - können der nonchalanten Alltags-Atmosphäre nicht anhaben: das Bingo-Spiel geht weiter.
Regie und Dramaturgie haben das Stück unter Vernachlässigung der originalen Chronologie auf dichte zwei Stunden gekürzt, die in der Variation von laut und leise, von Monotonie und Ekstase zunehmend fesseln. Ein weiterer Baustein eines vielversprechenden Auftakts der Amtszeit Gloger!
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/die-moewe/11.10.2018/1930
Ein Stein fing Feuer ****
„Die kahle Sängerin“, „Die Unterrichtsstunde“ und andere Texte von Eugène Ionesco
Inszenierung: Jan Philip Gloger
Premiere am 27.9.2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)
Eine erwartungsvolle, gespannte Gruppe von Besuchern versammelte sich zur ersten Premiere im Schauspielhaus. Neuer Direktor, neues Ensemble, neues Design, neue Zielsetzungen („kreative Unruhe“, „überregionale Aufmerksamkeit“) - was könnte das bedeuten?
Vor 18 Jahren hatte Klaus Kusenberg seinen Freund Georg Schmidleitner als Regisseur ins Schaufenster gestellt und mit einer denkwürdigen „Margaretha di Napoli“ Akzente gesetzt. Diesmal inszenierte Direktor Jan Philip Gloger selber und entschied sich für ein Ionesco-Projekt als künstlerische Visitenkarte. Aus zwei Einaktern („Die kahle Sängerin“ und „Die Unterrichtsstunde“) sowie Prosatexten von Ionesco bastelte Gloger einen dreiteiligen (aber pausenlosen) Abend, der die Botschaften des absurden Theaters aus den frühen 50er Jahren mit der oft recht absurden Realität des 21. Jahrhunderts (Fake News, MeToo-Debatte etc.) konfrontierte.
Ionescos Stücke sind eine radikale Absage an die klassische Dramaturgie mit dem Dialog als Triebfeder, sie eignen sich als Musterbeispiele für ein Proseminar „Zum Scheitern der menschlichen Kommunikation“. Tragische Momente erwachsen aus der gnadenlosen Übertreibung der Groteske. Das erste Stück, „Die kahle Sängerin“ könnte eine Vorübung zu „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ oder zu „Gott des Gemetzels“ sein: die Ehepaare Schmidt (Julia Bartholome und Sascha Tuxhorn) und Martin (Lisa Mies und Maximilian Pulst) reden zielsicher aneinander vorbei, haben bemerkenswert abgedrehte Solo-Auftritte und werden in ihrem Nicht-Gespräch letztlich von der Haushaltshilfe (Annette Büschelberger) und vom mehrfachen Klingeln eines Feuerwehrmanns (Frank Damerius) unterbrochen.
Die Szene morpht sodann höchst originell in das nächste Stück („Die Unterrichtsstunde“), bei dem nun das gesamte Wohnzimmer-Interieur an einer senkrechten Wand fixiert ist (Bühne: Marie Roth). Dies lädt den Professor (wieder höchst präsent und sprech-mächtig: Sascha Tuxhorn) und die wissbegierige Schülerin (Süheyla Ünlü) zu wagemutigen Kletterpartien ein, während gleichzeitig ein absurder Nachhilfekurs in Arithmetik und Philologie stattfindet - die Schülerszene in Faust I lässt grüßen! So weit, so originell.
Dann aber hat sich Gloger für einen dritten Teil entschieden, in dem auf der fast leeren Bühne - nur zwei Zelte und ein Lagerfeuer sind zu sehen - Tagebucheintragungen und theoretische Texte von Ionesco szenisch verhandelt werden. Hier geht es ein bisschen erratisch-philosophisch um Gott und die Welt, um Krieg und Frieden, um Lüge und Wahrheit. Ein Neandertaler spielt mit Keule und Tablet, Alexander von Humboldt äußert Zeitkritisches: anything goes oder Die große Unübersichtlichkeit? Zum Schluss wird das Publikum auf die Bühne eingeladen, um mit einem Glas Sekt in der Hand die Erleuchtung zu entdecken. Aus dem Schnürboden senkt sich quasi als Deus ex machina eine kahle Sängerin im roten Abendkleid (Frank Damerius), die ein poppiges Nonsens-Lied trällert. Und als alle schon zum Schlussbeifall ansetzen wollen, beginnen plötzlich vier Nashörner in der 20. Reihe ein wirres finales Gespräch.
Intensiver Schlussbeifall für ein mutiges Bühnen-Unternehmen, dem am Ende etwas die Linie fehlt, das aber Spaß auf mehr macht.
https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/ein-stein-fing-feuer/14.10.2018/1700
Die Perser ***
von Aischylos (wiedergegeben von Durs Grünbein)
Inszenierung: Ulrich Rasche
mit: Katja Bürkle, Valery Tscheplanowa, Patrycia Ziolkowska u.v.a.
Premiere am 18.8.2018 (Landestheater Salzburg / Salzburger Festspiele)
besuchte Aufführung am 26.8.2018
Xerxes hat Mist gebaut! Von persischem Boden darf nie mehr ein verlorener Krieg ausgehen! So zynisch-zeitgeistig könnte man die zentrale Botschaft von Aischylos' früher Tragödie aus dem Jahre 470 v.Chr. zusammenfassen. Aber natürlich geht es um mehr in diesem Stück, das als Warnung des (athenischen) Siegers, aber aus der Perspektive der (persischen) Verlierer geschrieben ist: es geht um die Hybris und um die Verblendung des persischen Jung-Königs Xerxes, der in seiner Eroberungswut grenzen- und gottlos wird und sich schließlich bei Salamis 480 v. Chr. von den listigen Athenern unter Themistokles in einer Seeschlacht trotz quantitativer Überlegenheit abkochen lässt.
Dass die Kraft des Theater aus dem Dialog kommt, ist hier nicht zu erkennen, denn Aischylos geht es vor allem um Klage, Klage, Klage. Durch längliche Botenberichte erfährt man vom Schlachtenunglück, der Chor des persischen Ältestenrates und die Königsmutter Atossa artikulieren böse Ahnungen, der heimgekehrte Xerxes monologisiert über sein tragisches Schicksal, der tote Vater Darius sendet aus dem Grab Warnungen.
Was also aus solchen eher gleichförmigen Textflächen machen? Regisseur Ulrich Rasche mutiert wieder zum Maschinenbauingenieur, Chorleiter und Sprachentschleuniger. Auf die eher kleine Bühne des Salzburger Landestheater hat er (wie alte Langspielplatten!) zwei große Drehscheiben montiert, eine davon mit massiver Hydraulik um bedrohliche Schräglagen zu erzeugen. Dem gleichmäßigen Drehtempo entspricht auch das Schreit- und Sprachtempo der Akteure, die trotz Bewegung eher Stillstand signalisieren. Auf der vorderen Scheibe agiert das Damentrio Katja Bürkle, Valery Tscheplanowa und Patrycia Ziolkowska: sie veranstalten eine bewegte Rezitation in Zeitlupe, die dem Text oft nicht vorhandene Tiefe einhauchen soll. Auf der hinteren Scheibe sind die lädierten Krieger festgezurrt, die eine Art Rückmarsch nach Susa verbildlichen. Unterlegt wird die zähe Deklamation durch Live-Musik eines fünfköpfigen Ensembles (Bratsche, Pauke, Bass, Marimba und Elektronik), das manchmal durch anschwellenden Lärmpegel Akzente setzt. Die teilweise ermüdenden vier Stunden bieten also außergewöhnliche Optik, Sprachballett mit Musik, ein bisschen Geschichtsunterricht und antike Tragödien-Ethik - oder um es zeitgeistig und zynisch (s.o.) zu sagen: viel Lärm um wenig Inhalt!
Hunger ****
nach Knut Hamsuns Romanen "Hunger" und "Mysterien" in einer Fassung von Frank Castorf
Inszenierung Frank Castorf
mit: Sophie Rois, Kathrin Angerer, Marc Hosemann, Lars Rudolph u.a.
Premiere am 4.8.2018 (Perner-Insel, Hallein / Salzburger Festspiele)
besuchte Aufführung: am 10.8.2018
Frank Castorf, der nach dem Ende seiner Intendanz an der Freien Volksbühne Berlin über mehr Zeit verfügt, hat (wohl zusammen mit seinem Dramaturgen Carl Hegemann) ein Leseprojekt gestartet. Man studierte die beiden ersten Romane des norwegischen Autors Knut Hamsun ("Hunger" von 1890 und Mysterien" von 1892), analysierte die gefährliche Nähe, die Hamsun zum deutschen Nationalsozialismus und zu Adolf Hitler entwickelte und machte daraus einen sechsstündigen (!) Theaterabend, bei dem man freilich manchmal glaubt in einem Arthaus-Kino gelandet zu sein. Denn auf der markanten Drehbühne von Aleksandar Denic, die die vier Seiten eines rustikalen Holzhauses mit einer Art Reetdach und einer überraschenden McDonalds-Front vorzeigt, torkelt fast ständig ein dreiköpfiges Video-Team mit Kamera, Mikrofongalgen und Ausleuchtung, das das Geschehen im Inneren filmt und auf zwei große LED-Wände überträgt.
Die beiden Romane sind über weite Strecken innere Monologe einer Hauptperson - natürlich mit unübersehbarem autobiografischem Charakter - die sich als Außenseiter in einer norwegischen Großstadt bewegt. Bei "Hunger" ist es ein namenloser Fremder, der sein Geld als Schriftsteller verdienen will, jedoch keinen Verleger findet und immer mehr in eine wahnhafte Hunger-Askese abrutscht. Bei "Mysterien" ist es ein gelb gekleideter Künstler, der sich mit einem vom Stadt-Bürgertum gehänselten Menschen anfreundet und ihn von sich abhängig macht. Wie man solche Textwüsten spielbar macht, ist die große Kunst von Castorf und seinem ihm treu ergebenen Ensemble. Der Regisseur und der Bühnenbildner spielen mit wilden Assoziationen (NS-Symbolik!), die Schauspieler überzeugen mit vollem stimmlichen und körperlichen Einsatz, der manchmal in die expressionistische Klage von Edvard Munchs "Schrei" mündet, aber auch zeitweise in akustischen Terror und nervige Trash-Optik abdriftet. Dem Publikum bleibt die Wahl: entweder man lässt sich in diesen fast nicht endenden Bühnensog hineinziehen oder man verlässt spätestens nach der Pause die Spielstätte - was ungefähr ein Drittel tat! Die verbleibenden Aussitzer waren allerdings (zurecht) begeistert und feierten das achtköpfige Ensemble mit stehenden Ovationen. Ob man allerdings an diesem Abend mehr über Knut Hamsun - oder über sich und die Welt - gelernt hat als bei einem Volkshochschulkurs mit Leseproben und Autoren-Infos sei dahingestellt.
Georg Büchner: Leonce und Lena **
Inszenierung: Markus Nondorf
Theater aus dem KulturKammerGut
Premiere: 2.8.2018
Freilichtbühne im Stadtpark Fürth
Aufrührerische Worte schallen in der Dunkelheit durch den Fürther Stadtpark. Irgendjemand schreit, es sei strafbar, sich krank zu arbeiten, wer im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdiene, sei verrückt, lieber solle man sich in den Schatten legen und Makkaroni mit Melonen futtern. Doch die Polizei braucht nicht einzugreifen, denn es handelt sich (nur) um Theater: das TKKG bietet Büchners „Leonce und Lena“ auf der Freilichtbühne.
Die Thesen von Leonces Diener Valerio kann man angesichts der Sommerhitze gerne unterschreiben, denn die tropischen Temperaturen treiben einem auf den harten Bänken des Amphitheaters selbst im Sitzen noch den Schweiß ins Hemd. Auch sonst bietet Büchners Lustspiel viel Stoff für aktuelles Weiterdenken, was Regisseur Markus Nondorf eifrig aufgegriffen hat. Er inszeniert das Stück als eine Mischung aus Rummelplatz-Reigen (auf dem Bühnengerüst steht „Es werde Zirkus“), commedia dell‘arte und Polit-Satire. Dabei agieren die italienischen Schriftsteller Vittorio Alfieri (Tanja Busch) und Gasparo Gozzi (Joachim Zons) als kommentierende Pausen-Auguste, die immer wieder den alten Dean-Martin-Song „That’s Amore“ anstimmen. Erik Streit ist als Leonce ein dynamischer, aber auch grübelnder urban cowboy, ein durchtrainierter Vertreter einer Null-Bock-auf-konventionelle-Politik-Generation, der in seinem berühmten utopischen Schlusswort alle Uhren zerschlagen und alle Kalender verbieten will. Esther Sambale interpretiert die Prinzessin Lena als zartgliedrige „Lady In Black“, die ihrer Herkunft aus dem Königreich Pipi auf der Bühne ganz wörtlich nimmt. Und der alte König Peter (Ralf Ahlborn) - aus dem Reiche Popo - verkündet seine rätselhaften Ansagen an das Volk von einem Holzthron mit eingebauter Kloschüssel! Lautstark schleudert der pfiffige Diener und spätromantische Taugenichts Valerio (David O. Riedel) revolutionär-anarchistische Botschaften gegen die frühkapitalistische Arbeitsethik ins Publikum; zusammen mit der Lena-Gouvernante (Sandra Bauer) wird er zum sexuell aktiven Buffo-Pärchen.
Die Background-Musik stammt durchaus passend von dem 70er-Jahre-Barden Cat Stevens („Where Do The Children Play“ oder „If You Want To Sing Out“), die Zuschauer dürfen auch mal beim Einzug des neuen Prinzenpaares (bei dem Leonce und Lena die Masken von Prinz Harry und Ehefrau Meghan tragen) mit Deutschland-Fähnchen wedeln und der alte König zieht sich glücklich in den Ruhestand zurück, um endlich ungestört nachdenken zu können. Würden wir das nicht auch dem Herrn Trump wünschen?
Das Ensemble des Fürther Theaters aus dem KulturKammerGut agiert mit viel Enthusiasmus, einige Straffungen im Timing hätten dem Abend aber noch gut getan. Doch wie sagt schon Leonce: „Wir zählen Stunden und Monde nur nach der Blumenuhr“.
Nebel im August
(Der Fall Ernst Lossa vor Gericht) ****
Inszenierung: Kathrin Mädler
Landestheater Schwaben
Premiere: 16.3.2018
besuchte Aufführung: Theater Fürth
am 17.6.2018 im Rahmen der Bayerischen Theatertage
2009 hat Kathrin Mädler, damals Dramaturgin am Staatstheater Nürnberg, mit Peter Weiss‘ „Die Ermittlung“ eine bemerkenswerte Inszenierung in der Bauruine der Kongresshalle abgeliefert. Nun kehrt sie als Intendantin des Landestheaters Schwaben wieder in die Region zurück und hat erneut ein Dokumentarstück für die Bayerischen Theatertage im Gepäck.
„Nebel im August (Der Fall Ernst Lossa vor Gericht)“ erlebte im März seine überregional gelobte Uraufführung in Memmingen. Die Geschichte beruht auf der gleichnamigen Romanbiografie von Robert Domes, der das Schicksal des jungen Ernst Lossa, der 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren die Todesspritze verabreicht bekam, recherchierte. Fünf Jahre später stehen der ehemalige Anstaltsleiter Dr. Falthauser, die Krankenschwester Pauline Kneißler und zwei Pfleger in Augsburg wegen Mordes in ca. 200 Fällen vor Gericht.
John von Düffel entwickelte vor allem aus den Prozessakten eine Bühnenfassung, die im ersten Teil das Verhalten der Angeklagten in diesem Euthanasie-Prozess thematisiert. Im zweiten Teil richtet sich der Fokus auf das Einzelbeispiel Ernst Lossa, der von Gutachtern als „asozialer Psychopath und notorischer Kleptomane“ eingestuft und schließlich mit einer Giftspritze aus dem Weg geräumt wurde.
Kathrin Mädler versammelt in einem aseptisch weiß gehaltenen Bühnenraum, der wie ein Versuchslabor oder ein Wartezimmer wirkt, sechs Schauspieler in oliv-grauen Overalls und mit weiß gekalkten Gesichtern (Bühne und Kostüme: Ulrich Leitner), die in wechselnden Rollen die dokumentarischen Texte sprechen. So entsteht eine spannungsreiche Choreografie der Sprache, des Lichts und der Bewegung. Kontraste und Brechungen werden zum einen durch einen kleinen Jungen erzeugt, der die weißen Wände mit farbigen Wachskreiden bemalt, zum anderen intoniert das Ensemble zweimal das geistliche Lied von Paul Gerhardt: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben“.
Im Mittelpunkt aber steht die rückblickende Auseinandersetzung mit der Schuldfrage, die auch 70 Jahre später nicht als abgeschlossen (oder als „Vogelschiss“) erklärt werden darf. Die Aufführung beweist, dass Dokumentartheater mehr sein kann als eine trockene Geschichtsstunde, dass die Adjektive „bedrückend“ und „beeindruckend“ kein Gegensatz sein müssen.
Umso bedauerlicher, dass sich zu diesem Gastspiel gerade mal 40 Zuschauer im Fürther Theater versammelten. Im davor gelegenen Gewächshaus wurden bei Bier und Live Musik mehr Gäste gesichtet!
https://www.landestheater-schwaben.de/spielplan/details/nebel-im-august/52.htm
Philipp Lahm ****
Von Michel Decar
Inszenierung: Robert Gerloff
Mit: Gunther Eckes
Premiere am 16.12.2017 (Residenztheater München, Marstall)
Besuchte Aufführung: am 10.6.2018 im Fürther Stadttheater (im Rahmen der Bayerischen Theatertage)
Fast jeder kennt Philipp Lahm als herausragenden Fußballer, als erfolgreichen FC-Bayern-München-Profi und als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, die 2014 Weltmeister wurde. Der aufstrebende Theaterautor Michel Decar interessiert sich aber für Philipp Lahm als Symbol einer generationentypischen Lebenshaltung, als Verkörperung des Zeitgeistes der Nuller- und Zehner-Jahre des 21. Jahrhunderts.
So entstand das Monodrama „Philipp Lahm“, das Mitte Dezember am Münchner Residenztheater (Marstall) Uraufführung hatte (Regie: Robert Gerloff) und nun im Rahmen der Bayerischen Theatertage in Fürth vorgestellt wurde. In 72 Mikro-Szenen, die zusammen etwa die Länge eines Fußballspiels ausmachen, zeigt Schauspieler Gunther Eckes einen Menschen, dessen Alltag von Durchschnittlichkeit, Unanstößigkeit, Nettigkeit und permanenter Zufriedenheit geprägt ist. Da gibt es folglich gar nichts, was das traditionelle Drama ausmacht: keine Fallhöhe, keine Konflikte, keine Sehnsucht nach dem Dunklen, dem Abgründigen, keine Tragödien, keine reinigenden Katastrophen - oder mit dem ironischen Ton des Verfassers gesprochen: „Philipp Lahm hat den kompletten Shakespeare entwertet wie einen Einzelfahrausweis“.
Wir erleben also auf der dreiteiligen Bühne (Maximilian Lindner) die Banalität des Alltags im Hause Lahm: mit Fingernägelschneiden, mit Tagesschau-Gucken und mit der Bestellung eines Liefer-Menüs. Dazwischen sondert Eckes/Lahm Merksätze fürs postmoderne Poesiealbum ab wie „Ich denke, die BRD ist als Staat ganz okay“ oder „Ich versuch positiv zu bleiben und das Beste aus meinem Leben zu machen“. Zwischendurch knabbert der Protagonist ein bisschen an der Nussschokolade und trällert zur Melodie des Beatles-Klassikers „With A Little Help From My Friend“ Erbauliches zum Sinn der EU. Natürlich merkt jeder, dass dieser positive Gleichmut eines deutschen Lieblings-Schwiegersohns (wahrscheinlich Platz 2 hinter Günther Jauch?) ständig hintergründig gebrochen wird und letzten Endes beim Zuschauer die interaktive Frage ankommt: „Sind wir nicht alle ein bisschen Philipp Lahm?“
Eines ist auf jeden Fall sicher: der echte Philipp Lahm würde dieses Stück nicht schon nach zwanzig Minuten verlassen wie etwa zwanzig Fürther Theater-Besucher, die wohl eher eine Sportler-Jubel-Präsentation erwartet hatten. Und der echte Philipp Lahm würde hinterher auf die Frage des Theaterkritikers nach seinem Urteil antworten: „Alles okidoki!“
Raumstation Sehnsucht
Songs Of Love And Change ****
Von Bettina Ostermeier und Friederike Engel
Inszenierung: Patricia Benecke
Premiere am 2.6.2018
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Im Schauspiel des Staatstheaters Nürnberg ist derzeit viel time to say goodbye. Zum einen verlässt Direktor Klaus Kusenberg nach 18jähriger Dienstzeit die gewohnte Umgebung und setzt damit einen gewaltigen Maßstab für die Halbwertszeit von künstlerischen Leitern an deutschen Theatern, die anderswo immer mehr auf das Maß von Profi-Fußballtrainern herabsinkt. Zum anderen müssen sich auch ca. 75 Prozent des künstlerischen Personals verabschieden, weil Jan Philipp Gloger die Idee vom Neuanfang und von der kreativen Unruhe sehr wörtlich nimmt.
Während Kusenberg Ende Juli mit zwei (vermutlich wehmütigen) Abenden verabschiedet wird, sagt das Ensemble bei der letzten Premiere im großen Haus gar nicht leise „Servus“. Bettina Ostermeier (Musik) und Friederike Engel (Story) haben sich dazu einen poppigen Liederabend in der Tradition von Franz Wittenbrink („Sekretärinnen“) ausgedacht, der vor allem eines soll: Spaß machen. Die selbstverständlich fast sinnfreie Geschichte erzählt von einer Startrampe am Albrecht-Dürer-Airport (mit Duty Free Shop und Cocktailbar), an der eine Reihe von Akteuren auf den Abschuss ins Weltall warten. Daraus entwickeln sich einige zwischenmenschliche Dramen, aber vor allem 23 Songs aus der Musikgeschichte der letzten 50 Jahre.
Elke Wollmann kommt als Bio-Bienenretterin und versucht sich an Michael Jacksons „Earth Song“, Bettina Langehein stöckelt als französisches It-Girl durch die Szene und freut sich auf „Voyage, Voyage“, Lilly Gropper präsentiert sich als junge Madonna und als „Digital Girl“, mit Tablet und Kopfhörern bewaffnet. Frederik Bott enthüllt bislang unbekannte gesangliche Qualitäten als missverstandener Sohn, der rotzfrech Lenny Kravitz‘ „Fly Away“ schmettert, Marco Steger sucht nach seiner Weltraum-Prinzessin und läutet stimmstark den „Final Countdown“ ein. Die große Show liefert schließlich Josephine Köhler ab, die sich variantenreich „Somewhere Over The Rainbow“ wegträumt. Als verstörter Problem-Hase stolpert schließlich noch Stefan Willi Wang über die Bühne und singt fast autobiografisch in dem Radiohead-Titel „Creep“: „I’m a weirdo / What the hell am I doing here? / I don’t belong here“.
Zu Haus bleiben müssen (?) der Reiseleiter Frank Damerius, der am Ende mit Joni Mitchells „Both Sides Now“ ganz melancholisch wird, und der notorische blinde Passagier Michael Hochstrasser, der eine täuschend echte Leonard-Cohen-Kopie („Traveling light“) abliefert.
Auf einem hinteren Bühnenpodium agiert die sehr gut eingespielte achtköpfige Band um Bettina Ostermeier, hellwach - ganz entgegen ihrer Schlafanzug-Kostümierung. Sie lassen sich auch nicht vom intensiven Auf und Nieder der Bühnen-Mechanik, die hier noch einmal radikal ausgeschöpft wird, irritieren.
Der kurzweilige Abend bringt launige Assoziationen zum Thema Raumfahrt mit E.T.-Telefonat, Star-Wars-Floskeln, Star-Trek-Monturen und mit einer Schweine-im-Weltall-Tanzformation. Direkt vor dem Publikum ist die Ikea-Kinderparadies-Zone mit einem Pool aus blauen Kunststoff-Bällen, in dem immer wieder einzelne (und mehrere) Personen baden gehen (Bühne: Franziska Isensee). Am Ende hebt die Rakete nach Nirgendwo ab und entpuppt sich als lokales Design-Objekt: es sind jetzt mindestens sieben arme Würstchen in einem Weggla! Da fehlt nur noch der klassische Hesse-Sinnspruch, dass jedem Abschied ein neuer Anfang innewohne.
Das Publikum ist am ausverkauften Premieren-Abend sichtlich froh, einmal nichts interpretieren und keine gedanklichen Tiefbohrungen anstellen zu müssen; das furiose Ensemble wird mit stehenden Ovationen verabschiedet.
Wenn Deutsche über Grenzen gehen
oder Das Ziel ist im Weg ***
Kabarett-Theater Distel
Stadttheater Fürth, 13.5.2018
Angesichts des inflationären Angebots an Comedy und Kabarett ist es für die traditionellen Ensembles schwierig, sich noch am Markt zu behaupten. Umso erstaunlicher, dass das seit 1953 aktive Berliner Theater-Kabarett „Distel“ sein 2017er-Programm vor einem vollen Fürther Stadttheater präsentieren konnte.
In den kurzweiligen zwei Stunden mit dem Titel „Wenn Deutsche über Grenzen gehen - oder: Das Ziel ist im Weg“ wird anhand dreier (repräsentativer?) Charaktere ein Deutschland beschrieben, das statt Frischblumen lieber Neurosen ins Fenster stellt, das von German Angst und Alarmismus geprägt ist und das von einer ewigen GroKo ruhig gestellt wird.
Die drei Akteure sind Lars, ein Pfarrer und brandenburgischer Dorfbürgermeister (Timo Doleys), Marion, eine Lehrerin (Caroline Lux, die in Diktion und Körpersprache manchmal an Christine Prayon, die Birte Schneider der „heute-show“, erinnert), und Dirk, ein Spulenwickler (Stefan Martin Müller). Ihre beruflichen und politischen Erfahrungen haben sie - ganz in der Tradition von Hape Kerkeling - zu einem Ausstieg aus dem Hamsterrad motiviert: sie befinden sich auf dem Jakobsweg in Spanien und treffen zufällig wegen schlechten Wetters in einer Schutzhütte zusammen. Diese Hütte bietet für 24 Stunden Trockenheit, ein karges Stockbett und die Möglichkeit viel miteinander (und gegeneinander) zu reden.
Aus dieser besonderen Situation und Rahmenhandlung haben die Autoren Michael Frowin und Philipp Schaller eine gut geölte Szenenfolge gestrickt, mit schnellen Dialogen und wenigen Solo-Partien - meist endet das Ganze in einem gemeinsamen Song (musikalisch begleitet von Falk Breitkreuz und Til Ritter).
Lars erzählt von den syrischen Flüchtlingen im Dorf-Schulhaus: „Damit wir Fördergelder bekommen, haben wir ein paar Jugendliche zu Nazis umgeschult“; Marion erzählt von nächtlichen Anrufen der Helikopter-Eltern, die ihr erklärten wollen, dass der Sohn das Zeug zum Star-Architekten habe (sie meint: vielleicht doch nur zum Star-Maurer); Dirk will gar nicht wissen, wofür seine gewickelten Elektrospulen gebraucht werden, nachdem seine Firma zum zehnten Mal den Investor gewechselt hat.
Als Songs bleiben in Erinnerung der Tango von den „Sozialen Abwärtsvergleichen“ und die satirische Capri-Fischer-Parodie über die Plastik-Vermüllung der Weltmeere („Eine Insel so schön / ganz aus Propylen“). So entsteht eine meist hintersinnige Revue über aktuelle politische Themen und deutsche Befindlichkeiten der Gegenwart, die es gar nicht nötig hätte, das Programm noch durch abgestandene Angela-Merkel-Witzchen anzureichern. Aber leider gibt es da die lautesten Lacher …
http://www.distel-berlin.de/de/spielplan/repertoire/wenn-deutsche-ueber-grenzen-gehen.html
Yerma ****
von Federico Garcia Lorca
Inszenierung: Andreas Kriegenburg
Premiere am 27.4.2018
Staatsschauspiel Dresden
mit: Deleila Piasko u.v.a.
Was 1934 in Spanien noch eine Provokation war, erscheint heute nicht mehr als gesellschaftlicher Aufreger: junge Frau (Yerma) will sich mit der Lustlosigkeit ihres Ehemanns (Juan) und mit der damit verbundenen Kinderlosigkeit nicht abfinden; schließlich tötet sie den Fortpflanzungsverweigerer. Kann man diese Geschichte von Garcia Lorca nach Emanzipation und Frauenbewegung, nach Pille, Sex ohne Reue und dem Familienmuster DINK (double income, no kids) noch auf die Bühne bringen? Andreas Kriegenburg beantwortete diese Frage offensichtlich mit „Ja“ und präsentiert in Dresden Garcia Lorcas „Yerma“ als ein choreographisches und chorisches Schaustück, das vornehmlich mit eindrucksvollen Bildern, balletthaften Gruppierungen und gebetsmühlenhaftem Singsang arbeitet. Im Mittelpunkt steht die hoch-emotionale Yerma (Deleila Piasko), umkreist von Wäscherinnen/Verwandten/Freundinnen, die stolz ihren Nachwuchs präsentieren: „Wo ist dein Kind?“. Dass sie sich unhinterfragt in die traditionelle Frauenrolle einfügen und im häuslichen Gefängnis funktionieren, erkennen sie nicht - doch auch Yerma ist ja nicht bewusst kinderlos! Auch sie fügt sich den Vorschriften ihres Mannes Juan (Simon Werdelis), verweigert sich in ehelicher Treue einer Affäre mit dem Schäfer Victor (Mathis Reinhardt) und hofft bis zum Ende des Stückes auf die Samenspende des Ehegatten.
Die weiß-beige Sperrholzbühne von Harald Thor lässt viel Raum für Farb-Symbolik und Bewegungstheater. In den großen Raum fährt manchmal ein etwas kleinerer Kasten herein, der Yermas Haus und auf der Rückseite die Arbeitskabinen der anderen Frauen zeigt. Weiß-blaue Wäsche wird eifrig gewaschen, schwarze Kleider tragen die Bewacherinnen Yermas und ein Ausbruchsversuch der jungen Frauen mit rotem Lippenstift entpuppt sich als freie Assoziation zu dem Original, bei der die Schauspielerinnen kurz ihre Rollen verlassen. Am Ende wird Yerma zur tragischen Amazone und erwürgt ihren lendenlahmen Ehemann in einem großen Berg aus Herrenhemden. Der Theaterabend ist durchaus unterhaltsam und verleitet zu dem Fazit: man ist beeindruckt, aber nicht begeistert.
Willkommen **
von Lutz Hübner und Sarah Nemitz
Inszenierung: Katrin Lindner
Premiere: 12.4.2018
besuchte Vorstellung: 19.4.2018
Theater Erlangen (Markgrafentheater)
Lutz Hübner gehört ohne Zweifel zu den cleversten Trend-Scouts des deutschsprachigen Gegenwartstheaters. Zuletzt hat er die hyperaktiven Helikopter-Eltern („Frau Müller muss weg“), die Abgründe der Unternehmens-Kultur („Die Firma dankt“) und nun auch die deutschen Befindlichkeiten angesichts der Flüchtlingswelle („Willkommen“) in sein Themenspektrum aufgenommen. Kein Wunder, dass er in der Hitparade der meistgespielten Dramatiker auf deutschen Bühnen Platz 3 (gleich hinter Shakespeare und Goethe) einnimmt. „Willkommen“ wurde 2017 in Düsseldorf uraufgeführt (Regie: Sönke Wortmann) und nun am Theater Erlangen ins Programm aufgenommen.
Das Stück erzählt von einer fünfköpfigen Junge-Erwachsenen-WG, bei der anlässlich des allmonatlichen Jour-fix-Abendessens Anglist Benny ankündigt, dass er für ein Jahr als Gastdozent nach New York wechselt und sein 30qm-Zimmer an eine syrische Flüchtlingsfamilie zwischenvermieten will - „aber nur, wenn das alle so akzeptieren“! Die nun folgende Diskussion steht ein bisschen stellvertretend für die gesamtgesellschaftliche Debatte um die (Un)Willkommenskultur seit 2015, sie führt von Betroffenheits- und Empathie-Pathos immer mehr in einen Zustand des multipolaren Gemetzels, endet aber mit einer leicht merkwürdigen Versöhnung - oder wie die schwangere Sozialpädagogikstudentin Anna sagt: „Das Thema ist vom Tisch“.
Die Erlanger Inszenierung von Katrin Lindner verzichtet auf ein realistisches Bühnenbild und deutet nur mit fünf grünen Stühlen, einer (funktionslosen) Tür und einem leeren Küchenbüffet den Ort der Handlung an. Leider schlägt die Dialogregie kaum Funken, die Akteure scheinen öfter blutleer zu monologisieren, der spontane Wortwitz bleibt verdeckt. Stattdessen müssen die Schauspieler allerlei choreographischen Schabernack absolvieren, der genauso wenig Eindruck hinterlässt wie allzu symbolischen Seifenblasen, die fast nonstop vom Bühnenobergerüst herabgleiten. Das sechsköpfige Ensemble (Franziska Rieck, Adelheid Bräu, Alexandra Ostapenko, Martin Maecker, Amos Detscher und Charles P. Campbell) müht sich redlich die Charakterstudien von Gutmenschen und Bedenkenträgern, von Floskel-Produzenten und Klartext-Sprechern ins Rampenlicht zu setzen, an den müden Reaktionen im Publikum merkt man aber, dass der Versuch nur wenig gelingt. Auch die Verlagerung der WG-Küche von Köln nach Erlangen bringt keine zusätzliche Erhellung. Bassd scho? Eher nicht!
http://www.theater-erlangen.de/de/spielzeit-17-18/stuecke-projekte/willkommen
Wie es euch gefällt ****
Von William Shakespeare
Inszenierung: Frank Behnke
Premiere am 14.4.2018
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
In Zeiten, die uns momentan gar nicht so gefallen, muss es eigentlich erlaubt sein, ein Theaterstück anzubieten (und zu besuchen), das mit einem grandiosen Happy End aufwarten kann: vier Paare feiern nach diversen Irrungen und Wirrungen Hochzeit, zwei engstirnige Herrscher-Machos geben sich geläutert und entsagen der Gewalt - that’s the way I like it?
Doch so einfach und vordergründig entlässt weder der Autor Shakespeare noch der Regisseur Frank Behnke (einstmals Chefdramaturg in Nürnberg, nun Schauspieldirektor in Münster) sein Publikum, und die vorletzte Premiere im Großen Haus während der Ägide Kusenberg erzeugt trotz allem Jux und aller Tollerei eher Nachdenklichkeit und gebremstes Lachen.
Die Inszenierung beginnt mit dem Bild einer Machtusurpation durch den neuen Herzog (Pius Maria Cüppers), der hinter Absperrgittern und aus Nebelschwaden per Mikrofon zu seinen Untertanen spricht. Mit Fantasie-Uniform und Blondie-Perücke wirkt er wie eine Kreuzung aus Donald Trump und Kim Yong-un; sein Volk lullt er durch Brot und Spiele (hier: Ringkämpfe) ein, Kritiker schickt er kurzerhand ins Exil. Bald wird es einsam um ihn, denn nach dem alten Herzog (Jochen Kuhl) verlassen auch seine Tochter Celia (Lilly Gropper), ihre Cousine Rosalinde (Josephine Köhler), der Narr Touchstone (Frank Damerius) und der junge Orlando (Julian Keck) den düsteren Hof.
Das zweite Bild (Bühne: Peter Scior) zeigt auf der Drehbühne die Gegenwelt zu Machiavellismus und Untertanen-Kriecherei. Zwar sind die Absperrgitter geblieben, doch nun bilden sie ein geradezu poetisches Klettergerüst (das übrigens ziemlich an die Schöner-Brunnen-Installation von Olaf Metzel aus dem Jahre 2006 erinnert) als Symbol für den Ardenner Wald. In diesem Eisengeflecht tummeln sich die Exilanten als bunte Hippie-Kommune, sie drapieren ein großes Transparent „Make Love Great Again“ (!) und können nun zur Musik von Chris Isaak („What a wicked game to play“) ihren Liebes-, Verwechslungs- und Weltschmerz-Spielchen frönen; es fehlt nur noch, dass der Bühnennebel nach Haschisch riecht! Die Regie übernimmt die als Mann verkleidete Rosalinde - eine herausragende Leistung von Josephine Köhler, deren Abschied aus Nürnberg nur schwer zu verschmerzen sein wird. Dazu bellt der Narr Jacques (Heimo Essl) die bekannten Verse von der Doppelbödigkeit unserer Existenz: „Die ganze Welt ist eine Bühne, / Und Männer, Frauen, alle sind bloß Spieler; / Sie gehen ab und treten wieder auf / Und spielen eine Rolle nach der andern“. Nicola Lembach meckert sich als Ziegenhirtin Audrey durchs Gelände und findet in Touchstone den Deckel zum Topf. Als schließlich auch der sprachlahme Orlando als Macbeth-Vorbote zu seiner Rosalinde findet und die Amazone Phebe (Svetlana Belesova) ihrem liebestollen Naivling Silvus (Janco Lamprecht) das Ja-Wort geben muss, steht einem Grinse-Gruppenfoto nichts mehr im Weg.
Das Premieren-Publikum spendet der originell modernisierten, bildstark präsentierten und sinnvoll gekürzten Shakespeare-Fassung reichlich Beifall und darf beim Heimweg über des Narren Feststellung nachdenken: „Schade, dass Idioten heutzutage nicht mehr vernünftig sagen dürfen, was vernünftige Leute Idiotisches tun“.
Draußen vor der Tür ****
von Wolfgang Borchert
Inszenierung: Sascha Hawemann
Premiere am 24.2.2018
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Es war ein Stück, das angeblich kein Theater spielen und kein Publikum sehen will. Doch dann stellte sich heraus, dass Wolfgang Borchert damit im Jahr 1947 eine ganze Generation ansprechen konnte: die Generation ohne Abschied, ohne Bindung, ohne Bleiben, ohne Ankunft, ohne Heimkehr - und ohne Gott. Die Hauptfigur Beckmann hat sich in der Tradition von Büchners „Woyzeck“ und Tollers „Hinkemann“ mittlerweile einen festen Platz in der Literaturgeschichte nach 1945 erobert; er ist der Kriegsheimkehrer, der vergeblich nach einem Sinn sucht, den das schlechte Gewissen plagt, der das Selbstmitleid einer großen Gruppe spiegelt und der seine Anklage gegen die sich wieder behaglich einrichtende bürgerliche Gesellschaft mit einem expressionistischen Schrei artikuliert.
Trotzdem bleibt die Frage, ob das Stück „Draußen vor der Tür“ heute noch ein Theater spielen und ein Publikum sehen will. Regisseur Sascha Hawemann gibt darauf in Nürnberg eine unüberhörbare Antwort. Es nimmt dem Heimkehrer Beckmann seinen ausschließlichen 1947er-Zeitbezug und verweist auf die weltweit traumatisierten Soldaten nach 1945 - auf die Vietnam-Veteranen der USA, auf die völkerrechtswidrig in den Irak Einmarschierten und auf die Bundeswehr-Angehörigen, die am Kandahar angeblich unsere Freiheit verteidigen sollten. Dazu übersetzt er den Hörspiel-Schrei Borcherts, der in einem Manifest einmal schrieb, dass der „erregte, hektische Jazz“ nun seine Musik sei („das heiße verrückttolle Lied, durch das das Schlagzeug hinhetzt, katzig, kratzend“), in den lauten Punk-Hard-Rock der 90er Jahre, den der Bühnenmusiker Xell an der Gitarre, der Schauspieler Frederik Bott (auch in der Rolle als junger Beckmann) am Schlagzeug und zuletzt auch der Schauspieler Julian Keck (vor allem in der Rolle des Beckmann) am Bass über die Bühne donnern lassen. Wenn dazu die übrigen Schauspieler auf der mit Marshall-Lautsprechern bestückten Bühne (Wolf Gutjahr) schlammverschmiert die Bierflaschen öffnen und tanzen, fühlt man sich - abgesichert durch am Eingang verteilte Ohrstöpsel! - fast in das Wacken-Festival versetzt mit der aktuellen Botschaft: auch so kann man der Realität entfliehen.
Insgesamt überzeugt die sehr direkte und assoziationsreiche Regiesprache Hawemanns mit seiner Blut, Schweiß & Dreck-Ästhetik, weil er dem Original-Text trotz mancher Aktualisierungen und Ergänzungen vertraut, seinen Schauspielern großen körperlichen und stimmlichen Einsatz abverlangt, dies aber stets in den Gedanken des Stückes verankert. So darf Stefan Lorch mehrere Personen des Stationendramas verkörpern: er ist die Elbe in einer glitzernden Conchita-Wurst-Variante, er ist der abgewrackte Gott, der als Monty-Python-Brian mit „Je suis Jesus“-T-Shirt und Golgatha-Kreuz über die Bühne wackelt, er ist der knarzige Oberst, der mehr an Äpfeln als an der Verantwortung zu kauen hat, und er ist der zukunftsorientierte Herr Kramer, der den Blick schon fest auf die Zeit des kommenden Wirtschaftswunders gerichtet hat.
Eine glanzvolle Solonummer bietet die Rolle des Theaterdirektors für Nicola Lembach, wo sie in Gustav-Gründgens-Montur als Mephisto das zynische Böse zum Ausdruck bringt. Svetlana Belesova überzeugt schließlich als radelndes junges Mädchen, nicht zuletzt mit einem berührenden Zusatztext über die Verwüstungen der deutschen Soldaten in Russland. Dass die Hauptfigur Beckmann sogar auf drei Schauspieler verteilt ist (mit Stefan Willi Wang als „Der Andere Beckmann“) mag der Arbeitsökonomie auf der Bühne geschuldet sein. Gegen Ende eröffnen die eingespielten Video-Sequenzen auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände noch einen passenden lokalen Bezug. Danach lang anhaltender Beifall für die Borchert/Hawemann-Parole des gut zweistündigen pausenlosen Abends: „Wir wollen grob und proletarisch sein … und lärmende Angst haben!“
Die Wiedervereinigung der beiden Koreas ****
von Joël Pommerat
Inszenierung: Klaus Kusenberg
Premiere am 16.12.2017
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Im Jahre 1960 stürmte Connie Francis mit dem Schlager „Die Liebe ist ein seltsames Spiel“ die Hitparaden - den deutschen Text schrieb übrigens ein gewisser Ralph Maria Siegel. Dasselbe Grundthema muss wohl der französische Autor und Regisseur Joel Pommerat verfolgt haben, als er 2013 mit seiner Schauspieler-Compagnie das Stück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ erarbeitet und in Paris uraufgeführt hat. Herausgekommen sind 19 Kurz-Szenen mit wechselnden oft anonymisierten Personen („Ein Mann. Eine Frau“), die jenen zwischenmenschlichen Aggregatszustand, den man landläufig Liebe nennt, aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Die staatliche Wiedervereinigung des Titels (mit der wir ja als Deutsche erfreuliche Erfahrungen haben), steht dabei für den kurzen Glücksmoment des Anfangs, Pommerat aber, als Skeptiker der dauerhaften Zweierbeziehung, zeigt eher die tragik-komischen Krisen des Alltags, die Verwerfungen, die Problemwüsten der Moderne: Liebe im Zeitalter der Individualisierung, der Ökonomisierung. Er beabsichtigt also eine Dechiffrierung jener Romantik, die jetzt nur noch dem Schlager als „Surrogat für verschüttete Gefühle“ (Adorno) vorbehalten ist: es grölt der abgestumpfte, zur Reflexion unfähige Bierzeltbesucher heute gerne „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Lie…hiebe nicht!“
Schon die erste Szene des Abends („Scheidung“) setzt den Grundton, als eine Frau im Monolog bekennt: „Es gibt keine Liebe zwischen uns. Es hat sie nie gegeben!“ Gegen Ende verlässt eine Frau unvermittelt das Bett des Mannes mit den vieldeutigen Worten „Liebe reicht nicht“. Dazwischen stehen Szenen über das Verhältnis des Chefs zu seiner Angestellten, eines Geistlichen zu einer Prostituierten, über ein kinderloses Ehepaar, das sich einfach einbildet, zwei Kinder zu haben, über eine Hochzeit, bei der sich herausstellt, dass der Bräutigam mit allen fünf Schwestern ein Verhältnis hatte, über einen Vater, der seinen Sohn aus Liebe zur Nation in den Krieg schickt, und über die Liebe eines Lehrers zu seinen Schülern, was von den Helikopter-Eltern als Grenzverletzung empfunden wird.
Meist durchzieht die Dialoge eine feine Ironie, wie man sie aus den Stücken von Yasmin Reza oder auch aus dem Episodenfilm „Tatsächlich … Liebe“ von Richard Curtis kennt. Pommerat aber mutet dem Zuschauer auch harten Realismus zu, wenn er das Gespräch eines Mannes mit seiner dementen Frau oder die ärztliche Beratung für die Abtreibung bei einer schwangeren geistig behinderten Frau abbildet. Da bleibt einem das Lachen schon im Halse stecken.
Klaus Kusenberg hat das Stück als Abschieds-Inszenierung nach 18 Jahren als Direktor am Nürnberger Schauspielhaus ausgewählt und gänzlich uneitel das zehnköpfige Ensemble (Biendl, Essl, Hochstrasser, Köhler, Langehein, Lamprecht, Lembach, Lorch, Schebesch, Steeger) in den Fokus gerückt. Auf der Bühne (Ayse Özel), die sich ca. 19mal dreht (man denkt an Schnitzlers „Reigen“), steht nur ein großer LED-Kubus (bekannt aus „Odyssee im Weltraum“) und ein mit weißen Stoffbahnen verhängtes Klettergerüst (vielleicht die Mauer zwischen Nord- und Südkorea?). In diesem schlichten, unspektakulären Ambiente entfalten die Schauspieler ihre dialogische Feinheit, ihre individuelle Präsenz.
Weil man weiß, dass nach der Saison wegen des Direktoren-Wechsels acht dieser Akteure (und darüber hinaus noch ein paar mehr!) Nürnberg verlassen müssen, fühlt man sich beim heftigen und fast schon demonstrativen Schlussapplaus wie der Zirkusbesucher in Kafkas Parabel „Auf der Galerie“: er legt das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.
Biedermann und die Brandstifter ****
von Max Frisch
Inszenierung: Christoph Mehler
Premiere am 10.6.2017
besuchte Aufführung: 8.11.2017
Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)
Es ist was faul im Hause Biedermann. Denn der gute Bürger und Haarwasser-Fabrikant Gottlieb B. hat zwar die Kaltschnäuzigkeit, seinen Angestellten Knechtling zu entlassen (und damit in den Selbstmord zu treiben), gegenüber den Hausierern Schmitz und Eisenring ist er aber auf dem rechten (oder linken) Auge blind und gewährt als Gutmensch den Zuflucht Suchenden Wohnraum in seinem Dachboden, obwohl überall vor Brandstiftern gewarnt wird. Dass die beiden dort oben mit Benzinfässern, Holzwolle, Zündschnüren und Streichhölzern hantieren, lässt ihn ungerührt: "man soll nicht immer das Schlimmste denken … ich will meine Ruhe und meinen Frieden haben". Schon bei der Uraufführung 1958 des "Lehrstücks ohne Lehre" - so untertitelte Max Frisch ganz antibrechtisch - wurden zwei doch mögliche Lehren artikuliert: wollte Frisch das Arrangement des Großbürgertums mit dem Hitlerfaschismus ab 1930 kritisch beleuchten oder wollte er die kommunistische Machtergreifung 1948 in Tschechoslowakei analysieren? Jedenfalls wurde das Stück in der Folgezeit zum Bühnenrenner und zur angesagten Schullektüre.
Dass aber auch 2017 die Botschaft noch hörbar und verstehbar ist, kann Christoph Mehler in seiner präzisen und eindringlichen Nürnberger Inszenierung nachweisen. Er komprimiert den Text auf spannungsreiche, pausenlose 75 Minuten, verzichtet auf einige redundante Nebenfiguren und überträgt die Rolle des Chores gleichzeitig seinen fünf Hauptdarstellern. Stefan Lorch gibt dem Biedermann grelle Züge: trotz seiner Parole "Ich kann nicht Angst haben die ganze Zeit", trotz seiner Werbung für Vertrauen und Aufhebung der Klassengegensätze steht er am Ende belämmert als todesängstlicher Jedermann/Biedermann in der Unterhose da. Seine Frau Babette (Nicola Lembach) verliert im Laufe des Stückes Haare, Herz und Zähne, während die beiden Eindringlinge (Pius Maria Cüppers, Daniel Scholz) mit rhetorischer Hintergründigkeit und sportivem Outfit das Heft in der Hand haben.
Jennifer Hörr hat die Kammer-Bühne mit schrägen Dachbalken verbaut, die den Akteuren manche Balanceakte aufzwingen und ein hartes Wechselspiel von Licht und Schatten ermöglichen. Am Ende hört man brennendes Feuer und Alarmsirenen, doch "zum Glück nicht bei uns". Dem Nürnberger Publikum ist es nun vorbehalten, ob sie in dem Biedermann die Merkelsche Flüchtlingspolitik oder in den Hausierern die AfD-Propagandapolitik entdecken wollen. Gültig bleibt auf jeden Fall der (doch wieder sehr brechtische) Chor-Satz des Originals: "Viel kann vermeiden Vernunft".
Tiefer Schweb ****
Von Christoph Marthaler
Inszenierung: Christoph Marthaler
Premiere am 24.6.2017
Besuchte Aufführung: 12.11.2017
Kammerspiele München
Nachdem Christoph Marthaler die Freie Volksbühne im Zorn verlassen hat, präsentiert er sein neues Theaterprojekt an den Kammerspielen München. Bei der letzten Berliner Produktion „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ war ein zunächst leerer Raum des Naturkundemuseums Basel die Spielfläche, nun entsendet er acht Darsteller in die Tiefen des Bodensees, genauer in die „geheime Klausurdruckkammer 55b“, wo sie im Auftrag der Verwaltungsbehörde einen Krisen-Ausschuss bilden sollen. An der Oberfläche des Dreiländersees haben sich nämlich auf mehreren Fahrgastschiffen aufgrund menschlicher Mobilität „Temporärheimaten“ gebildet - der aktuellen politischen Problematik (Flüchtlingskrise) will und kann also auch Marthaler nicht ausweichen.
Doch trotz energischer Ansagen des Ausschussvorsitzenden zerbröselt die Arbeit des Ausschusses nach kurzer Zeit in ein absurdes Theater, voll von schrägen Texten, merkwürdigem Singsang und repetitiven Bewegungsabläufen. Es wird der Name des Bodensees in alle Weltsprachen übersetzt, es werden die Inhaltsstoffe von Weißwürsten rezitiert, die Tugenden eines Ausschusses von A bis Z herausgebrüllt und Urinale über den Kopf gestülpt; das Marthalersche Dada-Kabarett feiert also fröhliche Urstände. Dabei sind die pausenlosen zwei Stunden in jedem Fall unterhaltsam, da jeder Zuschauer sich seine eigenen Assoziationen durch den Kopf gehen lassen und sich an Kafka-Aphorismen (Ungeduld und Lässigkeit) sowie an Heidegger-Phrasen (über das Nicht-Wollen), die beim Steh-Pinkeln ausgetauscht werden, erfreuen kann. Der Höhepunkt kommt, wenn drei Hammond-Heimorgeln hereingeschoben werden und Ueli Jäggi das Stück „A Whiter Shade Of Pale“ von Procol Harum anstimmt - übrigens ein Song mit drogen-affinem Text-Material! Dann folgt noch eine Personen-Polonaise durch den Kaminofen (Bühne: Duri Bischoff), schon stehen alle in putzigen Trachten auf der Eiche-Rustikal-Bühne und die fabelhafte Annette Paulmann schmettert das Lied von der „Fischerin vom Bodensee“, zu dem Hassan Akkouch einen schmissigen Breakdance-Schuhplattler aufs Parkett legt. Am Ende entblättert sich der ganze Ausschuss bis auf die Unterwäsche und einer beginnt wie wild die Druckkammer mit Dachlatten und Stacheldraht zu verbarrikadieren - ein bildlicher Verweis auf die Festung Europa, die dem Untergang geweiht ist?
Wer sich also an der Form des Liederabends (im Sinne von Franz Wittenbrink), aufgepeppt mit poetisch-surrealen Textbausteinen und durchzogen von politisch-philosophischen Denkanstößen, erfreuen kann, ist mit Marthalers Münchner Inszenierung bestens bedient.
https://www.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/tiefer-schweb
Abgefrackt! (Fracked!) ****
von Alistair Beaton
Inszenierung: Klaus Kusenberg
Premiere (Deutschsprachige Erstaufführung) am 21.10.2017
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Traditionell Gebildete kennen aus dem 2. Teil von Goethes Faust das alte Pärchen Philemon und Baucis (ursprünglich in Ovids Metamorphosen), das durch Fausts Landnahme aus seinem kleinen Häuschen vertrieben wird und diese Zwangsumsiedlung nicht überlebt. Auf ihrem Grundstück wollte Faust sich zwischen den alten Linden einen "Luginsland" errichten lassen, um von dort aus seinen "Welt-Besitz" zu genießen: "Dort wollt ich, weit umher zu schauen / Von Ast zu Ast Gerüste bauen / Dem Blick eröffnen weite Bahn / Zu sehn, was alles ich getan".
Sehr ähnlich ergeht es in dem neuesten Stück des Schotten Alistair Beaton dem älteren Ehepaar Elizabeth und Jack. Allerdings ist es nun nicht der vom Teufel getriebene Faust sondern die Firma Deerland Energy, die rund um ihr Örtchen Fenstock großflächige Fracking-Bohrungen nach Schiefergas vorantreiben will. Die Methoden, mit denen sie die Bewohner "überzeugen" wollen, sind Bestechung und Verleumdungsklagen. Doch Elizabeth lässt sich nicht kleinkriegen, sie wird zur leidenschaftlichen Umweltschützerin, die mit zivilem Ungehorsam Widerstand leistet. Die emeritierte Literaturprofessorin, die von Elke Wollmann als eine Mischung aus Luise Rinser und Barbara Rütting gespielt wird, verkörpert den möglichen Untertitel dieses Theaterstücks: Wie aus einer braven Wahlbürgerin eine zornige Wutbürgerin wird! Das Hassobjekt Fracking könnte genauso gut durch Windparks, Pumpspeicherwerke, Castor-Transporte oder Atommüll-Endlager ersetzt werden. Damit veranschaulicht sie auch die These des englischen Sozialwissenschaftlers Colin Crouch von der "Postdemokratie" des 21. Jahrhunderts, in der Wahlen zu einem im Wortsinn formalen und tatsächlich folgenlosen Verfahren mutieren, weil die wahre Macht bei den Großkonzernen angesiedelt ist.
Da nun aber der Autor Alistair Beaton ganz in der Tradition des angelsächsischen well made play politisches Theater mit Unterhaltung verbinden will, gruppiert er um die aufrechte Öko-Oma ein Handlungspersonal, das zugunsten der Comedy-Elemente hart an der Klischee-Schmerzgrenze agiert. Ihr Ehemann (differenziert gespielt von Frank Damerius) ist ein stiller Beobachter, der statt politischen Internet-Aktivitäten und geologischen Studien lieber mit seiner Frau einen Scrabble-Abend in der putzigen Wohnküche verbringen will. Sam (Frederik Bott) ist das lachhafte Abziehbild eines jungen Umweltaktivisten: vegan, verpeilt und voll korrekt. Die deutlich ältere Jenny (Henriette Schmidt) ist in ihn verknallt, weiß aber trotzdem um die praktische Durchführung von Sitzblockaden und Menschenketten. Dagegen gestaltet Marco Steeger den PR-Berater Joe als hyperaktiven, schonungslos zynischen Machtmenschen, der sich nicht scheut, neben "Fracking" noch andere F-Wörter zu verwenden und seine Auftraggeber gegeneinander auszuspielen. Und Jochen Kuhl darf Neville, den Vorsitzenden des örtlichen Bauausschusses, als korrupten Beliebigkeits-Politiker komödiantisch auskosten.
Klaus Kusenberg, der den Autor Beaton schon vor etwa 15 Jahren mit der Polit-Satire "Feelgood" dem Nürnberger Publikum schmackhaft machte, setzt voll auf die wortwitzigen Dialoge mit hoher Gag-Dichte und vertraut seinem spielfreudigen Ensemble. Die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum ist teilweise aufgehoben, auch durch die Tatsache, dass man auf die gleichen Seitenwände (Bühne: Beate Faßnacht und Günter Hellweg) schaut. So entsteht ein unspektakulärer, manchmal etwas vordergründiger, aber durchaus unterhaltsamer Theaterabend. Bei der Premiere wurden die Hauptdarsteller und vor allem der aus London angereiste Autor heftig beklatscht. Für die Zuschauer der deutschsprachigen Erstaufführung soll beruhigend nachgetragen werden, dass die derzeitige Noch-Umweltministerin Barbara Hendricks das gewerbliche Fracking in Deutschland verboten und nur wissenschaftlich begleitete Probebohrungen gestattet hat.
Kasimir und Karoline ****
von Ödön von Horvath
Inszenierung: Georg Schmiedleitner
Premiere: 6.10.2017
Mit: Josephine Köhler, Stefan Willi Wang u. v. a.
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Auf den Hollywood Hills oberhalb von Los Angeles leuchtet mit weißen Großbuchstaben das berühmte Hollywood-Sign als Bild-Symbol der weltweit bekannten Traumfabrik. Über die Gemütsverfassung der dortigen Bewohner hat die Gruppe Sunrise Avenue 2011 gesungen: „This is the end oft he rainbow, where no one can be too sad“.
Für seine Nürnberger Inszenierung des Horvath-Stückes „Kasimir und Karoline“ hat sich Regisseur Georg Schmiedleitner von Stefan Brandmayer ein großes Stahlgerüst auf die Bühne stellen lassen, bei dem oben der Schriftzug „TOMORROW“ blinkt - wohl als Zeichen der vagen Hoffnung auf ein besseres Morgen. Darunter tummeln sich kleinbürgerliche Glückssucher, proletarische Gauner und großbürgerliche Schürzenjäger. Im Original (Uraufführung 1932) war der Schauplatz das Münchner Oktoberfest, wo nach der Meinung des eitlen Kommerzienrates Rauches trotz Weltwirtschaftskrise noch klassenlose Demokratie herrscht, wo der kleine Dienstmann neben dem Geheimrat bei der Maß Bier sitzt. Schmiedleitner hat das Geschehen aber in eine Techno-Disko des 21. Jahrhunderts gebeamt und als Rummelplatz-Zitate nur noch drei Autoscooter, eine Galerie von Dixi-Klos, ein paar Lebkuchenherzen mit der Aufschrift „Ich liebe Dich so wie Du bist“ (jedoch nicht: „Und die Liebe höret nimmer auf“!) und ein Bierglas übrig gelassen. So tönen als Hintergrundmusik auch keine Oktoberfest-Hymnen („Trink, trink Brüderlein trink / Lasse die Sorgen zuhaus“) sondern massive Beats und die Sphärengesänge der Rausch-Gold-Engel Elli und Maria. Aus dem Ausrufer des Raritätenkabinetts wird ein hektischer DJ im Glitzeranzug (Pius Maria Cüppers), der Texte des Berliner Berghain-Bloggers Airen ins Mikrofon bellt. In dieser hitzigen Atmosphäre verhandeln der eben arbeitslos gewordene Chauffeur Kasimir (Stefan Willi Wang, diesmal bemerkenswert zurückgenommen) und die vergnügungssüchtige Karoline (Josephine Köhler mit einer sehr heutigen Rolleninterpretation) ihre Beziehungsprobleme. Während Karoline den vorbeifliegenden Zeppelin bewundert und sich in der Achterbahn ordentlich durchwirbeln lassen will, wird Kasimir zum pessimistischen Sozialkritiker: „Da fliegen droben zwanzig Wirtschaftskapitäne, und herunten verhungern derweil einige Millionen!“ Weil dem Kasimir die Lust und die nötigen Scheine zum Spiel des kurzzeitigen Vergessens fehlen, lässt sich Karoline auf diffuse männliche Angebote ein: auf den anfangs verklemmten Zuschneider Schürzinger (schön verbogen: Martin Aselmann) und auf seinen auftrumpfenden Chef Rauch (Michael Hochstrasser). Die Nacht im dichten Trockeneis-Nebel endet in desillusionierender Klarheit, als Karoline erkennt: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen.“
Nach 18 Jahren als stilbildender Dauergast dürfte sich Georg Schmiedleitner mit dieser soliden Inszenierungs-Arbeit für längere Zeit (für immer?) vom Nürnberger Theaterpublikum verabschieden - zum gar nicht so leisen Servus richtete er bei der Premierenfeier einen Dank an die Besucher, die ihn über die Jahre mit Zustimmung, aber auch mit kritischen Anmerkungen (bis hin zu Buh-Rufen) begleitet haben. Diesmal war der Beifall, trotz der Tatsache, dass man die Bühnensprache des Österreichers mittlerweile gut kennt und daher vor Überraschungen leider sicher ist, ungeteilt.
Kasimir und Karoline **
von Ödön von Horvath
Inszenierung und Textfassung: Abigail Browde & Michael Silverstone ("600 Highwaymen")
Premiere: 11. 8. 2017
Salzburger Festspiele (Universität Mozarteum Salzburg, Großer Saal)
Nachdem Fußballvereine, Volksparteien, Musik-Initiativen und Stadttheater-Bühnen das Prinzip Nachwuchsförderung als wichtig erkannt haben, wollten dem die Salzburger Festspiele nicht nachstehen. Es gab einmal ein interessantes Young Directors Project, dem aber vor ein paar Jahren der Sponsor abhanden kam. Nun machten sich die beiden festival-erfahrenen New Yorker Projekt-Theaterkünstler Abigail Browde und Michael Silverstone auf die Suche nach unverbrauchten Gesichtern, sind aber offensichtlich mit ihrem Konzept des partizipativen Theaters an diesem Klassiker des kritischen Volksstücks weitgehend gescheitert. Durch ein frühes Casting wurden 23 Akteure ausgewählt - fast durchwegs ambitionierte Bühnen-Amateure -, die nun im fließenden Rollenwechsel die Texte der Protagonisten nachsprechen. Das wirkt in seltenen Momenten rührend, meist eher unfreiwillig komisch.
Dazu haben die beiden Gruppenleiter, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, den Horvath-Text in eine episch-erklärende Sprachwüste verwandelt ("und dann sagt Kasimir"), der die kritisch-satirische Spannung von Horvaths Dialogen vollkommen ausleiert. Von dem Original-Schauplatz, dem Münchner Oktoberfest während der Weltwirtschaftskrise 1932, ist noch eine kurze Lederhose und ein grüner Trachtenjanker übrig geblieben, ansonsten bewegen sich die Spieler auf einem großen, kargen Holzrechteck, fast wie ein Eislaufplatz, der von einer Holzbande umgeben ist. Mit viel, aber meist sinnfreier pantomimischer Hand- und Fuß-Arbeit wird eine Ringelreihen-Choreografie erzeugt, die an ein VHS-Mehrgenerationenprojekt unter dem Titel "Sprecherziehung und Tai Chi" erinnert. Die für das Stück so wichtige Oktoberfest-Musik als Medium der klassenlosen Verdrängungsmaschinerie ("Solang stirbt die Gemütlichkeit / In München nimmer aus") wurde ebenso gestrichen wie das schrille Abnormitätenkabinett, das an Büchners "Woyzeck" anknüpft. Es zeigt sich, dass die beiden Regisseure mit der Tradition des deutschsprachigen sozialkritischen Volksstücks aus dem 19. und 20. Jahrhundert - also von Büchner bis Kroetz - nicht vertraut sind und statt dessen in ein postmodernes Jungmädchen-Befindlichkeits-Spiel ausweichen, das während einer englischsprachigen Passage mit dem Song "If that is all there is" seinen Höhepunkt findet.
Dann werden noch ein paar Säcke mit Herbstblättern und Kinderpuppen ausgeschüttet - und wieder sorgsam zusammengekehrt -, bis eine der ca. acht Karolinen nach dem großen Aufräumen ihr ambivalentes Schlusswort verkündet: "Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wäre man nie dabei gewesen". Verhaltener Beifall für eine Produktion, die den sich mit vielen Superlativen schmückenden Salzburger Festspielen ein bemerkenswert unprofessionelles Discount-Angebot beimischt.
http://www.salzburgerfestspiele.at/schauspiel/kasimir-karoline-2017
Die Jungfrau von Orleans ****
von Friedrich Schiller
Inszenierung: Peter Wittenberg
Premiere: 10.6.2017
besuchte Aufführung: 17.6.2017
mit: Lilly Gropper u. v. a.
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Das kommt einem doch irgendwie bekannt vor: ein Mensch ist angewidert von einer innerlich zerrissenen Nation ohne klare Herrschaft und fühlt in sich den göttlichen Sendungsauftrag, diesen chaotischen Zustand durch Kampf unter Einsatz des eigenen Lebens zu beenden. So aktuell ist Schillers romantische Tragödie aus dem Jahre 1801, so problemorientiert (und textlich großzügig durchgelüftet) hat sie Regisseur Peter Wittenberg als letzte Saisonpremiere des Nürnberger Sprechtheaters auf die große Bühne des Schauspielhauses gesetzt.
Dabei ist die Bühne von Florian Parbs ein sich nach hinten verengender weißer Trichter, auf dessen schiefer Ebene die Akteure wie Figuren auf dem Taktikbrett eines Handballtrainers aufgestellt und herumgeschoben werden. Im Mittelpunkt agiert als dominante Hauptperson die Jungfrau Johanna, die von Lilly Gropper als eine Mischung aus christlich-fundamentalistischer Penthesilea, aus Lara Croft und aus palästinensischer Selbstmordattentäterin (!) interpretiert wird. Ihre Präsenz ist unübersehbar, denn ihre Augenpartie wird während der gesamten zwei Stunden vermittels einer Helmkamera an die Rückwand der Bühne projiziert: „Johanna is watching you!“ Ihr gegenüber sind die anderen Darsteller nur klischeehafte Statisten: der schwache König Karl VIII. (Thomas Nunner), der konfliktscheu in ein Schäfer-Idyll fliehen will, der knatterige Vater Thibault (Frank Damerius), der von Johanna die tradierte Rolle als Ehefrau und Mutter einfordern will, die sittenlose, Chaos stiftende, intrigante Königinmutter Isabeau (Elke Wollmann) oder der nihilistische Sachzwang-Realist Talbot (Stefan Willi Wang), der in Johannas Sendung nur Dummheit und Aberwitz sieht. Johannas anfängliche Kampf-Erfolge zur Wiederherstellung des idealen Staates mit Reichseinheit, Frieden und legitimen König münden tragisch in die eigene Schuld, als sie im ringerischen Zweikampf mit dem englischen Anführer Lionel (Janco Lamprecht) plötzlich eine sexuelle Komponente an sich entdeckt. Dies führte schließlich bei der historischen Jeanne d’Arc zur Verbrennung (1431), bei Schiller zur Läuterung und zur Legenden-Verklärung: „Der Himmel öffnet seine goldenen Tore“. Aus diesen Bildkomponenten hat Peter Wittenberg ein sehr heutiges Schluss-Tableau entwickelt: es bleibt noch Zeit für eine Zigarette („Gute Nacht, Freunde!“), bevor Johanna im grell-orangen Licht des Bühnenhintergrunds entschwindet. Schillers erhoffter Sieg der Idee über die Anarchie der Geschichte wird so zum nebligen, aber sehr präsenten Dilemma des 21. Jahrhunderts. Über weite Strecken ein Musterbeispiel für die seriöse Auseinandersetzung mit klassischen Theaterstoffen.
Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter ****
von Christoph Marthaler, Anne Viebrock & Ensemble
Inszenierung: Christoph Marthaler
Premiere am 21.9.2016
Besuchte Aufführung: 19.5.2017
Mit Sophie Rois, Irm Hermann u.v.a.
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin
Es ist ein kurzer Theater-Brief zum langen Abschied von der Berliner Volksbühne, den Christoph Marthaler samt Ensemble verfasst hat. Denn auch er wird (wie manche anderen stilbildenden Regisseure) nach dem Ende der Castorf-Ära unter dem neuen Intendanten („Kurator“) Chris Dercon nicht mehr am Rosa-Luxemburg-Platz arbeiten wollen. Somit dürfte dann am 18. Juni 2017 die letzte Chance sein, diese eigenwillige Produktion, eine Mischung aus absurdem Theater, Bewegungs-Theater und meditativem Singspiel vor Ort anzuschauen. Wer sich allerdings von dem gut zweistündigen (pausenlosen) Theaterabend eine dramatische Handlung, pointierte Dialoge oder gar psychologische Entwicklungen einzelner Personen erwartet, wird enttäuscht sein. Marthaler stellt dagegen - wie der an Botho Strauß erinnernde Titel verspricht - Gesichter und Gefühle aus, präsentiert sein Ensemble als Bilder einer Ausstellung, die von einem Hausmeister (Marc Bodnar) herein- und herausgeschoben werden. Dazu passt auch der hohe Raum von Anna Viebrock, der dem Vorbild des derzeit leer stehenden Naturkundemuseums in Basel nachempfunden wurde. Im Hintergrund sorgt der Bühnenaufzug für Bewegung. Die menschlichen Exponate treten dann in eine fragile Beziehung zueinander, vermischen sich, lösen sich auf und singen andächtige Lieder von „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ bis zu Gustav Mahlers „Ich bin aus tiefem Traum erwacht“. Zur Begleitung stehen am Bühnenrand vier alte Heimorgeln, die von Bendix Dethleffsen und Jürg Kienberger bedient werden. Die Start-Auftritte und die Bewegungen der Personen im Raum haben teilweise artistische (Olivia Grigoli), teilweise clowneske Züge (Magne Havard Brekke). Recht selten fallen auch Sätze: Irm Hermann zum Beispiel beschwert sich gleich am Anfang: „Ich hasse diese Wanderausstellungen“. Später öffnet sie umständlich Glückskekse und verliest die aufmunternden Botschaften: „Du sollst dich im Zweifel für das Richtige entscheiden!“ Ansonsten werden einfach mal absurde Wortfetzen wie Teebeutel eingeworfen. Diese Kollektiv- und Musik-Performance entfaltet zunehmend einen Sog, dem sich der Zuschauer nur schwer entziehen kann, auch wenn sich das Geschehen einer aufgeklärten Analyse weitgehend entzieht. Der Kritiker der „Berliner Zeitung“ verfiel wohl gar in einen traumhaften Schlaf und vermeldete an Ende: „Nicht wecken, bitte“. Bei der Laudatio für Christoph Marthaler, der für diese Produktion im Mai 2017 den Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost erhielt, wünschte sich Kultursenator Klaus Lederer noch viele Chancen, den Theater-Utopisten in Berlin zu sehen - fragt sich nur, eventuell wo!
http://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/bekannte_gefuehle_gemischte_gesichter/
Auerhaus ***
Nach dem Roman von Bov Bjerg
in einer Fassung von Nora Schlocker und Birgit Lengers
Inszenierung: Nora Schlocker
Premiere am 21.5.2017
Deutsches Theater Berlin (Kammerspiele)
Nachdem „Auerhaus“, der kleine, aber feine Roman von Bov Bjerg, am Ende des Jahres 2015 mit frenetischen Rezensionen überschüttet wurde, kletterte er rasch in die Bestsellerliste und erlebt nun (wie bei Wolfgang Herrnsdorfs „Tschick“) den Prozess der multimedialen Weiterverwertung. Das Radio Berlin-Brandenburg produzierte ein Hörspiel, die Constantin arbeitet derzeit an einer Verfilmung (Produzent: Oliver Berben) und im Deutschen Theater Berlin sollte schon im Oktober 2016 eine Theaterfassung uraufgeführt werden. Wegen Erkrankung konnte man diesen Termin nicht halten, deshalb kam das Schauspiel Düsseldorf in den Genuss der deutschen Erstaufführung, die Berliner Version erlebte erst jetzt ihre Premiere.
Die dialoglastige Geschichte erzählt von sechs jungen Erwachsenen (vier davon stehen kurz vor dem Abitur), die sich zu einer „therapeutischen“ WG im Auerhaus (benannt nach dem häufig auf dem Kassettenrecorder laufenden Song „Our House“ von Madness) zusammenschließen und in dieser Idylle der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für eine gewisse Zeit Abstand zu ihren mehr oder weniger schlimmen Alltagsproblemen finden.
Nora Schlocker hat sich in ihrer Inszenierung für die Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin mit großer Energie auf die symbolgeladene Bildsprache des Romans gestürzt: der suizidgefährdete Frieder (Christoph Franken) bahnt sich mit einer Axt den Weg auf die Bühne (Jessica Rockstroh), dieselbe Axt verwendet er auch um den örtlichen Weihnachtsbaum provokativ umzuhauen (der Stumpf steht dann als kleine Installation während der Pause im Foyer!). Am Anfang schleppt sich Frieder weißgekalkt mit Unterhose und Hunde-Beißmanschette ins Rampenlicht, um dann von seinen WG-Genossen reingewaschen zu werden. Das Auerhaus symbolisiert ein selbstzementiertes Rechteck auf der schwarzen Bühne, das von den Bewohnern grundsätzlich nur barfuß betreten wird. Die sechs jungendlichen Akteure spielen neben den Auerhaus-Insassen auch einige Erwachsenen-Rollen als klischeehafte Charakter-Masken. Nach der Pause dürfen die Zuschauer sogar im Sinne eines Perspektivenwechsels Teilnehmer der rauschenden Silvester-Feier auf der Bühne werden. Leider bleiben die anderen Rollen, vor allem der Erzähler Höppner (Marcel Kohler) etwas blass und die musikalische Grundierung des Romans ist wenig präsent. Somit erinnert die verspätete Berliner Produktion an ambitioniertes Jugendtheater, das dem Zuschauer nie ganz vermitteln kann, weshalb er nach der Lektüre des Romans auch noch ins Theater gehen soll.
https://www.deutschestheater.de/programm/spielplan/auerhaus/1903/
Gift. Eine Ehegeschichte ***
von Lot Vekemans
Inszenierung: Christina Gegenbauer
Mit Adeline Schebesch und Michael Hochstrasser
Premiere: 28.4.2017
Staatstheater Nürnberg, Kammerspiele
„Trauerarbeit“ nennt man im Deutsch der Psychotherapeuten seit Sigmund Freuds Schrift „Trauer und Melancholie“ die psychische Verarbeitung der Trauer, die jemand über den Verlust einer Bezugsperson empfindet. Dieses Thema brachte die niederländische Autorin in Form eines Duo-Dialog-Dramas 2009 auf die Bühne - seither wird das Stück häufig nachgespielt, in prominenter Besetzung mit Dagmar Manzel und Ulrich Matthes zum Beispiel 2013 im Deutschen Theater Berlin.
Ein Ehepaar (im Stück nur „Sie und „Er“ genannt) hat nach einem Unfall sein einziges Kind verloren, dann verloren sie sich selbst und schließlich einander. Jedenfalls vollzieht der Ehemann ausgerechnet am Silvesterabend, der in das neue Millennium führt (31.12.1999), die Trennung. Er steigt in sein Auto, fährt nach Frankreich, und zehn Jahre lang bricht der Kontakt zu der Ehefrau vollkommen zusammen. Erst durch einen Brief mit einer falschen Information (angeblich soll der Leichnam des Kindes wegen der Giftverseuchung des Friedhof-Bodens umgebettet werden) arrangiert die Ehefrau ein Wiedersehen. Hier setzt das Stück ein und zeigt uns, wie die beiden Personen versuchen, wieder ins Gespräch zu kommen, wie sie ihren Umgang mit dem furchtbaren Ereignis gestaltet haben und wie sie die Schuldfrage an der Trennung ausdrücken. Dabei drängt sich der Verdacht auf, dass die Autorin einem weit verbreiteten (Vor-) Urteil huldigt: Männer sind lösungsorientiert, Frauen sind problemorientiert. Denn der Mann hat in Frankreich eine neue Partnerschaft gefunden, seine neue Frau ist schwanger und ein scheinbar unbedeutender Moment (das Anhören eines Mannes, der für die Chorprobe ein Lied von Leonard Bernstein singt) hat ihm sein Gleichgewicht wiedergegeben. Die Frau dagegen ist in ihrer Trauer gefangen, nicht bereit zu einem Neuanfang und von den Erlebnissen des Unfalls und der kurzen Zeit des Kindes im Krankenhaus paralysiert. Der knapp 70minütige Dialog ist somit ein Protokoll der wieder versuchten Nähe, der gegenseitigen Abrechnung und Aggression, der scheiternden Kommunikation mit einem letztlich offenen Ende: auf ein kurzes Aneinander-Festklammern wie „zwei Schiffbrüchige an einer Boje“ folgt der Abgang der Frau durch die hintere Bühnentüre.
Für die Regie bietet so ein Text wenig Entfaltungsmöglichkeiten, es geht um ein paar stumme Momente im Scheinwerferkegel, um die richtige Rhythmisierung des Dialogs, alles andere müssen die Schauspieler glaubhaft erledigen. Dies tun Adeline Schebesch und Michael Hochstrasser mit gebotener Routine, stets etwas unterkühlt, ohne Overkill der Emotionen. Ein großer Erdhaufen in der Mitte der Bühne (Bühne: Birgit Leitzinger) bietet den Spielraum für Balgereien und (verbale) Beschmutzungen. Möglicherweise - dazu noch mit einem ausgebuddelten Spielzeugauto - deutet die Inszenierung damit an, dass die Eltern auf ihrem toten Kind buchstäblich herumtrampeln. Am Ende wird man allerdings den Verdacht nicht los, dass man konfliktbeladene Ehegeschichten schon sprachlich schärfer und theatralisch eindringlicher gesehen hat.
Pension Schöller ****
von Carl Laufs und Wilhelm Jacoby
Inszenierung und Bearbeitung: Bernadette Sonnenbichler
Premiere: 23.04.2017
Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus
Die forsche These „Wahnsinn oder Normalität - alles eine Frage der Perspektive“ lädt zu gesellschaftskritischen Reflexionen, aber auch zur Abfassung eines Schwanks für Schenkelklopfer ein. Laufs und Jacoby haben ihre „Pension Schöller“ als Zwischenwelt zwischen bürgerlichem Alltag und Irrenhaus konstruiert und damit seit der Uraufführung 1890 einen veritablen Bühnenhit gelandet.
Erfreulicherweise hat sich Bernadette Sonnenbichler für die Nürnberger Inszenierung zu einer inhaltlichen Entstaubung und zu einer kompromisslosen Modernisierung entschlossen, um dem alltäglichen Wahnsinn des 21. Jahrhunderts auf die Schliche zu kommen. Im Gegensatz zur etwas länglichen und erstaunlich originalgetreuen Wiener Burgtheater-Produktion (Andreas Kriegenburg im Oktober 2016) entstand so eine schrille Trash-Comedy-Show, die vor absurden Assoziationen nicht Halt macht. Philipp Klapproth (Pius Maria Cüppers) ist ein polnischer Geschäftsmann für Reinigungsmittel, der auch in die Heilanstalten-Branche einsteigen will. Deshalb verspricht er seinem Neffen Alfred (Philipp Weigand) eine fette Finanzspritze für dessen vermeintliche medizinische Karriere (als Proktologe!), wenn dieser ihm eine Irrenanstalt vorführt. Alfred fallen da nur die schrulligen Bewohner der Pension Schöller ein: der Major a.D. Gröber (Thomas Klenk), ein ehemaliger Afghanistan-Bundeswehr-Kämpfer, der nun seinen Hasso ausführt und Pegida-Parolen aufsagt; die Gothic-Bloggerin Josi Krüger (Karen Dahmen), die an Fantasy-Fortsetzungsgeschichten strickt; der weltreisende Globalisierungsprofi Tommy Bernhardy (Marco Steger) und der Möchtegern-Schauspieler mit Sprachfehler, Eugen Rümpel (Thomas Nunner), der unentwegt Mononoge aus großen Knassikern wie „King Near“ vorträgt. Pension-Chefin ist Frau Herr Schöller (Ruth Macke), die sich beim Fernsehsender Flox um den goldenen Schlüssel in der Reality-Show „Meine kleine geile Pension“ bewirbt. An der Seite von Klapproth senior agiert seine Privatsekretärin Melania Pump (Lilly Gropper), deren Push-Up-BH fast als zentrales Dingsymbol der ganzen Aufführung verstanden werden kann. Als einzig Normale stiefelt die Finanzbeamtin Uta Schmittchen - Sonja Hofmann ist ironischerweise eine Akteurin mit „echtem“ Down-Syndrom - auf der Suche nach Schwarzgeld durch die Szenerie.
Regisseurin Sonnenbichler gelingt es, das Ensemble zu großer Spielfreude und komödiantischer Differenziertheit anzustacheln, die muntere Drehbühne (Martin Miotk) mit den drei Stationen Bier-Bar, Pension Schöller und Privathäuschen sorgt für Tempo, in der Dachschräge steuert Schlagzeuger Cico Beck schummrige Electronic-Sounds und Werbe-Jingles bei. Für Philipp Klapproth endet die Geschichte mit einer partiellen Erleuchtung, die der Psychologe Arno Gruen so formuliert hat: Hinter der Orientierung an „Realität“, die gemeinhin ein Zeichen für Gesundheit ist, verbirgt sich eine tiefere, weniger auffälligere Pathologie: die Pathologie der Anpassung als Folge der Preisgabe des Selbst. Darüber sollten nicht nur die Bühnenfiguren nachdenken!
Die Ratten **
Von Gerhart Hauptmann
Inszenierung: Sascha Hawemann
Premiere: 4.3.2017
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
„Im kleinen Kosmos einer Berliner Mietskaserne wird die ganze Misere der Welt (des beginnenden 20. Jahrhunderts) erlebbar.“ So vollmundig kündigt das Programmheft die Nürnberger Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ an. Das Ergebnis nach drei Stunden Bühnenschau ist um vieles bescheidener: in dem Dachgeschoss tummelt sich neben der (un)heimlichen Rattenplage nicht nur die proletarische Kleinfamilie John, deren Hauptproblem die Kinderlosigkeit ist, sondern auch der abgehalfterte Theaterdirektor Hassenreuther, der dort seinen Fundus gelagert hat und eine Art Probebühne betreibt. Aus dieser Milieustudie, die soziale Gegensätze nicht beleuchten kann (oder will?), hat Gerhart Hauptmann eine Doppelhandlung gestrickt, die schon bei der Berliner Uraufführung 1911 als „Anhäufung von Unwahrscheinlichkeiten“ apostrophiert wurde. Der schrullige Direktor sorgt - in einer Theater-im-Theater-Meta-Ebene (Idealismus vs. Naturalismus) - für die komische Note, die frustrierte Nicht-Mutter John für das tragische Element. Sie will einem polnischen Dienstmädchen das Neugeborene abkaufen und verstrickt sich damit in eine Serie von Fehlhandlungen. Regisseur Sascha Hawemann hat das voluminöse Stück personell und textlich ausgedünnt, konnte sich aber im Geflecht von Tragik und Komödie nicht für eine klare Linie entscheiden. So wird über weite Strecken aus Hauptmanns Personenaufstellung ein zappeliger Käfig voller Narren, die gerne auch Anfänger-Übungen der Schauspielschule und Schrei-Attacken vorführen. Nach diesem ADHS-Ritual bricht der tragische Schluss mit dem angedeuteten Suizid der Mutter John („liecht lang uff Jesichte unten“) recht überraschend über den erschöpften Zuschauer herein.
Hawemanns inszenatorische Anforderungen an die Schauspieler (insbesondere bei Nicola Lembach, Philipp Weigand und Julia Bartolome) wirken krampfhaft, nur Stefan Lorch kann als Theaterdirektor für ironische Zwischentöne sorgen. Und Stefan Willi Wang spielt den Brutalo-Bruder Bruno wie er immer spielt, dazu knödelt er den Berliner Unterschichten-Dialekt mehr oder weniger unverständlich dahin. Die Bühne (Wolf Gutjahr) ist quasi ein Remake von Hawemanns Nürnberger „Tod eines Handlungsreisenden“ mit einer Vielzahl von rollenden Garderobenständern, die im Verlaufe des Abends wenig Funktionalität entfalten. Die Seitenwände aus Packpapier erlauben immerhin „durchschlagende“ Auftritte. Zahlreiche weitere Regieeinfälle sorgen für kollektives Rätselraten: Warum werden Walburga und Selma von einem Mann gespielt? Was bedeutet der große Schriftzug „Netto“ im Schlusstableau? Somit erzeugt dieser weitgehend inhaltsleere Kraftakt eher Kopfschmerzen als Nachdenklichkeit.
http://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,die_ratten,102714
Der Rote Löwe ***
Von Patrick Marber (Deutsch von John Birke)
Inszenierung: Klaus Kusenberg
Uraufführung: 25.2.2017 (Deutschsprachige Erstaufführung)
Staatstheater Nürnberg, Kammerspiele
Aus der Sicht der aktuellen deutschen Bundesliga-Szene sieht die Konfliktlinie folgendermaßen aus: auf der einen Seite der Red-Bull-Magnat Dietrich Mateschitz, der sich den Fußballverein Leipzig als profitorientiertes, inhabergeführtes Unternehmen zusammengekauft hat, auf der anderen Seite die Fans auf der Süd-Tribüne von Borussia Dortmund, die Leipzig als „Dosenclub“ titulieren, dessen Funktionäre mit Hasstiraden überschütten und dabei glauben, den alten Werten des Fußballspiels verpflichtet zu sein: Vereinstreue, prämaterialistische Spielfreude und die schöne Elf-Freunde-Ideologie. Oder eine Liga-Etage tiefer beim traditionsreichen 1. FCN: da gibt es die böse Bank, die für ein paar 100 000 Euro dem Stadion den Namen „EasyCredit“ aufpfropfte, und die gute Bank, die zusammen mit den Ultra-Fans den legendären Namen „Max Morlock“ wiederbeleben will.
Jene Frage nach dem Reinheitsgebot des Fußballs hat auch im Mutterland des Spiels den Dramatiker Patrick Marber („Hautnah“) zu einem kleinen Kammerstück animiert, das 2015 in London uraufgeführt wurde. Er begnügt sich mit drei Charakteren, die in einer schäbigen Umkleidekabine eines fünftklassigen Vereins ihre Positionen dialogisch kontrastieren. Der ältere Zeugwart Yates (Frank Damerius) lebt in seinen romantischen Erinnerungen als früherer Spitzenspieler, jetzt bügelt er die Trikots und versucht die alten Ideale am Leben zu erhalten. Der dynamische Trainer Kidd (Marco Steeger) wirft mit plakativen Durchhalte- und Aufstiegs-Floskeln um sich, ist aber zu jeder Schandtat bereit, um sich aus seiner privaten Finanz- und Ehekrise zu befreien. Der eine hat das Vereinssymbol, den roten Löwen, auf die Brust tätowiert, der andere schmückt sich nur mit der bunten Vereinskrawatte. Für beide ist der neu im Verein tätige Jungspieler Jordan (Frederik Bott) eine Projektionsfläche ihrer Interessen, dieser hat zusätzlich noch mit früheren Verfehlungen und einer verheimlichten Verletzung zu kämpfen. Jetzt ist er als gläubiger Christ gefestigt, muss aber im Semi-Profi-Geschäft ständig Kompromisse eingehen.
Klaus Kusenberg, der mit „Red Lion“ nun schon das zweite Fußballstück (nach „Linke Läufer“) im Schauspiel-Repertoire hat, verlässt sich auf die Dialogschärfe des Autors und auf die Präsenz seiner Akteure. Beides führt aber nicht zum klaren Punktsieg, da in Marbers Text bedenkliche Längen zu finden sind, sein Blick immer wieder nostalgisch getrübt ist und die englische Tradition des well made play doch etwas angestaubt wirkt. Während Marco Steeger aus dem Windmacher-Trainer eine unterhaltsame komödiantische Personenstudie filtert und Frank Damerius mit Yates ein nachdenkliches Charakterbild formt, bleibt der Jordan von Frederik Bott auffallend blass und sprachlich wenig differenziert.
Also ein klassisches Unentschieden - oder wie es derzeit beim ruhmreichen Club immer so schön heißt: kämpferisch lobenswert, aber spielerisch verbesserungsfähig!
Zum Vergleich: Herbert Heinzelmanns (halef) Kritik in der Nürnberger Zeitung:
Solches Theater gibt es also noch: Ein handwerklich konstruiertes Stück („well-made play“ sagen die Engländer). Psychologisch agierende Schauspieler. Ein realistisches Bühnenbild. Zuschauer, die von der so genannten Postdramatik irritiert sind und bei Elfriede Jelineks „Sportstück“ den Kopf schütteln, verlangen immer wieder danach. Nürnbergs Schauspielchef Klaus Kusenberg hat sie jetzt mit der deutschsprachigen Erstaufführung von Patrick Marbers „Der rote Löwe“ ordentlich bedient.
„Der rote Löwe“ ist auch ein Sportstück. Ein Stück vom Rand des Fußballs. Schauplatz ist eine Umkleidekabine (da gibt es manches Vorbild in der Theatergeschichte). Dort treffen sich drei Männer: Kidd, der harte, cholerische Trainer der semiprofessionellen englischen Mannschaft mit dem Löwenkopf auf der Brust. Yates, der Zeugwart, als Spieler einst eine Legende im Verein, als Trainer später gescheitert. Und Jordan, ein hoffnungsvoller junger Fighter aus kaputtem Milieu. Auch sein Knie ist kaputt. Heimlich spritzt er Schmerzmittel. Dabei tut er ganz fromm und hat christliche Symbole auf die Haut tätowiert.
Es geht um Korruption. Jeder ist korrupt und korrumpiert sich. Das ist ein Fußballthema, denn dieser Sport ist mehr denn je „Opium des Volkes“. Für den Engländer Patrick Marber (wir haben seinen Beziehungs-Boulevard „Hautnah“ vor Jahren in der Regie von Oliver Karbus gesehen) ist der Fußball jedoch lediglich Folie für existentielle Grenzsituationen. Yates will auf den jungen Spieler Macht durch Zuwendung ausüben, um seine Legende im Verein aufzupolieren. Kidd ist ein skrupelloser Menschenhändler, weil er sonst nichts hat; seine Familie ist zerfallen. Jordan kommt mit der Rolle zwischen Moral und Milieu-Flucht nicht klar. Die Männer schreien sich die Wahrheiten ins Gesicht, erinnern sich sentimental (und ein wenig geschwätzig), wie’s mal gewesen ist. Für die Schauspieler heißt das, Wut, Melancholie, Ratlosigkeit zu zeigen.
Klaus Kusenberg lässt seine Akteure aus dem Bauch spielen. Keine Verfremdung. Volle Emotionen. Marco Steeger darf mit aller Körperlichkeit in den Trainer hinein, balanciert ihn zwischen zynischer Coolness und muskulär kaum beherrschter Großträumerei. Der Zeugwart von Frank Damerius hat sich mit seiner ausgesteuerten Position eigentlich arrangiert. Doch ab und zu blitzt die Sehnsucht in ihm auf, noch mal etwas zu bewegen in dieser kleinen Welt der Fußballhelden ohne Chance. Frederik Botts Jordan wird schon von den erbärmlichen Intrigenspielen des Mittelmaßes überfordert. Immer wieder langt er sich an den Kopf, erstarrt in einer Hemmung, zeigt am Ende dennoch die unterdrückte Brutalität des Charakters. Hier wird klassische Schauspieler-Arbeit vorgeführt.
Man könnte mit dem Stück womöglich anders umgehen als Klaus Kusenberg in seiner Inszenierung. Man könnte Bilder hinzu erfinden oder es auf seinen existentialistisch absurden Kern komprimieren. Kusenberg hat es so genommen, wie es da steht. Er hat einige der schlimmsten Sentimentalitäten (etwa die Regieanweisungen in Richtung von Yates‘ schlussendlichem Selbstmord) umgangen. Er hält die Dialoge ohne Pathos-Pausen schnell. Aber der allzu banal beklage Liebesverlust zwischen den Menschen muss dem Publikum dick aufgestrichen werden. Günter Hellwegs Spielraum vor Spind-Kästen (der Bühnenbildner war wegen Krankheit beim wohlwollenden Schlussapplaus nur auf einem Spind-Foto präsent) ist kein Anstoß für Assoziationen sondern ein Ring für Realismus. So brüllt „Der rote Löwe“ lauthals und ungebändigt in den Kammerspielen.
Jelinek-Geschädigte werden froh darüber sein. Vielleicht kommen sogar Club-Fans. Schließlich geht es um den „heiligen Gestank“ aus „Schweiß und Franzbranntwein und Lederfett“. Ein bisschen davon können sie in dieser Aufführung ohne Verstörung schnuppern.
Die Katze auf dem heißen Blechdach *****
von Tennessee Williams
Inszenierung: Georg Schmiedleitner
Premiere: 9.12.2016
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Es ist was faul in den (Süd-)Staaten - und Thomas Lanier Williams III (seinen „Vornamen „Tennessee“ bekam er wegen seines Dialekts - wie wenn man Oskar Maria Graf „Oberbayern“ Graf genannt hätte!?) hat diese Missstände mit dramaturgischen Mitteln unter die Lupe genommen. Es sind die konsequenten Lebenslügen, die in der Familie des reichen Plantagenbesitzers Big Daddy gepflegt werden und die zum schönen Ausbruch kommen, als der Patriarch eine tödliche Krebsdiagnose erhält. Unter den beiden Söhnen und vor allem den Schwiegertöchtern entbrennt ein ungebremster Erbfolgestreit, in dem der ältere Sohn Cooper mit gebärfreudiger Frau Mae und vier Kindern (ein fünftes ist unterwegs) die besseren Karten zu haben scheint. Zudem entzieht sich der jüngere Sohn Brick diesem ritualisierten Spiel einer fast Ibsenschen Puppenheim-Familienaufstellung, indem er sich in intensiven Alkoholkonsum stürzt. Er hat für sich erkannt, dass man die grassierende Heuchelei nur durch Tod oder Suff ertragen kann. Doch seine toughe Frau Maggie kämpft wie eine Katze um die Ehe und um den Reichtum des Schwiegervaters.
Nach der Uraufführung 1955 ist vor allem die Verfilmung mit Elizabeth Taylor und Paul Newman (1958) in Erinnerung geblieben, die thematisierten Problembereiche wie Männlichkeitswahn, Familie als bloße Fassade, Homosexualität, Alkoholismus und obsolete Rollenmuster scheinen im Amerika der neuen Trump-Ära aber ungebrochene Aktualität zu haben. Somit kann Regisseur Georg Schmiedleitner dem Stück und dem brillanten Nürnberger Ensemble vertrauen und seine stimmige Dialogführung nur durch sparsame Inszenierungs-Details betonen. Auf der großen Bühne werden die Schauspieler von zwei grellen seitlichen Neon-Wänden ausgeleuchtet, als markantes Ding-Symbol steht im Zentrum ein Eisblock-artiges Möbel, auf dem zahlreiche Whisky-Flaschen versammelt sind. Die (meist scheiternden) Dialoge und Aktionen der handelnden Personen werden durch die Kontrabassisten Maike Hilbig live kommentiert und akustisch verdeutlicht. Das ist der perfekte Spielraum für die Katze Maggie (Josephine Köhler), für ihren trunkenen Ehemann Brick (Stefan Willi Wang), für den kränkelnden Patriarchen Big Daddy (Michael Hochstrasser), für seine ausgestopfte Ehefrau Big Mama (Elke Wollmann) und für die keifende Schwiegertochter Mae (Ruth Macke). Und sie schaffen in den knapp drei Stunden etwas, was im Theater selten gelingt: Betroffenheit, Identifizierung mit den Personen, atemlose Aufmerksamkeit. Dass Williams sich zu einem halbwegs optimistischen Ending hinreißen ließ, kommentiert Schmiedleitner mit einer ironischen „Make-America-Great-Again“-Himmelfahrt von Maggie und Brick sowie dem grandios verhunzten Elvis-Presley-Song „Love Me Tender“. Selten war der Zerfall so ansehnlich!
Pension Schöller ***
von Carl Laufs und Wilhelm Jacoby
Inszenierung: Andreas Kriegenburg
Premiere: 22.10.2016 / besuchte Aufführung: 30. 10. 2016
Burgtheater Wien
Die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung beschäftigen die menschliche Gesellschaft seit einigen Jahrhunderten; in Dürrenmatts Schauspiel "Die Physiker" stellte sich heraus, dass das Irrenhaus der einzige Platz ist, wo ein normaler Mensch in Ruhe leben kann. Wie man mit diesem Thema die bürgerliche Gesellschaft der wilhelminischen Zeit verstören oder zum Lachen bringen kann, erprobten Carl Laufs und Wilhelm Jacoby in ihrem Schwank "Pension Schöller", der 1890 in Berlin uraufgeführt wurde. Dem wohlsituierten Herrn Klapproth werden im vermeintlichen Irrenhaus "gestörte" Typen vorgeführt, in Wahrheit handelt es sich nur um skurrile und liebenswerte Bewohner einer Frühstückspension. Als da sind der spontane Weltreisende Bernhardy im Tropenanzug (Michael Masula), die leidenschaftlich nach Groschenroman-Stories suchende Schriftstellerin Krüger (Christiane von Poelnitz), der knorrige Major Gröber (Dietmar König) und der Hobby-Schauspieler mit Sprachfehler, Eugen Rümpel (Max Simonischek). Sie alle sorgen für die schwanktypischen Irrungen und Wirrungen, besonders als sie im letzten Akt in die private Welt Klapproths einbrechen. Doch ebenso genretypisch löst sich am Ende alles in Wohlgefallen und innige Paarungen auf. Regisseur Andreas Kriegenburg versucht nun in den ehrwürdigen Mauern des Wiener Burgtheaters die vormoderne Posse in ein postmodernes Comedy-Stück zu verwandeln und in jedem Moment ist die panische Angst zu verspüren, diesen Klamauk auf dem Niveau eines Millowitsch-Theaters zu verhandeln. Es wird also viel Symbolisches und Meta-Ebenenhaftes aufgepfropft: gleich am Anfang platziert der Zahlkellner systematisch eine Bananenschale, Holzlatten werden slapstickhaft geschwungen, Cafe-Tischplatten werden umständlich gehalten und Stühle dienen vorwiegend zum Umfallen. Die Bühne (Harald B. Thor) besteht schließlich aus fünf Backstein-Bauteilen, die zusammen das Wort "Smile"(!) ergeben und viele Auftritts- sowie Abgangstüren enthalten. Die Schauspieler dürfen in manchen Dialogen und Monologen scheinbar frei paraphrasieren und zu kühnen Wortspielen (wie beim Einführungskurs auf der Schauspielschule) ausholen. Inhaltliche Neuschöpfungen wie die Einführung eines Obdachlosen als Spielzeug der zwei jüngeren Mädchen weisen verdächtig in die Richtung Dekonstruktion oder gar Lehrhaftigkeit. Dass trotz dieser recht gewollten Regie-Marotten der ursprüngliche Spaß nicht ganz versandet, ist erstaunlich. Dass trotz einer äußerst länglichen Exposition und mancher schwadronierenden Exkurse das Publikum den gut dreieinhalb Stunden (die Verfilmung von 1960 dauerte knackige 90 Minuten!) überwiegend amüsiert folgt, ist den spielfreudigen und präzisen Akteuren zu verdanken. Zum Ende bleibt dann nur noch die tiefsinnige Frage, ob dieser Käfig voller Narren wirklich am Bühnenrand endet.
http://www.burgtheater.at/Content.Node2/home/spielplan/event_detailansicht.at.php?eventid=966466358
Römische Trilogie ****
nach William Shakespeare
Bearbeitung: John von Düffel
Inszenierung: Klaus Kusenberg
Uraufführung: 22. Oktober 2016
Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Es gab schon mal Shakespeares gesammelte Werke für ein launiges Kammerspiel-Duo "leicht" gekürzt auf 120 Minuten. Nun also die drei Römer-Stücke "Coriolan", "Julius Cäsar" sowie "Antonius und Kleopatra" zum Preis von einem in einer dreieinhalbstündige Kompress-Fassung des von Nürnbergs Schauspieldirektor Klaus Kusenberg beauftragten Bearbeiters John von Düffel. War für William Shakespeare zu Beginn des 17. Jahrhunderts die frühe römische Geschichte (als Quelle dienten die Biografien Plutarchs) eine Fundgrube für großes dramatisches Geschehen, für im Leid und im Triumph große Männer - und Frauen, so richtet heute von Düffel (der auch für die Neu-Übersetzung zuständig ist) den Fokus eher auf staatstheoretische Fragen. Die ersten zwei Teile (mit den Untertiteln "Verachtung" und "Verschwörung") geraten auf diese Weise zu einem szenisch spannenden Hauptseminar der Politikwissenschaft, in dem absolut aktuelle Fragen abgehandelt werden: Wer ist das Volk? Wie viel Macht soll das Volk haben? Wer sind die Populisten und Demagogen? Ist in Krisenzeiten elitäre Herrschaft die bessere Lösung? Ist Widerstand gegen den volksfreundlichen Diktator zulässig? Für Coriolan(Stefan Willi Wang) ist die Antwort eindeutig: die starken Männer müssen uneingeschränkt regieren, der ungebildete Plebs bleibt auf die Rolle der duldenden Untertanen beschränkt. Wenn dann aber wortgewandte Volkstribunen (mit Anklängen an die Pegida-Bewegung) Stimmung machen, verkehrt sich die Verehrung des Kriegshelden in Ablehnung. Eine ähnliche Problemlage konstruiert der zweite Teil: Brutus (Frank Damerius) und seine (nicht immer ganz uneigennützigen) Republikaner-Freunde sehen in Julius Caesar eine Gefahr der systemwidrigen Alleinherrschaft, die man im äußersten Falle auch durch Tyrannenmord beseitigen darf ("Wenn Herrschaft zur Unterdrückung wird, wird Widerstand zur Pflicht"). Doch in der großen Forum-Szene anlässlich von Cäsar Beerdigung ergreift der Cäsar-Vertraute Antonius die rhetorische Chance die Brutus-Cassius-Clique als feige Mörder zu denunzieren und nun selbst das Machtvakuum auszufüllen. Diese beiden Teile absolviert das hervorragende Nürnberger Ensemble mit präziser Dialogkraft und differenzierter Figurenzeichnung, unterstützt von einer das Geschehen bereichernden und funktionellen Bühne (Günter Hellweg) und einem atmosphärischen Perkussions-Teppich (Werner Treiber). Nach der Pause bekommen allerdings die Emotionen Vorfahrt, Machtspiele und Leidenschaften sind nun die Triebfedern des etwas länglichen Geschehens (mit dem Untertitel "Verführung" oder "Versuchung" - das Programmheft ist da nicht ganz eindeutig!). In einem knöchelhohen, milchigen Bühnen-Pool bearbeiten Antonius (Stefan Willi Wang) und Kleopatra (Julia Bartholome) ihre Beziehungs-Geschichten. Schließlich ist es für den jungen und noch nicht machtmüden Octavian (Julian Keck) ein Leichtes, das Römische Reich als Kaiser Augustus in eine vermeintlich goldene Zeit zu führen. Insgesamt also eine unterhaltsame Lehrstunde der gefährdeten Demokratie, die sich zum Ende in ein eher vordergründiges Bilder- und Tragödien-Spektakel verdünnt.
Der Prozess des Hans Litten (Taken At Midnight) ***
Von Mark Hayhurst
Inszenierung: Jean-Claude Berutti
Mit Patricia Litten u.a.
Premiere: 8.10.2016
Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus
Mit einem ambitionierten Projekt startet das Nürnberger Schauspiel in die Spielzeit 2016/2017. Vor ca. zwei Jahren präsentierte der Autor Mark Hayhurst das Doku-Drama über den deutschen Rechtsanwalt Hans Litten zuerst auf der kleinen Bühne in Chichester und dann auf der großen Bühne in London. Seine Hauptquelle war dabei das Buch von Littens Mutter Irmgard aus dem Jahre 1940: „A Mother Fights Hitler“. Diese selbstbewusste schwäbische Pietistin kämpfte nach der Verhaftung ihres Sohnes am 28.2.1933 bis zu dessen Selbstmord im KZ Dachau (am 5.2.1938) um seine Freilassung - immer im Glauben an die Noch-Existenz rechtstaatlicher Strukturen im NS-Staat. Das Besondere an der Nürnberger deutschsprachigen Erstaufführung (in der Übersetzung von Michael Raab) ist die Tatsache, dass das langjährige Ensemblemitglied Patricia Litten die Enkelin von Irmgard Litten ist, sich mit dem politisch-moralischen Kampf ihrer Großmutter ausführlich beschäftigt hat und nun auf der Bühne des Schauspielhauses in ihre Rolle schlüpft. Somit erlaubt die Inszenierung gleich drei Perspektiven auf die Anfangsjahre des NS-Staates nach der Machtergreifung: die persönliche Empathie der deutschen Enkelin, der analytische Blick des britischen Autors Hayhurst und die konkrete Bühnen-Umsetzung des französischen Regisseur Berutti.
Das eigentliche Erlebnis nach etwa zweistündiger Spielzeit bleibt hinter diesen interessanten Voraussetzung deutlich zurück: das Stück ist ein recht konventionelles Opus nach den Regeln des englischen „well made play“ (d.h. auch: mehr drama als doku) mit jener typischen Bühnenhandwerker-Mischung aus pointierten Dialogen, Betroffenheits-Monologen und englischem Humor. Trotz der flotten Szenenfolge fehlt den Stationen dieser Geschichte das überraschende, das erhellende Moment. An wenigen Stellen erfährt man etwas über die bemerkenswerte Sorglosigkeit von Teilen der linken Opposition in den Jahren ab 1930, von der frappierenden Systemtreue gewisser bürgerlicher jüdischer Kreise und von den Dilemmata der britischen Appeasement-Politik gegenüber Hitler. Möglicherweise wäre es für den Autor ergiebiger gewesen, wenn er den berühmten Edenpalast-Prozess (1931), bei dem der Zeuge Adolf Hitler vom Rechtsanwalt Litten in die Enge getrieben wurde, als Gerichtsdrama thematisiert hätte. Regisseur Berutti hat dem doppelten Leidensweg einer Mutter und eines Sohnes eher betuliches Text- und Schauspieler-Theater hinzugefügt: die Drehbühne mit wenigen Accessoires rotiert von Szene zu Szene, die verschiedenen KZ-Stationen Littens werden per abgehängter Stacheldraht-Bühne illustriert, dazu gibt es ein paar halbdokumentarische Video-Einspielungen.
Philipp Weigand tut sich sichtlich schwer mit der schillernden Figur des Hans Litten, seine Schutzhaft-Genossen Carl von Ossietzky (Marco Steeger) und Erich Mühsam (Pius Maria Cüppers) balancieren nahe am Klischee. Michael Hochstrasser als Gestapo-Mann Dr. Conrad und Heimo Essl als Vater Fritz Litten liefern vorhersehbare Rollenmuster. Und Jochen Kuhl als britischer Diplomat Lord Allen kann sich nicht recht entscheiden, ob er akzentfreies Deutsch sprechen soll. Als epischer und dialogischer roter Faden hält Patricia Litten die Inszenierung halbwegs zusammen, ihre Zerrissenheit zwischen dem Kampf gegen eine Tyrannei und der Rettung des eigenen Sohnes wird noch am deutlichsten sichtbar.
Somit hat man in Nürnberg schon zwingendere Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte gesehen („Das Urteil von Nürnberg“) - aber auch schon missglücktere („Das Zeugenhaus“).
http://www.arsvivendi.com/Buch/Neuerscheinungen/9783869137605-Eine-Mutter-kaempft-gegen-Hitler
Wilhelm Tell ****
von Friedrich Schiller
Inszenierung: Volker Schmalöer
Premiere: 4.6.2016
Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus
Vor ca. 700 Jahren fanden die historischen Ereignisse des Freiheitskampfes in der Schweiz statt, vor ca. 450 Jahren schrieb Ägidius Tschudi darüber in seinen helvetischen Chroniken und vor ca. 200 Jahren machte der Geschichts-Dozent Friedrich Schiller daraus ein Schauspiel, von dem er hoffte, dass es das Publikum inkommodieren, ihm seine Behaglichkeit verderben, es in Unruhe und in Erstaunen versetzen werde. Und was machen wir heute mit einem heldischen Jäger, der sich vom behaglichen Familienmenschen zum Tyrannenmörder wandelt, der plötzlich zu der Erkenntnis gelangt, dass dem Menschen „zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr verfangen will … das Schwert gegeben“ ist? Regisseur Volker Schmalöer und Dramaturg Horst Busch versuchen in Nürnberg jedenfalls den schwierigen Spagat, einerseits den Text von Schiller in all seiner Pathetik und idealistischen Rhetorik ernst zu nehmen, anderseits aber die Geschichte als zeitloses Argumentations-Theater über die Ambivalenz von Freiheitsbewegungen und über die Legitimität von Gewalt gegen einen Diktator mit heutigen szenischen Mitteln vorzuführen. Dazu wurde Schillers Text um einen ganzen (5.) Akt gekürzt und das Personal eingedampft, damit 12 Schauspieler in zweieinhalb Stunden den Kern des Geschehens deutlich machen können. Dies ist weitgehend gelungen; wenn einige Akteure das Schillersche Pathos nicht als Freibrief für Schrei-Tiraden missverstanden hätten, wäre das Vergnügen an der kurzweiligen Geschichtsstunde noch ungebrochener gewesen. Auf der kargen Bühne mit Alpen-Prospekt finden sich im Hintergrund leicht erhöht zwölf Sessel, von denen aus die im Wortsinne maskierten Schauspieler mit tragbaren Stehlampen ins Geschehen eingreifen. Davor ein Arsenal schmuckloser weißer Holzhocker, die im Laufe des Abends ihre schöne Ordnung verlieren (Bühne: Valentina Crnković).Während Thomas Klenk (als Gessler), Stefan Lorch (als Baumgarten) und Heimo Essl (als Walther Fürst) bekannte Rolleninterpretationen abliefern, wird der Werner Stauffacher von Michael Hochstrasser gegen den Kamm gebürstet, dass man glaubt, eine selbstvergessene Inkarnation von Roland Kaiser vor sich zu haben. Daniel Scholz verleiht der Titelfigur trotz Blut und Wanderstiefel wenig originelles Profil, dafür dürfen die beiden weiblichen Darsteller Nicola Lembach und Josephine Köhler in mehreren schillernden (teilweise männlichen) Rollen glänzen. Pius Maria Cüppers als Sohn Tells mit Pappmaché-Kopf und Julian Keck als lüsterner Rudenz mit Pferdekopf und Glitzer-Outfit stehen für aufgedrehte Spielfreude und teilweise höchst originelle Regie-Ideen. Da aber 99,9 % des heutigen Publikums nicht real entscheiden müssen, ob sie Gewalt gegen einen Autokraten anwenden müssen / sollen, hätte man tatsächlich zur Anregung der Reflexionen die Besucher am Ende der Vorstellung - ganz im Sinne von Schirachs „Terror“-Inszenierung - um ein begründetes Urteil zu Wilhelm Tells Handeln bitten können. Insgesamt ein lohnender Abschluss für eine politisch pointierte Premieren-Saison 2015/2016 im Schauspielhaus.
http://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,wilhelm_tell,96057
Ewig jung ****
Von Erik Gedeon
Inszenierung: Kathleen Draeger
Premiere: 12.5.2016
Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus
Gattungstheoretisch nennt man das wohl Dystopie: in ca. 30 Jahren wird das schmucke Schauspielhaus geschlossen und zu einer Seniorenresidenz für alte SchauspielerInnen umgewidmet. Aber: Wenn es dann bei den Damen Köhler, Ostermeier und Macke und bei den Herren Damerius, Cüppers und Steeger immer so lustig und bissig zugeht, sollte man die Zuschauerbestuhlung ruhig installiert lassen. Denn die sechs ergrauten und tattrigen Mimen sind immer noch gut für eine dynamische Best-Of-Shakespeare-Revue, für anrührende und rockige Song-Einlagen sowie für Ausflüge in das Genre der Trash-Comedy mit Furzkissen und Verbal-Radikalismus. Erik Gedeon hat das „Songdrama“ 2001 für das Hamburger Thalia Theater geschrieben, das nach den Dauerbrennern wie „Sekretärinnen“ und „Männer“ durchaus auch in Nürnberg das Zeug zum Publikumsrenner hat. Bei der Premiere gab es jedenfalls Standing Ovation, Zugaben und langanhaltenden Beifall. Trotz sichtlicher Alterung bedient Bettina Ostermaier routiniert das Piano (oder das Akkordeon) und begleitet ein vielfältiges Songrepertoire von „I Love Rock’n’Roll“ über „I Will Survive“ und "Born To Be Wild" bis „I Got You Babe“ (warum nicht auch Bob Dylans titelgebendes „Forever Young“?). Spannend wird es, wenn die resolute Schwester Regina (Elke Wollmann) das Senioren-Kollektiv aufmischt, die Hasch-Zigaretten einsammelt und alle wieder in Ruhestellung versetzt. Über allem aber schwebt der Geist von Kusenberg: als Asche in der Urne!
Der Volksfeind ****
von Henrik Ibsen
Inszenierung: Sascha Hawemann
Premiere: 9.4.2016
Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus
Henrik Ibsen kann kein Wässerchen trüben? Von wegen: in einem kleinen norwegischen Kurbad ist das heilende Wasser nachweislich verseucht; dies hat der Badearzt Dr. Stockmann feststellen müssen. Und damit haben die Verantwortlichen ein Problem. Während Stockmann eine grundlegende Sanierung und die zeitweise Schließung fordert, dämmert den anderen langsam, welche Kosten die Veröffentlichung dieses Missstandes ausmachen würde. Deshalb entwickeln der Verleger Aslaksen und die Stadträtin Stockmann (des Doktors Schwester) langsam ein Konzept, dass Verschweigen besser als öffentliches Reden wäre. Auch die anfangs für Transparenz gestimmten Redakteure Hovstad und Billing ziehen den Schwanz ein. Somit entwickelt siuch (unter den kundigen Augen von Nürnbergs OB Maly und 2. Bürgermeister Vogel) eine spannende kommunalpolitische Farce; der unbeugsame Badearzt wird immer mehr zum Außenseiter, zum Volksfeind, der sich einer schweigenden Mehrheit gegenüber sieht. Damit ist Henrik Ibsen 1883 ein fast zeitloses gesellschaftskritisches Drama gelungen, das auch heute noch - in den Zeiten von Glyphosat, Asbest, Feinstaub und Formaldehyd - seine Aktualität nachweisen kann. Doch Regisseur Sascha Hawemann, der in Nürnberg schon Gorkis „Kinder der Sonne“ und Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisen“ gegen den Strich gebürstet hat, will mehr als nur die tragische Mär vom ökologischen Whistleblower, er will auch eine zeitgeistige Diagnose von Mehrheits-Demokratie bis in 21. Jahrhundert. Und so versickert das verdreckte Wasser zur nebensächlichen Assoziation (die aber im Bühnenbild recht häufig zitiert wird). Statt dessen erleben wir schon in der einleitenden Szene Gedanken zum Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie - und in der Schlüsselszene, der Versammlung, auf der Stockmann seine Botschaft unters Volk bringen will, redet er mehr über die Deformation des Einzelnen in der modernen Gesellschaft (er bedient sich dabei im Auftrag der Dramaturgie eines Textes, der 2007 in Frankreich über einen „kommenden Aufstand“ zirkulierte). Andere Ideen sind die Einbeziehung des Autors Ibsen und seiner Vorstellungen von elitärer Demokratie sowie einige Umgruppierungen des Personals. Dass diese Modernisierung-Kapriolen nicht in bloßer Dekonstruktion enden, verdankt Hawemann auch dem spielfreudigen Ensemble, allen voran Stefan Willi Wang als Badearzt Stockmann. Die übrigen Darsteller folgen klaglos den szenischen Gedankensprüngen, die man als Zuschauer nicht durchwegs nachvollziehen kann. Dass bei der Lautstärke und Schrillheit der Sprechfiguren (besonders Julia Bartolome) manchmal weniger mehr gewesen wäre, sei als kleine Einschränkung gesagt. Ansonsten: ein Abend, der zu weitreichendem Nachdenken animiert und das Nürnberger Theater erneut als Ort der zeitgenössischen Debatte präsentiert.
http://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,ein_volksfeind,98954
Gilles‘ Frau ***
Nach dem Roman von Madeleine Bourdouxhe
Inszenierung: Gisela Hoffmann
Deutsche Erstaufführung: 9.3.2016
Gostner Hoftheater, Nürnberg
Das Thema Dreiecksbeziehung (meist in der Variante 1 Mann - 2 Frauen) hat seit jeher Schriftsteller interessiert. Schon Altmeister Goethe wagte mit seiner „Stella“ einen revolutionären Versuch zur Menage a trois, den aber dann wieder dem Zeitgeist zuliebe tragisch enden ließ. 1937 schrieb die Belgierin Madeleine Bourdouxhe den Roman „Gilles‘ Frau“, der lange vom deutschen Lesepublikum ignoriert wird, wohl auch deswegen, weil die Autorin erst in den späten 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts „neu“ entdeckt wurde - als Vorzeige-Autorin für feministische Frauenliteratur. Bei ihr steht die hochschwangere Elisa im Zentrum, deren Mann Gilles nach Jahren einer glücklichen Ehe ein Verhältnis mit Elisas kapriziöser Schwester Victorine hat. Elisa versucht mit allen Mitteln ihre Liebe zu retten, am Schluss sogar mit der Hoffnung auf ein baldiges Ende der entdeckten Affäre. Die szenische Umsetzung des Romans kommt im Gostner Hoftheater recht statuarisch daher, die drei Hauptpersonen müssen natürlich zwischen kurzen Dialogen in längeren epischen Erläuterungen ihre Situation erläutern. Die nach hinten offene Viereckbühne (Johanna Deffner) treibt die Akteure zu stummen Umrundungen. Elisa (Johanna Steinhauser-Ludwig) entsorgt mit zahlreichen Tulpen gleichsam ihre Illusionen über eine funktionierende bürgerliche Zweierbeziehung. Der grobschlächtige Kohlearbeiter und Ehemann Gilles (Merten Schroedter) wirkt ins seiner Ausdrucksweise eher limitiert, er ist eben der triebhafte Mann - zur rationalen Reflexion unfähig. Und Victorine (Christine Mertens) umtänzelt hochhackig das Eifersuchtstreiben. So entwickelt sich in guten 100 Minuten ein recht zähes Kammerspiel, das auch in einer zeitlosen Inszenierung (Gisela Hoffmann) und trotz der tragischen Schlusspointe nicht besonders auf- und anregen kann.
1984 ****
Nach dem Roman von George Orwell
Bühnenfassung von Robert Icke und Duncan Macmillan
Inszenierung: Christoph Mehler
Deutschsprachige Erstaufführung: 16.10.2015
Staatstheater Nürnberg, Kammerspiele
Eine Zukunftsvision mit dem Verfallsdatum 1984 scheint eigentlich obsolet zu sein, doch George Orwells gleichnamiger Roman hat sich als durchaus langlebiger erwiesen, seine Blicke voraus sind auch im 21. Jahrhundert - im Zeichen von NSA, Google, Information War - noch aktuell. Nicht zuletzt findet sich in Orwells Roman als Nachtrag eine „Kleine Grammatik“, in der vorausgesehen wird, dass etwa im Jahr 2050 die Altsprache vergessen sein und die Neusprache das Denken unumstößlich eingrenzen wird. 2013 haben Robert Icke und Duncan Macmillan eine Londoner Bühnenfassung geschaffen, die nun in der Übersetzung von Corinna Brocher in den Nürnberger Kammerspielen ihre deutschsprachige Erstaufführung fand. Der rechteckige Guckkasten ist mit einem Gazevorhang bespannt, der vielfältige Schrift- und Bildprojektionen erlaubt, dahinter agieren sieben Schauspieler, wobei nur die Rollen von Winston (Daniel Scholz), Julia (Karen Dahmen) und O’Brien (Louisa von Spies) eigenständigen Charakter entfalten. Ansonsten wird auch viel choristisch gesprochen, um den Antipluralismus einer autoritären Gesellschaft deutlich zu machen. Christoph Mehlers Regiestil betont wieder (vgl. „Woyzeck“) das Streben nach einem audiovisuellen, pausenlosen Gesamtkunstwerk (von knapp 100 Minuten Dauer), das dem Zuschauer nicht erlaubt, sich bequem im Sessel zurückzulehnen. Mehler arbeitet mit oft abstrakten gleichförmigen Bewegungsmustern, mit wiederkehrenden Sprachrhythmen und mit der schneidenden Mikro-Stimme von Louisa von Spies, die das Geschehen zum kathartischen Höhepunkt treibt. Am Ende ist Winston 2.0 „geschafft“ - er liebt die Partei aus freien Stücken, sein Individuum kann langsam ausgeblendet werden. Nachdem er vorher beruflich im Auftrag der inneren Partei Menschen gelöscht hat, ist er nun selber zum Opfer geworden und darf - allerdings ohne Tagebuch - in der schönen neuen Welt weiterexistieren. Eine starke Leistung des Ensembles, eine stimmige Regie, ein druckvoller Abend!
http://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,1984_dse_,95404
Die Schutzbefohlenen *****
Von Elfriede Jelinek
Inszenierung: Bettina Bruinier
Premiere: 20.2.2016
Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus
Seit 2013 verfasst die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek „Textflächen“ zu dem aktuellen Thema „Flüchtlinge“. Nach der Uraufführung 2014 in Mannheim versucht sich nun das Nürnberger Staatstheater an einer mittlerweile fortgeschriebenen Fassung (diese ist kostenfrei nachzulesen auf Elfriede Jelineks Homepage - siehe Link unten). Das bedeutet viel Arbeit für Dramaturgie (Horst Busch) und Regie (Bettina Bruinier). Die beiden haben das umfängliche Textgerüst luftig perforiert, auf die gut verträgliche Dauer von 100 Minuten gekürzt und zu einem intensiven szenischen Arrangement für sieben SchauspielerInnen komponiert. Dabei bleibt Jelineks Grundanliegen unverstellt: sie will mit ihren sprachlichen Jelineckereien die vieltönende Kackophonie der öffentlichen Stimmen zu diesem Thema provokant persiflieren und gleichsam als semidramatischen Po-Etry-Schlamm vor dem Publikum auswälzen. Durch das assoziationsreiche Sprachgewitter schimmern drei Haltungen der Autorin durch: Empathie für die Flüchtlinge, Zorn über die Regierenden und Meinungsmachenden sowie Ratlosigkeit angesichts eines existenziellen Jahrhundert-Phänomens. Wenn sich die wortspielreichen Satzkaskaden im Zuschauerraum niederschlagen, erlebt man eine Mischung aus dem fränkischen Comedy-Drechsler Oliver Tissot (NATO oder Nahtod-Erfahrung?), dem frühen Publikumsbeschimpfer Peter Handke und einem aufgehübschten Dada-Manifest zur 100-Jahr-Feier. Das verlangt viel Konzentration, bietet aber auch gehobene Aha-Effekte. Das versierte und textsichere Nürnberger Kollektiv (Bettina Langehein, Julia Bartolome, Mareile Blendl, Philipp Weigand, Daniel Scholz, Thomas Nummer, Frank Damerius) kämpft sich mit großer Verve durch die Wortwindungen, kann sowohl solistisch als auch choristisch überzeugen. Politische Provokation (das beliebte Ösi- und Ungarn-Bashing), satirisches Querdenken (eine atemlose Helene-Fischer-Parodie oder ein Gedankenspiel zur Zivilisation durch das Dixi-Klo) und Einbeziehung des Publikums sorgen für stete Abwechslung. Durch Musik und Video-Installationen, durch präzise Bildsprache (Rettungswesten, Wasserkanister als Symbol für Hilfe und Verderben zugleich) entsteht ein fesselndes Gesamtkunstwerk für Augen, Ohren und Verstand. Wenn sich nur die Menschen genauso bewegen ließen wie die Hebebühnen des Nürnberger Theaters! Oder - um mit der Autorin zu reden: „Ich möchte den Tag erleben, … an dem wir keinen Zorn mehr brauchen.“
PS: Das ist doch wieder einmal eine kesse Anmeldung aus der Provinz für die nächsten Berliner Theatertage 2017!?
Mittelreich ****
Musiktheater nach dem Roman von Josef Bierbichler
Inszenierung: Anna-Sophie Mahler
Uraufführung: 22.11.2015
Münchner Kammerspiele
Immer wieder hört man den Vorwurf, dass das Theater der Gegenwart die reiche Fülle an dramatischer Literatur nicht nutzt und stattdessen in die Bearbeitung von epischen Werken flüchtet. Dies tun nun auch auf Anregung von Intendant Matthias Lilienthal die Regisseurin Anna Sophie Mahler und die Dramaturgin Johanna Höhmann, indem sie „Mittelreich“, den Roman-Bestseller von Schauspieler Josef Bierbichler (erschienen 2011 bei Suhrkamp) einer szenischen Bearbeitung unterziehen.
Die Geschichte erzählt von der Seewirtschaft und ihren Be- und Mitwohnern, der großen Familie über drei Generationen mit einem Schwerpunkt auf der Zeit nach 1945. Zum Personal des Hauses gehören u.a. der Seewirt Pankraz, der Wagner-Opern in seinem Zimmer anhört, das Faktotum Viktor Hanusch, das Fräulein von Zwittau (eine Hermaphroditin!). In dem großen Haus spiegeln sich ländliches Leben, städtischer Zeitgeist, existenzielle Lebenskrisen, persönliche Tragödien, religiöse Doppelmoral und Friktionen des „Wirtschaftswunders“. Die Menschen sind „mittelreich“, nicht reich, aber auch keine Hungerleider. Der Tod ist der ständige Begleiter der Hauptpersonen (Krieg, Blitzschlag, Altersschwäche). Der jüngste aus der Seewirts-Familie (Semi) wird zum Opfer klösterlicher Internatserziehung - ob er die Tradition weiterführen kann, bleibt offen.
Mahler und Höhman haben Bierbichlers breit angelegten Erzählduktus sinnvoll komprimiert, auf sechs Personen reduziert, den oberbayerischen Lokalkolorit weitgehend getilgt und alles mit einem eindrucksvollen musikalischen Background versehen. Die karge Bühne, die nur ein paar Stühle, einen Tisch und eine alte Radio-Plattenspieler-Kombination braucht, zeigt auf zwei Ebenen (Vordergrund / Hintergrund) die Zeitebenen im 20. Jahrhundert, von etwa 1914 bis 1970. Davor öffnet sich ein kleiner Orchestergraben für zwei Flügel, eine Pauke und die Dirigentin Julia Selina Blank, die das Junge Vokalensemble München im 1. Rang und auf der Bühne einfühlsam steuert. Musikalisches Leitmotiv ist Johannes Brahms' „Deutsches Requiem“, das zunächst bei der Beerdigung des alten Seewirts gesungen und dann passagenweise in die Handlung integriert wird. Das eher statuarische Agieren der Schauspieler (Steven Scharf, Thomas Hauser, Stefan Merki, Annette Paulmann, Jochen Noch und Damian Rebgetz) erinnert zum Teil an Kroetzsches Volkstheater, wenn nicht gar an Beckettsche Endspiele. Höchstes Lob für diese eindrucksvolle Aufführung: Eine Einladung zu den Berliner Theatertagen 2016!
https://www.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/mittelreich
Der nackte Wahnsinn
(Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus) ****1/2
Von Michael Frayn
Inszenierung: Petra Luisa Meyer
Die schlechte Nachricht vorweg: diese Produktion des Nürnberger Schauspiels wird wohl nicht zum Berliner Theatertreffen eingeladen werden, wie es Regisseur Dallheimer (Stefan Lorch) einmal in seinen kühnen Träumen formuliert. Die gute Nachricht danach: die bühnenerprobte Komödie „Der nackte Wahnsinn“ (Originaltitel: „Noises Off“), die Michael Frayn in den 80er Jahren geschrieben hat, könnte in den nächsten Monaten (Jahren?) ein veritabler Kassenknüller für das Staatstheater werden, denn in den Zeiten von Flüchtlingskrise, IS-Terror und Euro-Schwäche besteht ein nachvollziehbares Bedürfnis, sich einmal drei Stunden an gepflegtem Nonsens und launigem Blödsinn zu erfreuen. Frayn hat mit diesem Stück ein Feuerwerk an Gags, Slapstick-Sequenzen, Türen- und Fensterschlagen komponiert, das auch als hintergründige Satire auf das Boulevard- und Tournee-Theater in Erinnerung bleibt. In drei Etappen erlebt man das ganz normale Chaos einer bunt zusammengewürfelten Bühnentruppe: erst die Generalprobe, dann eine Aufführung aus der Hinterbühnen-Perspektive und schließlich die ca. 300. Aufführung, wo dann endgültig alles schief geht, was schief gehen kann: Theater im Theater oder Ein Boulevard-Käfig voller eitler Narren. Der Text an sich hat Heiterkeitsgarantie, es kommt nur noch darauf an, einen spielstarken Bühnen-Achter samt Steuerfrau (hier: Regisseurin Petras Luisa Meyer) zu finden, der das richtige Timing sowie die ausgewogene Mischung aus Groteske und Wahnwitz herausdestilliert. In Nürnberg ist das bestens gelungen, denn die Damen Köhler, Schebesch, Kirchmann und die Herren Cüppers, Damerius, Hochstrasser, Steeger, Lorch, Bruchmann können - um in der schönen Sportsprache zu bleiben, ihre Leistung auf dem Platz abrufen, das heißt mit physischer Präsens und hoher Spielkultur überzeugen. Häufiger Zwischenbeifall bei der Premiere und am Ende lang anhaltende Ovationen für das Ensemble.
Wintersonnenwende (Staatstheater Nürnberg - Kammerspiele) ****
Von Roland Schimmelpfennig
Inszenierung: Shirin Khodadadian
Vielschreiber Roland Schimmelpfennig liefert auch 2015 wieder ein Bühnenstück ab: „Wintersonnenwende“. Die deutsche Uraufführung fand am Deutschen Theater Berlin statt, nun wagt sich das Nürnberger Staatstheater an das mehrdimensionale Psychogramm der Gegenwart. Zunächst erleben wir eine eher konventionelle Figurenkonstellation: ein bürgerlich-intellektuelles Ehepaar (Julia Bartolome als Bettina und Daniel Scholz als Albert), das sich längst auseinandergelebt hat und sich in scharfzüngigen Albee‘schen Eheschlachten definiert. Hinzu kommt aber noch der vorweihnachtliche Besuch der Schwiegermutter Corinna (Elke Wollmann), die das winterliche Gemetzel zum Dreieck ausweitet. Soweit erscheint das alles schon mehrfach thematisiert, wenn Corinna nicht eine zufällige Zugbekanntschaft, den früher in Paraguay (!) lebenden Arzt Rudolph (Heimo Essl), unangemeldet mitgebracht hätte. Dieser geschmeidige Gentleman Rudolph - Biedermann oder Brandstifter? - bringt nun eine ganz neue Note in die bildungsbürgerliche Fassade: er schwadroniert über germanische Traditionen und Begriffe, bevorzugt den deutschen Komponisten Bach und lästert über die Defizite der westlichen Demokratie. Während die naive Schwiegermutter groupiehaft an den Lippen des mysteriösen Gastes hängt, läuten beim aufgeklärten Schriftsteller Albert die ersten Alarmglocken. Die Fäden für die finale Katastrophe sind gespannt, noch dazu, wenn Bettina vor allen den Maler und Freund der Familie, Konrad (Stefan Willi Wang) küsst. Schimmelpfennigs Botschaft ist klar, wohl etwas zu klar: er will darstellen, wie sich schleichend rechtskonservatives Gedankengut in der bundesdeutschen Mitte einnistet, wie hilflos die Alt-68er diesem Phänomen gegenüberstehen. Shirin Khodadadian vertraut dem vielschichtigen Text weitgehend, fordert von den präzisen Schauspielern schnelle Wechsel zwischen Rolle und gesprochener Regieanweisung. Die am Anfang plastikverhangene Hinterbühne symbolisiert die Winterkälte mit einer Übertragung von Caspar David Friedrichs „Eismeer“. Auf der Vorderbühne entwickelt sich ein Wohnzimmer-Chaos mit Stühlen, vielen Rotweinflaschen und einem zusammensteckbaren Plastik-Weihnachtsbaum. Nürnbergs dritte Schimmelpfennig-Inszenierung (nach „Besuch bei dem Vater“ und „Der goldene Drache“) liefert jedenfalls Stoff fürs Weiterdenken (verbunden mit einem Buchtipp der Dramaturgie: Liane Bednarz / Christoph Giesa: Gefährliche Bürger. Die neue Rechte greift nach der Mitte) und nicht nur die sattsam bekannte Bürger-Weihnachts-Stilkritik (dafür hat man ja ohnehin das Kusz’sche „Lametta“ im Programm hängen!).
Das Fleischwerk (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus) **
Von Christoph Nußbaumeder
Inszenierung: Markus Heinzelmann
Eifrige Zuschauer der Polit-Magazine "Report", "Panorama" oder "Kontraste" wissen mittlerweile von den fragwürdigen Machenschaften der (deutschen) Fleischindustrie, von osteuropäischen Wanderarbeitern, die durch Subunternehmer weit unter dem Mindestlohn beschäftigt werden. von qualvollen Viehtransporten quer durch Europa und von einer seelenlosen Massenproduktion, die das Schweineschnitzel für etwa 3,99 € pro Kilo beim Discounter auf die Ladentheke bringt. So weit, so unschön.
Nun hat sich aber auch der niederbayerischen Schriftsteller Christoph Nußbaumeder des Themas angenommen und einen dramatischen Zugang dazu gesucht. Entstanden ist das Theaterstück "Das Fleischwerk", das im September in Bochum Uraufführung und im Oktober in Nürnberg Zweitaufführung hatte.
Der Autor Nußbaumeder gilt als vielversprechender Literat der Arbeitswelt, möglicherweise in der Tradition von Kroetz, Fleißer oder gar Brecht und Horvath. Warum das eindeutig zu hoch gegriffen ist, machte die Nürnberger Inszenierung leider deutlich. Nußbaumeder begnügt sich nicht mit dem Schicksal des bulgarischen Arbeiters Andrei (Philipp Weigand), der sich im Stile eines Spartakus gegen den Unternehmer auflehnt und im Schlachthaus die Fahne der Revolution flattern lässt, er schickt auch noch dessen Frau Susanna (Bettina Langehein) als stille Rachegöttin ins Gefecht, lässt den Viehtransportfahrer Rabanta (Stefan Lorch) ausführlich über seine Krebserkrankung philosophieren und integriert einen Schweinemäster Weidenfeller (Thomas Marx), den es zu Prostituierten zieht. Somit ist das eigentliche Thema zwar dramatisch aufgepimpt (auch durch leicht verwirrende Zeitebenen), inhaltlich aber weitgehend verwässert.
Die Schwächen dieses Stückes kann auch der etwas ratlos wirkende Regisseur Markus Heinzelmann nicht verwischen. Er setzt einzelne visuelle und darstellerische Akzente, probiert sich an Hintergrund-Videos, Schlagzeilen a la Piscator und umgibt das ganze oft blutige Geschehen auf der Bühne mit abwaschbarer Plastikfolie. So bleibt wahrscheinlich nur die grell satirisch gezeichnete Figur des Subunternehmers Akif (Stefan Willi Wang) in Erinnerung, der allerdings - wohl als dialektische Brechung - selbst mal aus dem Iran nach Deutschland geflohen war. Dazu die bedauerliche Tatsache, dass die beiden "Neuen" im Ensemble (Bettina Langehein und Thomas Marx) den akustischen Bedingungen der großen Bühne kaum gewachsen sind und dass es beim anschließenden Premierenbuffet doch wieder Fleisch gab (Tafelspitzsülze!).
König Lear (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus) ***
Von William Shakespeare
Inszenierung: Klaus Kusenberg
Mit Jochen Kuhl als König Lear
Zwei alte Männer - König Lear (Jochen Kuhl) und der Graf von Gloster (Rainer Matschuck) - verirren sich in der Einschätzung der nächsten Generation und lösen damit eine großflächige Tragödie aus. Lear will nach einer devoten Liebeserklärung seinen drei Töchtern die Macht übergeben, kann aber nicht zwischen Schleimerei (Regan und Goneril) und ehrlicher Nüchternheit (Cordelia) unterschieden. Gloster lässt sich von seinem unehelichen Sohn Edmund (Christian Taubenheim) mithilfe gefälschter Botschaften einseifen und verstößt fälschlicherweise den leiblichen Sohn Edgar (Julian Keck). Mit dieser problemhaften doppelten Familienaufstellung nach William Shakespeare startet Schauspieldirektor Klaus Kusenberg in die neue Spielzeit 2015/2016 und setzt dabei auf eine recht konventionelle Inszenierung, die ganz dem Ensemble um Kammerschauspieler Jochen Kuhl vertraut. Aktualität und technische Spektakel werden vermieden, eher steuert Kusenberg seine Akteure zwischen dem grellen Grauen der griechischen Tragödie und der Endzeit-Resignation des absurden Theaters. Und steckt nicht tatsächlich in Lear eine gehörige Portion der Machthybris eines Kreon oder eines Agamemnon? Ist nicht Glosters Weg von der Verblendung zur Blendung eine Wiederkehr des König Ödipus? Ist dadurch nicht Regisseur Kusenberg zu einem inhaltlichen und stilistischen Remake seines Premieren-Starts von 2014 („Ödipus.Stadt“) verleitet worden?
Vor dem tragischen Ende stolpern die beiden Senioren halb nackt und schwer verwundet durch eine bunte Wildnis, nur begleitet vom Narr (Josephine Köhler), vom verkleideten Grafen Kent (Thomas Nunner) und vom ebenfalls irrlichternden Sohn Edgar. Das hat Züge einer Warteschleife mit Wladimir und Estragon, einschließlich existenzieller philosophischer Einsichten (leider zu spät!). Zunehmend verlieren sich im zweiten Teil der Aufführung die gedankliche Klarheit und die szenische Präsenz, die vor der Pause erkennbar waren, da sich Kusenberg nicht mehr recht entscheiden will, ob er auf Emotionen oder auf distanzierende Ironie setzen soll. Hier können schließlich auch Günter Hellwegs sparsame und funktionale Bühnenkonstruktion und Bettina Ostermeiers atmosphärische Soundkulisse nicht mehr weiterhelfen. Insgesamt also ein solider, aber nicht sehr spektakulärer Nürnberger Saisonstart, der an Strahlkraft vermissen ließ und mit freundlichem Beifall bedacht wurde.
Die schmutzigen Hände (Staatstheater Nürnberg, Kammerspiele) ****
von Jean-Paul Sartre
Inszenierung: Schirin Khodadadian
1948 hat Jean-Paul Sartre mit dem Titel „Die schmutzigen Hände“ ein Dingsymbol geschaffen, das sehr anschaulich zur Diskussion über das Verhältnis von Politik und Macht, von Idealismus und Realismus in der Politik sowie von Gewalt (politischer Mord) und Parteiräson einlädt. Ob seine existentialistische Problemerörterung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts noch aktuell ist, kann man anhand einer sehenswerten Inszenierung von Schirin Khodadadian in den Nürnberger Kammerspielen nachprüfen. Es geht Sartre um das grundsätzliche Dilemma der Kommunistischen Partei im 20. Jahrhundert, zugespitzt um die Frage Stalin vs. Trotzki oder demokratischer Zentralismus vs. utopistischer Anarchismus - angesiedelt aber in einem fiktiven Staat Illyrien. Der idealistische Intellektuelle Hugo (Stefan Willi Wang) soll und will den kompromisslerischen Parteisekretär Hoederer (Daniel Scholz) umbringen. Im Nachhinein muss Hugo aber erkennen, dass die Parteilinie während seiner Selbstzweifel ob dieser Tat längst umgeschwenkt ist und ihn nun als individualistischen Träumer abservieren will. Durch die Methode der Rückblende braucht das Stück eine gewisse Anlaufzeit, bis es nach einer Stunde zum fesselnden Diskussionstheater wird. Dabei soll die mit Schreibtischen und - merkwürdig über- oder unterdimensionierten - Schreibstühlen vollgestellte beengende Bühne (Carolin Mittler) möglichst wenig vom Wort-Spiel der Charaktere ablenken. Dank eines sprechmächtigen Schauspieler-Sextetts wird die Theorie-Debatte zum intensiven Polit-Thriller, dem auch die Einbeziehung zweier Dostojewski-Figuren („Schuld und Sühne“) nicht schadet.
Romeo und Julia (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus) **
von William Shakespeare
Inszenierung: Johannes von Matuschka
Aus einem deutschen Popsong wissen wir, dass der Wilde Westen gleich hinter Gütersloh beginnt. Aus der Inszenierung durch Johannes von Matuschka im Nürnberger Schauspielhaus erfahren wir nun weiterhin, dass man ihn auch direkt bei Verona finden kann. Denn der Regisseur hat sich mit der Dramaturgin (Diana Insel) auf das gewagte - und sehr gewollte - Assoziationsspiel eingelassen, dass der Begriff „Licht“ eine zentrale Rolle in Shakespeares berühmten Liebesdrama spielt (jetzt ahnt man auch, warum Shakespeare-Fan Goethe am Totenbett „mehr Licht“ forderte!?), dass der Gegensatz natürliches Licht und künstlich produziertes Licht ein markantes Phänomen der Moderne ist und dass somit das jugendlich-naive Liebespaar für die naturhafte Empfindung steht, während ihre Väter der kapitalistischen technologischen Neuerung als Unternehmer verpflichtet sind. So entsteht dann in der Gründerzeit des amerikanischen Westens der Gegensatz zwischen einer Montague Coal Mine (Chef: Heimo Essl) und der Capulet Power & Light Inc. (Chef: Michael Hochstrasser), die Capulet-Tochter Julia (Henriette Schmidt) darf natürlich nicht den Montague-Sohn Romeo heiraten sondern soll besser mit dem investitionskräftigen (Öl-?) Prinz Paris verkuppelt werden. Doch offensichtlich hat der Regisseur seinem Gedanken- und Bilderspiel selbst nicht recht getraut, was dazu führt, dass von Anfang an die Wild-West-Szenerie nicht konsequent dargestellt wird und mit dem Laufe der Handlung fast gänzlich verschwindet. Da wandelt sich dann das Bühnenbild (Marie Holzer) von rauchiger Saloon-Romantik immer mehr zum tragischen Mausoleum. Während Mercutio (Thomas L. Dietz) als kauziger Sam Hawkins maskiert ist und in dieser Rolle die Grobianismen von Shakespeare überzeugend vermitteln kann, tritt Prinz Paris (Stefan Lorch) schon eher als Space Cowboy auf und der chaplinesk gewandete Romeo (Julian Keck) schwankt in Schwarz-Weiß über die Bühne, als würde er dauernd dem Song „Flash mich nochmal“ im Kopfhörer lauschen - dabei signalisiert er doch mit seinem Schlabber-T-Shirt: „Nur über meine Leiche!“. Aus den rauchenden Colts und den Ennio-Morricone-Klängen werden am Ende betroffene Fackelzüge und sakrales Orgel-Gewaber, das eine Gretchen-artige, ausgesprochen kitschige Apotheose des tragisch verstorbenen Paares untermalt. Fazit: Dass man Romeo und Julia als märchenhafte Liebestragödie nicht mehr 1:1 auf die Metropolen-Bühne des 21. Jahrhunderts wuchten kann, ist nachvollziehbar. Was aber mit jenem schrägen Assoziations-Kasperletheater gewonnen sein soll, bleibt das Geheimnis der Verantwortlichen. Für das leidensfähige Ensemble und das stets positiv gestimmte Premieren-Publikum war/ist das jedenfalls ein anstrengender Saison-Schluss 2015.
Kinder der Sonne / Nachtasyl
(Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus) *****
von Maxim Gorki
Inszenierung: Sascha Hawemann
mit Stefan Willi Wang u.a.
Vorne eine raumhohe Klarsichtfolie, hinten ein überdimensioniertes Bücherregal - dies ist das symbolkräftige Bühnenbild von Wolf Gutjahr, das im Nürnberger Schauspielhaus den Spielraum für etwa sechs Personen markiert. In diesem abgeschotteten Bezirk, einem Elfenbeinturm der Wissenschaft und Kunst, spielen Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ ihre mal naiven, mal zynischen Eifersuchts- und Argumentationsspielchen. Da ist der Wissenschaftler Protassow (Stefan Willi Wang), der mit zarten Pflänzchen nach dem Ursprung des Lebens forscht, da ist der von expressionistischem Furor getriebene Künstler Wagin (Julian Keck), und da ist der von grundsätzlichen Zweifeln zerfressene Tierarzt Tschepurnoi (Christian Taubenheim). Zwischen ihnen flattern leicht schrille Frauenfiguren, die manchmal von Harmonie träumen, manchmal aber auch die Männer als abgehobene Spielfiguren behandeln. Die mondäne Jelena (Louisa von Spies) pendelt zwischen ihrem Mann Protassow und dem langhaarigen Künstler, setzt sich dann an den Flügel und interpretiert - ganz wie Diana Krall - Bob Dylans „Simple Twist Of Fate“ (die Geschichte wie eine Beziehung einfach so kippen kann). Protassows träumerische Schwester Lisa (Julia Bartholome) kann sich erst für den Tierarzt entscheiden, als dieser schon Selbstmord begangen hat. Schließlich möchte die zickige reiche Witwe Melanija (Kerstin Dahmen) den sprachbegabten Wissenschaftler anhimmeln und als Beziehungs-Trophäe in ihren Schrank stellen. In dieses Kabinett der Eitelkeiten dringt - neben einer ansteckenden Krankheit - aber immer wieder die grobe Welt des revolutionären Proletariats ein, repräsentiert durch den brutalen Schreiner Jegor (Stefan Lorch). Regisseur Sascha Hawemann wagt dazu noch einen zweiten „Einbruch“, indem er als Theater im Theater ein drolliges Clownspärchen (Philipp Weigand und Thomas L. Dietz) Szenen aus Gorkis „Nachtasyl“ vorspielen lässt. Die untersten Schichten der zaristischen Gesellschaft halten so der blasierten Intelligenzija einen grotesken Spiegel vor. Das Schlussbild der Aufführung zeigt die Auflösung: die Bücher sind am Boden zerstreut, die Rückseite der Bücherwand erweist sich als mögliche Hinrichtungsstätte mit angedeuteten Folterinstrumenten - Genosse Stalin lässt schon mal grüßen! Unter diesen Umständen flüchtet das schöngeistige Personal lieber in die aufgeblasene Matrjoschka-Puppe. Regisseur Sascha Hawemann ist es nach seiner umstrittenen Arthur-Miller-Interpretation im Vorjahr gelungen, das schwierige Gorki-Projekt mit starken Bildern und einem beweglichen Ensemble in die Gegenwart zu übersetzen, ohne dabei das Original mutwillig über Bord zu werfen. Ob freilich die Kunst zum Volk oder - wie Arno Schmidt forderte - das Volk zur Kunst kommen muss, bleibt auch nach diesen eindrucksvollen und nie langweiligen drei Stunden noch offen.
Der Widerspenstigen Zähmung
(Residenztheater München; 31.1.2015) ****
von William Shakespeare
Regie: Tina Lanik
mit Shenja Lacher, Andrea Wenzl u.a.
Zu den unverkennbaren Merkmalen des Münchner Residenztheaters unter der Intendanz von Martin Kusej gehört die Gleichzeitigkeit von provokativen Inszenierungen (wie etwa momentan Frank Castorfs „Baal“) und Repertoire-Klassikern, an denen auch die Gäste der Touristen-Klasse Gefallen finden können. Seit der Spielzeit 2012/13 gehört Shakespeares „Zähmung“ zu letzterer Kategorie, am 26.2.2015 findet nun die letzte Vorstellung statt. Man darf aber der Regiearbeit von Tina Lanik zugutehalten, dass sie die Verwechslungskomödie mit einigen interpretatorischen Untiefen ausgestattet und im wahrsten Sinne geerdet hat. Denn auf der großen, leeren Bühne müssen die Akteure mit viel Regen und Matsch kämpfen, um schließlich reichlich „befleckt“ zum Happy End zu gelangen. Auch die leichte Rätsel- und Traumhaftigkeit der Theater-im-Theater-Rahmenhandlung gibt diesem scheinbar so vordergründigen Stück über die richtige Behandlung der Weiber einen neuzeitlichen, gender-gerechten Touch. In ihrem sehr lesenswerten Text für das Programmheft spricht Elisabeth Bronfen bei dem Paar Käthchen von Padua und Petruchio von zwei Gleichgesinnten, deren Neigung, sich zu verletzen oder verletzen zu lassen, als „Beweis für ein uneingeschränktes Teilen radikaler Intimität“ dient. Dazu kommt die schauspielerische Stärke der beiden Hauptdarsteller Shenja Lacher und Andrea Wenzl, die diesem Duo eine kühne Kombination von Spielwitz und agiler Brutalität geben. Die gemeinsame Verabredung, sich auf eine verrückte Umdeutung der Welt einzuschwören, lässt die beiden als Gewinner aus einer Welt der Konventionen und des Vortäuschens hervorgehen. Nicht unverdient haben Wenzl und Lacher die Förderpreise 2014 des Münchner Residenztheaters gewonnen.
Aus Liebe (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus) *****
von Peter Turrini
Inszenierung: Markus Heinzelmann
Wieder einmal wird im Nürnberger Schauspielhaus die zeitlose Büchnersche Frage „Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?“ verhandelt. Diesmal allerdings nicht am Beispiel eines Dantons oder eines Woyzecks (der aus Eifersucht seine geliebte Marie umbringt) sondern am Beispiel des österreichischen Parlamentsassistenten Michael Weber, der „aus Liebe“ seine Frau Elfriede und seine Kind Flora mit dem Hackebeil tötet. Peter Turrini hat den Fall des Reinhard S. (2008 zu lebenslanger Haft verurteilt) aufgegriffen und daraus eine Szenenfolge konstruiert, die nun als deutsche Erstaufführung dem fränkischen Publikum vorgestellt wurde. Dabei geht es dem Autor ersichtlich weder um eine stringente Darlegung der Kausalitäten noch um einen pädagogischen Ansatz gegen Gewaltverbrechen. Vielmehr will er eine furchtbar moderne Welt zeigen, die durch Sprachlosigkeit, soziale Krisen und den Warencharakter der menschlichen Beziehungen gekennzeichnet ist.
Als Weber beim Frühstück von seiner Frau erfährt, dass sie sich von ihm trennen und mit der Tochter das Haus verlassen wird, flüchtet er zunächst in eine Reihe von teils zufälligen, teil geplanten Kontakten, kauft dann im Baumarkt ein Beil, erschlägt seine Frau und meldet sich schließlich bei der Polizei.
So könnte auch ein 70er-Jahre-Volkstheater von Franz Xaver Kroetz ablaufen, doch Regisseur Markus Heinzelmann hat aus der düsteren und zugleich ironischen Textvorlage ein multimediales Bühnenwerk geformt. Die einzelnen Räume bewegen sich auf drei Ebenen (Bühne: Gregor Wickert), dazwischen und darüber befinden sich Projektionsflächen, die das Geschehen aus einer anderen Perspektive sozusagen „kommentieren“. Die Schauspieler agieren also weniger zum Publikum als zur jeweiligen Kamera hin (Video-Technik: Boris Brinkmann). Damit entsteht ein komplexes Wort-Bild-Geflecht, das auf treffende Weise, die heutige You-Tube- und Selfie-Mentalität reproduziert. Für den meist bedrohlichen musikalischen Hintergrund ist Christine Hasler verantwortlich, die zur Mordszene sogar einen eigenen Song beisteuert.
Stefan Lorch pilgert als Hackenmörder eher schweigend und apathisch durch das Geschehen, er trifft dabei auf überwiegend krisenhafte Figuren wie den frustrierten Baumarkt-Verkäufer (Christian Taubenheim) oder die verwitwete Kaffee- und Torten-Tante (Marion Schweizer). Da ist schließlich der liebe Gott (Jochen Kuhl) mit seiner Schöpfung nicht mehr ganz glücklich, auch wenn er am Ende noch für einen scheinbar hoffnungsvollen Ausgang sorgt. Ein theatralisches Denk-Erlebnis für alle Sinne, das man sich unbedingt anschauen sollte!
Kommentar des Gast-Kritikers Anton S.:
Ich fand die Behandlung des Themas Liebe (und Einsamkeit/letztendliches Alleinsein) in all ihren Facetten auch sehr interessant und provozierend-erhellend - inmitten all des Weihnachtskitsches von „Hl. Familie“, Familien- und Beziehungsidylle. Anfangs fand ich auch den Einsatz der Kameras (auch ich habe die Selfie-Manie sofort impliziert) und der unterschiedlichen Perspektiven überzeugend, muss aber sagen, dass mich das im weiteren Verlauf des Stückes zunehmend gestört hat. Es war für mich später einfach nur aufdringlich und etwas holzschnittartig-einhämmernd. Hinzu kommt, dass ich in der Erlanger Inszenierung der "Leiden des jungen Werther" genau denselben Kameraeffekt genießen durfte. - Manchmal habe ich den Eindruck, dass auch in der Theaterwelt bestimmte „Moden“ geritten werden: Nachdem die Vorliebe für Flüssigkeiten auf der Bühne (Theaterblut, Wasserbecken, durch die die Schauspieler springen) und nackten Darstellern nun etwas abgeflaut (und außer Mode gekommen?) ist, scheint die Kameraprojektion das neueste „inszenatorische“ Wunderkind zu sein. Mal sehen, wie lange diese Welle andauert.
Die Dreigroschenoper (Berliner Ensemble) ****
Von Bertolt Brecht
Musik von Kurt Weill
Regie, Bühne, Lichtkonzept: Robert Wilson
Seit 1928 gehört Bertolt Brechts "Dreigroschenoper" zum unverzichtbaren Standard-Repertoire des Theaters am Schiffbauerdamm (später Berliner Ensemble). Nach den Regiearbeiten von Erich Engel (1928, 1960) und Manfred Wekwerth (1981, 1985) hat nun der Gesamtkünstler Robert Wilson seit 2007 ein Konzept realisiert, das regelmäßig im Programm ist. Wilson, der sich einen Namen mit Büchner-Inszenierungen machte, befasst sich hier erstmalig mit Brecht, was aber letztlich nur bedeutet, dass er seine bekannten Vorstellungen von Schauspiel, Choreografie, Bühne und Licht der Bettleroper überstülpt. Das Spiel mit den marionettenhaften Figuren, mit den geometrischen Licht-Schatten-Mustern und mit den stilisierten Kostümen/Frisuren wirkt ungebrochen attraktiv fürs Auge, lenkt aber erfreulicherweise nicht ganz von der politischen Botschaft des Stückes und damit von Brecht bekannter dialektischer Hinterfotzigkeit ab: "Wovon lebt der Mensch? … Der Mensch lebt nur von Missetat allein! … für dieses Leben ist der Mensch nicht anspruchslos genug, drum ist all sein Streben nur ein Selbstbetrug". Aus dem präzise agierenden Ensemble ragt eindeutig Jürgen Holtz als Peachum heraus. Stefan Kurt bietet einen wohl verständlichen Macheath und Angela Winkler eine schräge Jenny. Im Orchestergraben intoniert das Dreigroschen-Orchester die Weill-Songs, die trotz aller Sperrigkeit teilweise schon Ohrwurm-Charakter haben. Somit ist diese Inszenierung keineswegs nur ein Berliner Touristenfänger sondern eine anspruchsvolle inhaltliche und szenische Auseinandersetzung mit dem Stück.
Gespenster (Münchner Volkstheater) ***
Von Henrik Ibsen
Regie: Sebastian Kreyer
"Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus" hieß es 1848 im Kommunistischen Manifest. Bei Henrik Ibsen geht es um die "gespenstische" Frage, ob wir den Gesetzen der Gesellschaft gehorchen, weil wir sie respektieren oder weil wir sie fürchten. Mit viel Wut im Bauch hat Ibsen 1881 sein Stück "Gespenster" fertig gestellt. Doch der Gutachter des Theaters in Kristiania reagierte ablehnend: „Dem Stück fehlt die gesunde dramatische Wirkung, und es versucht diesen Mangel durch pathologische Reize zu überdecken“. Damit hat er wohl nicht ganz unrecht, denn hier will Ibsen auf seine messerscharfe Kritik der bürgerlichen Familie (als vermeintliche Keimzelle der Gesellschaft) noch eins draufsetzen und operiert auch recht vordergründig mit den Themen Geschlechtskrankheit, Erbkrankheit, Inzest und Homosexualität - also wirklich das volle "pathologische" Programm, das damals in intellektuellen Kreisen ambivalent diskutiert wurde. Darüber hinaus baut er auch noch die karikaturhafte Figur des Pastors Manders ein, der als geschwätziger Kirchenvertreter sein Fett abbekommt. Dabei hätte die Grundidee von der mater familiae Helene Alving, die den Ruf ihres toten Mannes (Hauptmann Alving) retten und die bürgerliche Karriere ihres Sohne Osvald absichern und dazu eine soziale Stiftung begründen will, vollends gereicht.
Für das Münchner Volkstheater hat sich Regisseur Sebastian Kreyer diesem problematischen Stück eher unentschlossen angenähert (Premiere: 29. Juni 2013). Während man im ersten Teil eine recht schrille, Gag-gesättigte Trash-Comedy mit Gesangseinlagen französischer Chansons erlebt, kippt die Inszenierung im zweiten Teil vor einer arg biederen Kulisse (Helene Droll) wieder in gewohnte dramatische Bahnen. Ein echtes Manko ist die Jugendlichkeit der Männer im Ensemble. Weder der Pastor (verkörpert von Oliver Möller) noch der Tischler Engstrand (Pascal Fligg) erweisen sich als stimmige Charaktere. Immerhin wird mit Ursula Burkharts Helene Alving als Kraftzentrum dieser Aufführung in Erinnerung bleiben - mehr aber nicht.
Urteile (Residenztheater München) ***
Von Christine Umpfenbach und Azar Mortazavi
Regie: Christine Umpfenbach
Nachdem das dokumentarische Theater in den 70er Jahren mit den Gründervätern Peter Weiss und Heinar Kipphardt den gesellschaftlichen Diskus entscheidend mitbestimmte, sind seitdem die Nachfolge-Versuche spärlich und meist epigonal geblieben. Doch mit dem Stück „Himbeerreich“ hat Andreas Veiel kürzlich bewiesen, dass man Interview-Material durchaus attraktiv zu einem Bühnen-Geschehen komponieren kann. Seine Schlaglichter auf die verantwortlichen Akteure des Finanzkapitalismus waren kritisch und unterhaltsam zugleich. Ein von der Methode ähnliches Projekt startete Christine Umpfenbach nun in München: sie interviewte Verwandte, Bekannte der beiden Münchner NSU-Terroropfer, sprach auch mit Journalisten und Politikern und arrangierte das Text-Material zu einem szenischen Sprechen für drei Personen. "Urteile" nennt sich die etwa 90minuütige Produktion des Münchner Residenztheaters (Premiere am 10. April 2014), meint aber vielmehr „Vorurteile“ und will gesellschaftliche Denk-Schablonen und den „strukturellen Rassismus“ in Deutschland ins Licht rücken. Die Bewertung für den Beobachter muss in diesem Fall zweigleisig verlaufen: Kann man der politischen Botschaft des Stückes zustimmen? Ist es gelungen, die eher spröden Textbausteine in eine szenische Form zu gießen?
Zum einen ist die gewollte Beziehung zwischen strukturellem Rassismus (auch gespeist aus persönlichen Erfahrungen der Mitautorin Azar Mortazavi) und den NSU-Morden höchst zweifelhaft, die bundesdeutsche Gesellschaft des 21. Jahrhunderts produziert eben nicht zwangsläufig Böhnhardts und Mundlos‘. Zum anderen ist die szenische Umsetzung recht karg: drei Schauspieler (Paul Wolff-Plottegg, Gunther Eckes, Demet Gül) sprechen eher nebeneinander als miteinander in den verschiedenen Rollen, ein (entwurzelter?) Baum hängt bedrohlich verkehrt herum über den Akteuren (die aber kaum agieren!), nur einmal wird einigen Melonen mit dem Messer der Garaus gemacht - so viel zum Thema Spannungskurve und Symbolik.
Insgesamt also eine eher trockene Angelegenheit; die ihr recht bemühtes Anliegen so gar nicht zum theatralischen Glänzen bringen kann. So gesehen ist ein Besuch im Münchner Gerichtsgebäude wahrscheinlicher aufregender und lehrhafter.
Tod eines Handlungsreisenden (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus) ***
von Arthur Miller
Regie: Sascha Hawemann
Arthur Millers Drama "Tod eines Handlungsreisenden" galt eigentlich seit seiner Uraufführung 1949 als zeitloses Dokument für eine persönliche Tragödie im Hamsterrad des modernen Kapitalismus, besonders aber für das System der Selbsttäuschungen im american way of life.
Holger Bergs Nürnberger Inszenierung im Jahre 1997 (mit Waldemar Stutzmann in der Hauptrolle) hielt noch stark an dem Original fest (ähnlich wie Volker Schlöndorffs Verfilmung 1985) - doch mittlerweile sind neuartige Wirtschafts- und Finanzkrisen durch die Welt gezogen und auch die großstädtisch-ambitionierte Regiesprache hat sich verändert.
Somit ist die aktuelle Produktion im Schauspielhaus, für die Sascha Hawemann und sein starker Ossi-Hintergrund verantwortlich zeichnen, keine werktreue Adaption mit sanften Aktualisierungen, sondern eher eine Radikal-Bearbeitung mit der Kettensäge. Der Schauplatz wird nach Deutschland verlegt, Willy Lomann (Stefan Lorch, ein "Woyzeck" des 20. Jahrhunderts?) heißt wohl eher Lohmann und die Ziele seiner Verkaufsreisen sind Forchheim, Salzwedel und Braunschweig. Seine junge Frau Linda (Louisa von Spies) ist ein zappeliges Blondchen, das sich mit gehauchten Songs eine Marilyn-Monroe-Traumwelt zurechtschneidert. Und die Söhne Biff (Christian Taubenheim) und Happy (Julian Keck) machen auf krawallige Blindgänger, die gerne prekariats-typisch mit Unterwäsche vor dem Fernsehschirm sitzen oder sich im Bayern-München-Trikot als Sieger fühlen. Das Bühnen-Mobiliar besteht nur aus einem Fernsehapparat, einem Sofa, einem Kühlschrank (aus dem die Leere raucht?) und einer enormen Anzahl von rollbaren Kleiderständern, auf denen Hunderte von Anzügen (zum Anprobieren?) warten. Dazwischen brüllen die ständig aufgescheuchten Akteure, denen man ab und zu eine Dosis Ritalin wünschen würde. Alle Nebenrollen erledigt Philipp Weigand trampolinspringend, mal mit beleuchtetem Cowboy-Hut, mal mit Flossen und Neopren-Anzug. Der Millersche Text wurde unter weitgehendem Verzicht auf Nebenhandlungen und Rückblenden massiv gekürzt (Dramaturgie: Katja Prussas), stattdessen darf Happy Brachial-Prosa von Michel Houellebecq vortragen, um auch dem letzten das allgemeine Prinzip der Käuflichkeit des Menschen zu verdeutlichen. Das wirkt aber so, als würde man in eine Hanns-Eisler-Komposition einen Song von Rage Against The Machine einmontieren: gewollt! Selbst ein stimmiges Schlussbild mit Kleiderhaufen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass letzten Endes knallige Effekte den Blick auf die (Un-)Tiefen des Stückes verstellen. Vereinzelt vorzeitige Parkettfluchten und Buhrufe, die Mehrheit applaudierte freundlich, wohl auch etwas ratlos.
Der Revisor (Residenztheater München - Schauspielhaus Nürnberg, im Rahmen der Bayerischen Theatertage 2013) *****
Von Nikolai Gogol
Regie: Herbert Fritsch
Meine Damen und Herren! Ich habe Sie hergebeten, um Ihnen eine höchst erfreuliche Mitteilung zu machen: Herbert Fritsch hat den "Revisor" inszeniert - und wie!! Mit einem atemberaubenden Turbo-Theater der Körperlichkeit, mit einem Fest aus Witz und bedrohlichem Aberwitz, mit einem farbenfrohen Ballett der provinziellen Eitelkeiten und Dummheiten und mit einem schrägen Plastikbahnen-Bühnenraum. Dies alles folgt einem stimmigen Konzept des Regisseurs: "Wir sind Gaukler, die den Revisor spielen, wir lügen euch das Stück Der Revisor vor, in dem auch wiederum gelogen wird." Was bei der Berliner "Spanischen Fliege" noch als reine Farce gewollt war, trifft hier punktgenau den Gogolschen Schwebezustand zwischen Komödie und Gesellschaftskritik. Ein aufgedrehtes Ensemble - angeführt von dem phänomenalen Sebastian Blomberg als Chlestakow lässt in pausenlosen 100 Minuten nie Langeweile aufkommen und schafft es auf spielerische Weise dem geneigten Publikum einen fast unvergesslichen Zerrspiegel vorzuhalten. Dagegen sind 90 Minuten Bayern München in der Allianz-Arena ein träges, nur vordergründiges Spektakel! Nun sollte man noch eine Zürich-Reise planen, um Herbert Fritschs Zugriff auf die "Physiker" von Max Frisch zu beobachten (Kritik folgt in der Schau.Bühne 2014).