Kurzroman 52: „Alles was bleibt, ist der Hunger…“

Im fahlen Licht meines schäbigen Küchenfensters spülte ich gedankenverloren Geschirr, als aus dem sonst totenstillen Innenhof des Hauses ein ungewöhnlich lautes Gespräch zu mir empordrang. „Bitte, bitte gib mir doch Essen, ich habe Hunger! Wirklich großen Hunger!“ Eine mir irgendwie seltsam vertraute, aber doch auch sehr befremdliche Stimme, krächzte verzweifelt und flehend auf jemanden ein. „Verschwinde, du bekommst nichts mehr von uns, du wohnst hier nicht mehr! Wir kriegen noch einen Haufen Geld von dir!“, so antwortete eine andere Männerstimme erbost. Es klang seltsam. Als wenn der heute jugendliche Sohn meines Vermieters, mit dessen heute schon alter Stimme spräche. Irgendetwas passte nicht zusammen. „Aber..aber…hab doch Mitleid, ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen, um der alten Zeiten willen, bitteee! Ich brauche Esseeeen!“ Die flehende Stimme brüllte und krächzte zugleich, zitterte kaputt, versoffen, brüchig und sehr alt. Woher kannte ich diesen Mann? Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und versuchte durch die Glaslamellen meines Fensters in den Hof zu spähen. Doch außer zweier schemenhafter Schatten konnte ich nichts erkennen. „Los, ich bitte dich, verschwinde jetzt, du hast allen schon genug Unglück gebracht, niemand will dich hier mehr sehen!“
„Aber, aber…ich muss essen!“, brüllte der offenkundig gestörte alte Mann im Hof. Einige weitere Wortfetzen voller vergeblicher Lebensqual hallten noch aus dem Hauseingang empor. Dann fiel die Haustüre krachend ins Schloß und Ruhe rieselte sachte, wie ein atomarer Ascheregen, in den Hof. Welch groteskes Schauspiel. Kopfschüttelnd widmete ich mich wieder dem Geschirr und dachte über die Stimme nach. Ich kannte diesen Mann. Gedankenverloren hantierte ich im warmen Wasser, als die Stimme plötzlich ganz nah bei mir war. Unmittelbar unter meinem Fenster im zweiten Stock. Das war natürlich physisch gar nicht möglich.
„Hey, hey du!“, flüsterte es kratzend, aber eindringlich. „Lach nicht! Du hast keinen Grund dazu. Du schon gar nicht!“ Ich traute meinen Ohren kaum, wie konnte der alte Mann so dicht unter dem Fenster zu mir sprechen? Ich beugte mich wieder vor, um einen Blick zu erheischen, aber es war nichts zu sehen. „Hallo? Wer sind sie? Was soll das?“
Die alte Stimme hustete bröckelnd wie eine verwitterte, rissige Felswand, um dann heiser lachend Unfassbares zu flüstern:
„Hast du mich nicht erkannt? Ich bin du…in dreißig Jahren! Es ist alles nicht gut gegangen. Du hast es vermasselt! Es ist nichts passiert, gar nichts von dem, was du dir erhofft und gewünscht hast! Deine ganzen Pläne sind wie vollgeschissenes Toilettenpapier einfach hinfortgespült worden, hahaha! Nichts hast du erreicht. Gar nichts. Außer Verachtung und Hunger. Ich sage es dir nur dieses eine Mal: Gib besser einfach sofort auf! Du bist es nicht!“ Dann lachte er noch einmal sehr laut und lange. Dabei entfernte sich die Stimme zusehens, wurde immer leiser, zerbröselte akustisch in viele trockene Krümel, bis wieder völlige Stille in meinen Ohren eine dumpfe, weiche Decke auf mein Hirn legte. Ich war kein menschliches Wesen mehr, ich war ein bläulicher Eisblock. Erstarrt. Schroff. Kalt und tot. Meine Hände verharrten im nur noch lauwarmen Spülwasser.
Stimmt. Das war meine Stimme gewesen. Als alter, obdachloser Mann, bar jeder Zuversicht, mit einem Meer gescheiterter Ideen im bräsig gesoffenen Schädel. Ich hatte zu mir selbst gesprochen. Aus der Zukunft. Der schäbigen. Kurzentschlossen klappte ich das quietschende Fenster wieder zu.
„Hunger.
Alles was bleibt, ist der Hunger und das Scheitern!“, schrieb ich mit noch feuchten, schrumpeligen Fingern in mein Notizbuch. „Das habe ich mir erzählt! Und ich würde mich ja niemals selbst belügen, in dreißig Jahren, oder?“

Kurzroman 51: Der Mann ohne Gesicht

Als er morgens abrupt vom sandigen Schlaf in den hellen Tag gespuckt wurde, spürte er sofort, dass irgend etwas nicht stimmte. Kein Schmerz, keine Benommenheit, keine Trauer, nein…aber er fühlte sich irgendwie unvollständig. Verwirrt stand er auf, ging ins Bad und blieb wie angewurzelt vor dem Spiegel stehen: Unfassbar! Er hatte kein Gesicht mehr! Sein Kopf war noch zu sehen, aber seine Augen und alle Details, die ein Gesicht ausmachen, waren verschwunden. Oder waberten undeutlich herum. Wie konnte das sein? Er war ja nicht blind. Hastig zog er sich an und schob diese Episode auf den Alkoholkonsum letzter Nacht. Er würde kürzer treten müssen. Unbedingt. Schliesslich verließ er seine Wohnung und trat er auf die Straße. Niemand nahm Anstoß an ihm oder drehte sich um. Wenn er wirklich Gesichtslos wäre, würde das doch nicht unbemerkt bleiben. Wie ein unsichtbarer Lurch glitt er durch die Menschenmenge. Bisweilen erhaschte er im Vorübergehen einen kurzen Blick auf sein Spiegelbild in Schaufenstern. Sein Gesicht fehlte entweder gänzlich oder floss seltsam unscharf über seinen Kopf. Wie Augen-Mayonnaise. Grauenhaft. In der Ubahn fasste er dann den Entschluss, ein Selbstporträt mit der Kamera seines Telefons zu schiessen. Wenn schon seine Wahrnehmung zerrüttet war, so wäre doch die Technik sicher unbestechlich und präzise. Also hielt er möglichst unauffällig und beiläufig das Telefon vor sein Gesicht und schoss ein Bild. Er wagte es zunächst kaum, auf dem Display das Ergebnis zu betrachten. Kniff ein Auge zu und blinzelte vorsichtig, wie bei einer entsetzlichen Szene im Horrorfilm, auf das Ergebnis: „Auf diesem Foto konnten keine Gesichter erkannt werden!“ Das war der Beweis. Die Technik log ja nicht, der Algorithmus war sicher nicht psychotisch und von Halluzinationen geplagt. Er war Gesichtslos. Es war geschehen. Auch ihn hatte es erwischt. Wie all die anderen, die jeden Morgen mit ihm, ohne Gesicht und auch nur winzige Spuren eines eigenen Lebens, in der Ubahn saßen. Verdammt. Er war jetzt einer von ihnen. Von allen diesen Menschen, dort draußen.

KURZROMAN 50:

 

Er hatte den Jahreszeiten immer misstraut. Vor allem dem Herbst, mit seiner ekelhaft spektakulären Farbpracht. Das war doch nur Schau. Ein paar Tage groß und imposant tun, um danach als träge schlechtgelauntes Wetter, grau und nasskalt, bei höchstens 6 Grad, ganz billig durchs Jahr zu faulenzen. Für wirklich lange Zeit. Reiner Trickbetrug und eine flache Durchhalteparole bis zum Frühsommer. Aus diesem Grund begrüsste er jeden ihm zu Ohren kommenden Novembersuizid als ehrliche Sache. Wie konnte man sich so sicher sein, dass die Sonne und mit ihr das Leben, einfach immer wieder aufs Neue zurückkam? Was, wenn einfach alles immer so grau und farbtot bliebe? Und so stand er oft tagelang hasserfüllt im Garten und erfreute sich am kollektiven Untergang des Lebens um ihn herum.

Er war im Grunde ein unverbesserlicher Optimist.

Kurzroman 49 „Das Fingerproblem“

Er saß in einem Straßencafe. Die vor Minuten noch strahlende Sonne hatte sich inzwischen matt hinter grauen Hausdächern versteckt. Im Grunde eine ekelhaft gewöhnliche Alltagssituation. Touris, Lärm, schlechter Kaffee, Wasser und das Mobiltelefon in seiner Hand. Nur schnell ein paar Nachrichten tippen. Sein Tunnelblick starrte auf das Display, seine dunklen, dürren, langen Finger begannen langsam zu schmerzen. Aber es gelang ihm immer schneller zu schreiben. Moment mal: Dunkle Finger? Jetzt nahm er erstmals bewusst wahr, welche Nachricht er da dutzendfach an seine Freunde geschrieben hatte: „Es wird kalt und dunkel draußen, drum krieche ich in dein Schlafzimmer und sauge dich blutleer, wenn du träumst!“
Was war das? Was war in ihn gefahren? Und warum schmerzte seine Hand? Er streckte sie in Gänze aus seinem Jackenärmel hervor: Seltsam haarig war sie, aber alle acht Finger noch dran. Acht? Jetzt sah er es genauer: Anstelle seiner Finger, tippten schwarze Spinnenbeine ungeduldig auf die Tischplatte. Fast unhörbar und ungemein zart-lautig: „Tapp, Tapp, Tapp!“ Der Kellner erschien hinter ihm und fragte ihn über seine linke Schulter, ob er noch etwas wünsche. Ertappt zog der Spinnenfingrige seine Hand schnell in seinen Jackenärmel zurück. „Einen doppelten Sambuca bitte und Streichhölzer!“
Inzwischen hatte seine Hand in der Jacke ein dichtes Netz gesponnen. Die ersten erstaunten Antworten seiner Freunde trudelten auf seinem Smartphone ein. Er wagte es kaum, nach seiner anderen Hand zu schauen, denn er war sich sicher, flüchtig den Schatten einer Krebsschere wahrgenommen zu haben. Immerhin gelang es ihm mit dieser Zangenhand noch mühsam, den Sambuca über die Spinnenhand zu schütten und anzuzünden.
Niemand nahm im Cafe davon Notiz und seinem Kellner war dies alles inzwischen auch egal. Denn er war eine Seeschlange geworden und die waren für ihre Gleichgültigkeit bekannt. Heute war seltsam. Solche Tage gab es halt immer mal. Einfach nichts draus machen. Keine große Sache im Grunde.

Kurzroman 48: Der Wolkenbeschimpfer

Der Wolkenbeschimpfer.

Er saß ganz entspannt in seinem großen Plastikstuhl, mit dem Rücken zum Meer. Der gegenüberliegende Leuchtturm warf am Nachmittag nun einen sehr langen Schatten, wie eine riesige Sonnenuhr inmitten der kargen Landschaft. Die Bar war alt, etwas heruntergekommen, klein, aber sehr liebenswert. Carlo saß jeden Tag hier. Irgendwann. Und trank sein Bier. Oder auch einen Kaffee mit Schnaps. Er war alt, wie alt konnte man gar nicht sagen, denn sein Gesicht war von der Sonne ledrig gegerbt, das war hier so üblich bei Fischern. Oder alten Surfern.

Sein Körper war sehr hager, fast jugendlich geschmeidig. So saß er auf einem angewinkelten Bein, fast wie ein fröhliches neunjähriges Ballettmädchen. Das hielt ihn wohl in Spannung, aber auch davon ab, nervös mit beiden Füßen zu wippen. Sein Haar unter der verblichenen Kappe war weiß, aber voll. Carlo konnte Siebzig sein, aber auch erst Fünfzig. Sein wahres Alter war wohl im Laufe der Zeit vom hier ständig wehenden, warmen Wind einfach über das Meer geblasen worden und für immer verschwunden.

Die Sonne, die Sonne, endlich!“, sagte er zu mir gewandt und leerte die kleine grüne Bierflasche in seiner Hand. „Sie ist wieder da, nachdem es den ganzen Morgen bedeckt war, diese scheiß Wolken!“ Dabei spuckte er verächtlich auf den Bürgersteig vor der Bar.

Ich hab aber alles dafür getan, dass sie wieder verschwinden und siehst du: Da ist sie wieder, die erhabene Sonne, meine Freundin!“

Carlo hatte die Angewohnheit im Handumdrehen pathetisch werden zu können. Er überhöhte fast alles. Der ganze Alltag konnte in seinen Worten erhaben sein. Oft wurde er auch laut, redete sich über irgendetwas in Rage, meist Politik. Dann verfiel er rasch in seinen Dialekt und sprach immer schneller, sodass man ihn kaum noch verstand. Er brauchte grundsätzlich bei jedem Thema der Weltgeschichte vielleicht fünf Minuten, um eine Revolution auszurufen, die Reichen an die Wand zu stellen und alles Geld unter den Armen, also auch ihm, zu verteilen. Er hatte da dutzende, sehr einfache und gewalttätige Pläne. Das war der Punkt, an dem sich die meisten Stammgäste immer etwas zur Seite drehten, um nicht antworten zu müssen. Auf die immer gleichen Fragen der ewigen Weltrevolution.

Doch heute ging es ihm nur um das Wetter. Besser gesagt die Sonne. Noch genauer: Diese verdammten Wolken!

Die kommen fast immer von Nordwesten und bringen nichts Gutes! Da liegt Amerika, die Wurzel allen Übels!“, dessen war er sich sehr sicher.

Ich habe die Wolken schon als Kind gehasst, immer! Ich weiß, sie bringen den Regen und das Wasser, aber ich bin kein Bauer, ich esse fast nichts, außer Fisch und der lebt im Meer. Ich trinke auch kein verfluchtes Wasser, der Teufel soll mich holen!“, er bekreuzigte sich rasch drei Mal und lachte. Überhaupt schmunzelten und blitzten seine Augen eigentlich immer. Egal wie aggressiv seine Rede gerade war, wie sehr er sich auch immer aufregte, da waren stets diese schmalen, listigen, jungenhaften grauen Augen. Sie signalisierten in einem fort, dass er sich selbst am wenigsten von allen Ernst nahm.

Ich habe den ganzen morgen vorne am Hafen gesessen, an der Mole und gemacht, das die Wolken wieder verschwinden. Ich finde dafür habe ich ein Bier verdient, oder?“

Er lächelte mir auffordernd zu. Dabei zeigte er unbefangen sein eher lückenhaftes Gebiss.

Also orderte ich bei der Kellnerin noch ein Fläschchen Tropical für ihn. Zufrieden grinsend rückte er langsam mit seinem Stuhl näher an mich heran. Dabei sah er sich sachte nach hinten zum Meer um. „Die Wolken und ich, weißt du, wir sind im Krieg, schon immer. Ich liebe die Sonne, ich liebe das Licht und die Farben. Vom frühen Morgen, wenn sie noch zart und rosig durch blaugrünen Dunst hier hochsteigt, über die Wüste schleicht und die Schatten weich und lang ins Land tasten. Dann wandert sie, immer schneller, wird richtig wach, als wenn sie einen ersten Kaffee hatte. Alles wird deutlicher, die Farben intensiver, es wird wärmer, bis sie Mittags fast senkrecht über meiner Kappe steht. Blau ist das Licht dann, scharf und man muss sich hinlegen und schlafen. Das ist gut so. Schließlich sinkt sie wieder und macht alles immer wärmer. Das ist fantastisch. Man steht wieder auf, geht in die Bar und fängt an richtig zu trinken. Bis sie wieder hier hinter dem Leuchtturm verschwindet, im Ozean und alles in Pflaumenlicht taucht. Kennst du das? Es ist wirklich wie eine Pflaume. So violett und blau wie die Schale und gleichzeitig warm und gelblich-ockerfarben, wie das Fruchtfleisch. Mit einem winzigen Hauch Grün.“

Beim Stichwort grün erinnerte er sich an die kleine grüne Bierflasche in seiner Hand und setzte sie gierig an, um sie in einem Zug zu leeren.

Und weil das so ist und ich die Sonne so liebe, kämpfe ich hier gegen die Wolken. Nicht die kleinen, weißen Wölkchen, nein die sind hübsch, wie kleine weiße Kätzchen. Die geben dem Himmel Konturen und Leben, sie bewegen sich, machen schnell wandernde Schatten über den Bergen. Das ist besser als jedes Kino. Und immer anders. Sie erzählen dir auch nie wie im Fernsehen die ewig gleichen Geschichten. Nein. Aber ihre Eltern, diese erwachsenen Wolkenbänder, diese Heere des Grau und des Dunkel, diese Ritter des Bösen, die hasse ich!“

Wieder spuckte er in großer Geste verächtlich auf den Boden. So, als wenn alle kommenden Tiefdruckgebiete es hören könnten und als Warnung verstehen sollten:

Hier saß Carlo, ihr Feind, stets bereit gegen sie zu kämpfen.

Und was willst du dagegen machen?“, fragte ich fast ketzerisch.

Ha! Ich verjage sie! Löse sie auf. Sie ziehen ganz schnell weiter, wenn ich nur erst mal anfange! Das kannst du mir glauben! Ich habe da so meine Methode. Die habe ich lange ausprobiert und immer weiter verbessert. Es ist mein Geheimnis. Wenn ich nur wollte,ach ich könnte sehr reich damit werden. Überlege doch mal: Da wo du her kommst, da gibt es doch fast nichts anderes. Nur Wolken! Ich war mal da. In Hamburg. Drei Tage. Grauenhaft! Wirklich. Alles grau. Ihr könntet damit handeln, Wolken einfangen und an Wüstenscheichs verkaufen, wenn ihr nur schlau genug wäret. Am zweiten Tag in Hamburg, habe ich mich an den Hafen gestellt, oben, hinter den Nutten, dieser kleine Berg und hab angefangen die Wolken zu vertreiben. Nach einer Stunde war die Sonne da und alle hatten auf einmal wieder lebendige Gesichter und lachten. Aber am nächsten Tag war alles wieder voll mit diesen Wolken. Man kommt ja gar nicht mehr hinterher, das ist ja bei euch die reinste Sisyphusarbeit, schrecklich. Ich bin dann gleich wieder weg. Nichts für mich. Nur schuften und schuften, für ein kleines bisschen Sonne, nein!“

Er leckte sich die inzwischen trockenen Lippen, beugte sich verschwörerisch zu mir rüber und flüsterte: „Willste wissen wie ich es genau mache? Willste es wirklich wissen?“

Noch ein Bier für Carlo!“, rief ich der Kellnerin zu. Die Entschlüsselung eines solchen Weltgeheimnisses, das war mir ein weiteres, billiges Bier wert.

Ich beschimpfe sie, die Wolken!“, flüsterte er.

Du beschimpfst sie?“, fragte ich ungläubig und fühlte mich etwas verarscht.

Ja, er beschimpft sie tatsächlich“, sagte die Kellnerin, die inzwischen mit dem Bier an unseren Tisch gelangt war. „Ich hab das selbst schon mehrfach erlebt, obwohl er es nicht gerne hat, wenn Leute dabei zuhören. Aber ich bin sowas wie seine Nichte, mich hat er schon als kleines Mädchen manchmal mitgenommen und zuhören lassen, wenn er mit den Wolken sprach. Zu den kleinen Wolken ist er ganz zärtlich, fast wie ein Vater, aber wehe es kommen die großen, dunklen Wolken oder gar ein Gewitter! Dann geht es los, man weiß manchmal gar nicht, wer lauter ist, Carlo oder der Donner!“

Carlo lächelte zufrieden, lehnte sich zurück, prostete mir zu und nahm einen tiefen Schluck. „Ich beschimpfe sie nicht einfach nur so. Wenn du dich jetzt dort hinstellen würdest und anfingst zu fluchen und zu wettern, sie würden dich nur auslachen, die Wolken. Dich verhöhnen und dich kurz einregnen, bis du wie ein begossener Pudel nach Hause schleichst. Nein, dazu gehört schon mehr. Ich habe sie in all den Jahren belauscht, ihnen heimlich zugehört, ich kenne ihre Ängste und Schwächen. Ich weiß, wo ich sie packen kann. Man braucht ein Gefühl dafür. Keine Wolke ist wie die andere. Du musst sie beobachten, langsam auf dich zutreiben lassen und vor allem keine Angst zeigen. Du musst sie mit klarem Blick ansehen, Stärke zeigen. Das ist nichts für Feiglinge!“

Ich lachte kurz auf, schüttelte den Kopf und nippte an meinem Kaffee.

Lach nicht, das ist eine ernste Sache! Komm näher, ich werde dir jetzt mal ein paar Beispiele geben und dir sagen, womit man den Wolken kommen kann. Ich mag dich, du bist eine ehrliche Haut. Ich werde immer älter, eines Tages werde ich das nicht mehr machen können, dann muss jemand anderes dafür sorgen, das hier immer die Sonne scheint. Es muss ja weiter gehen. Niemand ist unersätzlich!“

Mit diesen Worten rückte er verschwörerischen und ernsten Blickes immer näher und gebot mir, mein Ohr zur Verfügung zu stellen.

Ich habe irgendwann nicht mehr alles genau mitbekommen, weil er sich wieder in Rage flüsterte, aber das was ich verstand, ließ mein süffisantes Lachen verstummen. Es klang alles ganz einleuchtend, sogar beeindruckend. Ich würde solche Worte an Stelle der Wolken auch nicht über mich ergehen lassen wollen. Ich kann und will das jetzt hier nicht weitergeben. Es ist mitunter sogar sehr grauenvoll. Außerdem habe ich absolutes Stillschweigen darüber schwören müssen.

In jedem Fall lachte ich ab diesem Tag nur noch mit und keinesfalls mehr über ihn. Voller Respekt war ihm ein Bier von mir am Tag sicher, denn er sorgte für unsere Sonnensicherheit. Das war mir seither klar. Und ich beneidete sie wirklich nicht, wenn ich sie aus der Ferne aufziehen sah, die dunklen Wolkenbänder, wie sie keck in unsere Richtung zogen. Nichtsahnend.

Ich wusste, er würde schon an der Mole auf sie warten, hasserfüllt, wortgewaltig und grausam:

Carlo, der Wolkenbeschimpfer.

KURZROMAN 47: DIE HEROINE

Seit wann das genau so war, konnte sie gar nicht sagen. Es musste sich irgendwie eingeschlichen haben. Vielleicht war es auch einfach in der Nacht über sie gekommen. Und das gänzlich ohne spektakulären Grund. Kein Biss einer radioaktiven Spinne, nicht einmal ein unheimlicher Selbstversuch im heimischen Kellerlabor. Sie war nicht von den Sternen herunter auf die Erde gefallen, sondern ganz normal, als Tochter ihrer bürgerlichen Eltern, ordnungsgemäß im Krankenhaus entbunden worden. Soweit man sich dessen im Nachhinein eben sicher sein kann. Ihre hervorstechendste Eigenschaft war bislang ihre sehr aufrichtige Durchschnittlichkeit gewesen. Im Grunde mochte sie ihr Leben soweit. Es war wirklich nichts Besonderes, aber es fehlte ihr auch an nichts.

Und nun das. Sie konnte alles. Wirklich alles. Es gab nichts mehr, was sie nicht konnte. Einfach so. Sie war eine wahrhaftige Superheldin geworden. Kein anderer Begriff wäre zutreffender. Sie konnte zum Beispiel fliegen, wenn sie nur wollte. Sie hatte das einmal im abgelegenen Teil eines großen Parks in ihrer Stadt ausprobiert. Und sie flog perfekt, als hätte sie nie etwas anderes getan. Eines Nachts ist sie sogar einmal heimlich zum Mond geflogen. Als ihr Mann schon schlief. Das war aufregend. Interessant. Irgendwie auch verwirrend. Aber mit wem sollte sie darüber reden? Deshalb erschien es ihr nutzlos.

Dann und wann erprobte sie immer mal wieder die ein oder andere Eigenschaft. Stets im Verborgenen. Doch egal, was sie auch ausprobierte, es gelang ihr sofort. Sie konnte zum Beispiel tonnenschwere LKWs mühelos anheben. Sie las die Gedanken ihrer Kolleginnen im Büro. Das hatte ihr zunächst sogar noch Spaß gemacht, weil man es heimlich durchführte, diskret. Aber mit der Zeit wurde es entweder sehr fade, weil zwischenmenschliche Kontakte keinerlei Überraschungen mehr bargen oder mitunter sogar unappetitlich. Diese ganzen Wahrheiten und Diskrepanzen zwischen Gedachtem und Gesagtem. Unangenehm.

Also versuchte sie es gar nicht erst mehr. Ihre allwöchentliche Joggingstrecke von 7 km Länge hatte sie einmal in nur zehn Sekunden zurückgelegt. Ohne außer Atem zu geraten. Das war seltsam aber auch sehr unbefriedigend. Unverletzlich war sie ebenfalls geworden. Sie konnte sich mit dem scharfen Küchenmesser beliebig oft in den Finger schneiden. Ohne Folgen. Kein Tropfen Blut, nichts!

Neulich dachte sie über Zeitreisen nach, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, nachdem sie nur kurz einmal im Kreißsaal bei ihrer Geburt vorbeigeschaut hatte. Was sollte sie nur mit all diesen Fähigkeiten anfangen? Sie hatte schließlich nie darum gebeten.

Man könnte sich natürlich in den Dienst der Menschheit stellen, Gutes tun, das Böse und Ungerechtigkeiten bekämpfen. Wie diese anderen, aber natürlich nur ausgedachten Superhelden in den Comics. Das war der Unterschied zu einer reinen Fiktion, einer Sehnsucht eines Zeichners, der sich in andere Welten träumt, diese gestaltet, zu Papier bringt und sich eine heroische Aufgabe sucht. Weil er sicher selbst das genaue Gegenteil davon war. Oder, weil es Geld einbrachte. Diese Geschichten brauchten selbstverständlich einen Sinn. Einen logischen Anfang, eine triftige, überhöhte Ursache und dann einen Plot, eine sich fortsetzende Geschichte, in abertausenden Varianten immer das Gleiche erzählend. Diesen, ja immer nur erdachten Wahnsinn, für die Menschen erklärbar und damit Alltagstauglich und ungefährlich machen.

Aber sie hatte sich das nicht ausgedacht. Es war einfach Realität. Sie verfügte über jede nur denkbare Superkraft. Der Traum vieler. Aber nicht ihrer. Warum war das so? Die unzähligen Comics waren ihr Warnung genug: Ein normales Leben war nur noch unter größten Mühen, perfekter Tarnung oder auch gar nicht mehr möglich. Sie wollte nicht auf irgendeinem Planeten einsam wohnen müssen oder in einer Totenkopfhöhle im Dschungel hausen. Eine Superheldin zu sein, das war in etwas so lästig, wie mit einem großen Lotteriegewinn in der Zeitung zu stehen. Das alte Leben wäre auf der Stelle beendet. Man würde sie einsperren wollen, denn man wusste ja, dass es Superhelden nicht gibt. Das war die unumstößliche Grundbedingung dieses Narrativ. Reine Fiktion. Und wer das Gegenteil behauptete und sogar unter Beweis stellen konnte, der würde gehetzt werden. Eine Anomalie des Universums, die sofort Hass und Neid auf sich ziehen würde. Man müsste sich dann wehren, Leuten weh tun, fliehen und einsam leben. Das wollte sie auf gar keinen Fall.

Wie würde ihr Mann reagieren? Frank war sicher kein Held, eher ein ganz durchschnittlicher, im Grunde aber liebenswerter Typ. Er hasste es schon, wenn sie ihn früher, an einem Sonntag, einmal knapp im Minigolf besiegt hatte. Wie würde er erst reagieren, wenn er wüsste, dass sie ihm auf jedem erdenklichen Feld völlig überlegen ist? Das wäre das Ende der Ehe. Und sie wollten ja zusammen Kinder haben. Ein normales Leben leben. Wie alle anderen. Ohne große Aufregung.

Vielleicht würden diese Superkräfte eines Tages genau so wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht waren. Das wäre ihr am liebsten. Es war zwar ganz schön zu wissen fliegen zu können, wenn man denn nur wollte. Aber deshalb musste man es ja nicht laufend wirklich machen oder gar öffentlich zur Schau stellen. Also beschloß sie, darüber weiterhin Stillschweigen zu bewahren und Situationen tunlichst zu vermeiden, in denen sie gezwungen sein könnte, zum Beispiel Röntgenstrahlen aus ihren Augen zu verschießen. Oder eine Flamme nur mit dem Schnipsen eines Fingers auflodern zu lassen.

Und so gewöhnte sie es sich an, ihr Licht systematisch unter den Scheffel zu stellen, sich klein zu machen und möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Einfach nur leben. Unauffällig. Den Männern und Menschen beim Aufplustern zusehen, beim Wettkampf, bei der Verdrängung anderer, beim Angeben und immer auch beim Scheitern.

Sie würde sich nur dann und wann ein wissendes Lächeln gönnen. Und still hoffen, eines Tages nicht, von spontaner Begeisterung getrieben und dämlicher Unachtsamkeit umnachtet, die Bürowände hoch zulaufen, schließlich an der Decke klebend auf alles herunterzusehen und zu brüllen:

„Scheiß auf die Superkräfte!“

 

 

 

 

 

KURZROMAN 46: DER DIEB

Er war sehr geschickt, denn man bemerkte zunächst fast nichts. Bis heute weiß niemand, wie er es genau anstellt. Es musste einen Trick geben, eine fiese List oder irgendeine Schwachstelle im Hirn. In jedem Falle stahl er so ziemlich alles, was ihm gefiel. Nahm es mit, entfernte gründlich alle Spuren, bis nichts mehr an seine Beute erinnerte. Niemand war vor ihm sicher. Er schlich sich irgendwie an oder besser gesagt ein. In unzähligen Köpfen griff er zielsicher mit kalter Gedankenhand zu.

Bei sich zu Hause musste er all das dann irgendwie horten. Lagern. Stapeln. Vielleicht katalogisierte er sorgfältig und räumte es griffbereit ein oder er warf es einfach übereinander. Man wusste es nicht. Sicher war einzig und allein, dass er nur die schönen Erinnerungen stahl. Emotionale Dinge. Tiefe Gefühle. Seien es Tränenmeere oder Gelächterseen. Flüsse plumper Freuden oder Strände voller Sentiment. Egal ob winzig klein, als riesige Menge Gedankensand funkelnd oder als kitschige, riesige Gedankenfeuerwerke.

Im Grunde war er nicht wählerisch, solange herrliche Emotionen aus dem Diebesgut tropften. Niemals stahl er Geheimzahlen, Pincodes, Kontonummern oder Adressen, Namen, Geburtstage. Das wäre viel zu auffällig. Und auch nutzlos. Er wollte kein Geld. Er begehrte Gefühle.

Die Bestohlenen waren oft lange ahnungslos. Sie schlenderten weiter durch ihr Dasein, funktionierten im Grunde so einwandfrei wie unauffällig. Einzig dann und wann, wenn man zum Beispiel einen alten Freund traf und Anekdoten auf den Tisch kamen, dachten die Opfer mitunter wirklich angestrengt nach. Aber so sehr sie auch aufs Hirn drückten oder ihre Seele wrangen, da war nichts mehr. Keine Erinnerung. Vor allem kein Gefühl. Erste Küsse oder Räusche? Weg! Nichts! Auch die Trauer, einfach entwendet! Die lang verstorbene Großmutter? Ein leerer Grabstein ohne Namen. Nur noch Grau.

Das irritierte einige zunächst ein wenig, man gab schnell dem Alltag die Schuld.

„Vielleicht ist das so, wenn man erwachsen wird…oder älter! Wer weiß das schon?“

Man war ja schließlich zum ersten Mal erwachsen oder alt. Mit wem sollte man auch darüber reden und gar gestehen, nichts mehr zu fühlen?

Und der Dieb? Er quetschte die Emotionen aus den schönen Erinnerungen und ließ sie sich verschwenderisch in den Mund rinnen. Danach warf er sie weg wie leere Orangenschalen. Achtlos, wenn nicht sogar verächtlich. In der Melancholie, Trauer oder Verzweiflung anderer, da wälzte er sich nackt wie ein Wildschwein in seiner Suhle. Ungestüm. Ekstatisch.

Er selbst mochte keine emotionalen Lebenssituationen. Er schätzte die unaufgeregte Gleichförmigkeit. Gefühle, das hieß auch immer beteiligt sein. Verantwortung. Unruhe. Chaos. Andere Menschen im eigenen Leben, mit Begierden, Forderungen oder sogar Liebe. Das war ihm fremd. Es stieß ihn sogar ab.

Nach seinen Bädern in den gestohlenen Emotionen anderer Menschen, beruhigte er sich meist recht schnell, reinigte sich sehr gründlich, zog sich wieder sorgfältig an, tat unbeteiligt und verschwand unbemerkt in der Menschenmenge.

Niemand weiß wie er aussieht. Aber es gibt ihn. Vielleicht sitzt er gerade jetzt unmittelbar in der Nähe des Lesers. Unauffällig lauernd.

Der Dieb der schönen Erinnerungen.

KURZROMAN 45: DIESER MANN LIEBTE EIN GEBOT

Es hatte ja so kommen müssen. Eines Tages. Menschen. Ahnungslose Ignoranten. Sie würden nie begreifen können, was das alles wirklich für ihn bedeutete. Sie sahen immer nur die Oberfläche. Für sie hatte er einfach nur einfach herum gestanden. Wenn sie ihn überhaupt je bemerkt hatten. Jetzt, da er hier sterbend in seinem Blute lag, eine Hand auf seinem aufgeplatzten Leib, starren Blickes. Ja, da waren sie voller kopfschüttelnder Vorwürfe.

Wie das alles angefangen hatte? Er wusste es selbst nicht mehr so genau. Es muss ein schleichender Prozess gewesen sein. Eine Idee, auf langen Fahrten über einsame Landstraßen geboren, ein Gedanke, der sich in sein Hirn gefressen hatte, wie ein exotischer Wurm. Es war ja auch egal. Musste es immer den einen konkreten Grund geben für alles? Den ultimativen Auslöser, den man präzise benennen konnte, der alles erklärlich machte und die Welt wieder ordnete, wie ein ordentlicher Sonntagskrimi?

In jedem Fall hatte er sich irgendwann selbst an den Rand einer Bundesstraße gestellt. Erst noch scheu, verborgen, von den Ästen eines Baumes halb verdeckt, in einer langgezogenen Kurve, die es vorbeifahrenden Autos unmöglich machte anzuhalten.

Was wusste er denn damals auch schon? Er war ein Anfänger. Er hatte alles improvisiert, so gut er konnte. Aufgeregt war er, sicherlich, aber das legte sich nach einigen Stunden. Die Füße taten ihm zwar weh, es war alles ungewohnt, kalt und zugig. Zwischendurch hatte ihn ein Regenschauer völlig durchnässt. Aber er hatte es durchgezogen. War einfach dort stehen geblieben und hatte trotz allen Unbills irgendwann etwas gespürt. Diese Mischung aus tiefer Ruhe, Verantwortung und Ernsthaftigkeit. Alles hatte irgendwie endlich einen Sinn.

Abends war er dann erschöpft aber glücklich Heim gefahren und hatte sofort beschlossen, dass es das jetzt sein würde. Ob für den Rest seines Lebens, das wusste er noch nicht. Das war auch egal. Er hatte jetzt etwas sehr schönes gefunden, nur für sich ganz alleine. Niemand würde es ihm streitig machen wollen. Da war er sehr sicher. Wenn er nur umsichtig wäre und niemanden zu Schaden kommen ließe. Im Gegenteil. Im Grunde versah er ja eine wichtige Aufgabe. Für alle Menschen. Im Verborgenen zwar, aber das machte es erst recht toll.

Über die Jahre hatte er seine Ausstattung immer weiter verbessert, er fror jetzt nur noch selten. Bevor seine Füße schmerzen konnten, wechselte er die Position oder gänzlich den Standort. Er hatte seinen eigenen Rhythmus entwickelt, gelernt auf sich zu hören, sich zu spüren, seine Bedürfnisse ernst zu nehmen. Er stand selten an zwei aufeinander folgenden Tagen an der gleichen Stelle. Bevor er sich langweilen konnte, weil er die Landschaft links und rechts von ihm mit seinen Augen leer gepflückt hatte, zog es ihn woanders hin.

Über die Jahre war er schon nahezu alles gewesen. In jeder erdenklichen Form. Aber immer war er ein Verbot. Irgendwie war ihm das wichtig. Er wollte ein ordnendes Element sein, eine Einschränkung, eine Grenze. Das gab ihm selbst den nötigen Halt.

Dann kam der Tag, da entwickelte er langsam ein Gefühl. Erst sehr scheu und sachte, wie die Vögel, die sich manchmal im Frühling vorsichtig auf ihn setzten und sangen. Aber schließlich überwältigte ihn diese warme Emotion immer mehr und er wich von seiner Routine Zusehens ab. Er stand nun tagelang immer an der gleichen Landstraße und beobachtete sie. Er war sich sehr sicher, dass sie eine sie war. Inzwischen hatte er für Schilder ein gutes Gefühl bekommen. Ein wunderschönes, rundes Schild, das ein Überholverbot aufhob. Ab ihrem Standort durfte man wieder Gas geben und loslegen. Sie gewährte Freiheit. Das machte sie so guten, reinen Herzens, einfach nur völlig positiv. Sie gab etwas. Von sich, für alle anderen. Ausnahmslos. Das war großherzig und gefiel ihm.

Und so rückte er von Tag zu Tag näher an sie heran, unterschritt dabei verbotenerweise den Mindestabstand zwischen ihnen und wurde dadurch zu einer Gefahr. Ohne es zu bemerken. Denn der Gesetzgeber hatte sich sicher etwas dabei gedacht. Abstand musste sein.

Es war ihm egal. Er war fast besessen von ihr. Er vergaß alle Vorsicht und all die selbst aufgestellten Regeln, die ihn über Jahre vor vielem bewahrt hatten. Nie hätte er vorher bei diesem dichten Nebel und leichtem Bodenfrost, im dunkeln an so einer Stelle verharrt. Niemals. Er wusste, wie gefährlich es dort draußen sein konnte. Aber er hatte ihr nahe sein wollen, sie beschützen und sie im Auge behalten, an diesem unangenehmen Tag.

Dann geschah das Unvermeidliche. Lichter flammten auf, zwei Autos rasten nebeneinander, eines verlor den Halt auf der rutschigen Straße, begann sich zu drehen, schleuderte immer mehr und schoss quer über die Fahrbahn hinaus, mähte einen Pfeiler um und traf ihn mit voller Wucht. Es schmerzte kurz, dann wurde es auch schon dunkel und dumpf um ihn.

Nun lag er da, Menschen standen im Kreis über ihm, einer kniete und redete auf ihn ein, drückte immer wieder auf seine Brust. Man tuschelte, mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen, einige wandten sich kopfschüttelnd ab. Blaues Licht blitze von weit hinten durch Nebelfetzen und Baumsilhouetten. Er drehte seinen schmerzenden Kopf ganz langsam zur Seite und schaute in ihre Richtung. Sie stand noch dort. Unversehrt. Vollständig. In ganzer Pracht gestattete sie weiterhin das Überholen. Das erfüllte ihn mit wärmendem Stolz. Es hatte alles einen Sinn gehabt. Sein ganzes Leben, für diesen einen perfekten Augenblick.

Es war sein Moment. Oder ihrer? Er war sich sicher, dass auch sie ihn ansah, soweit ihr derartiges überhaupt möglich war. Aber er fühlte es. Wenn nicht Liebe, so war da doch Dankbarkeit. Niemand würde ihm das Gefühl nehmen können. Niemand. Sollten sie doch lachen, den Kopf schütteln oder einfach nur darüber entsetzt sein. Das da ein erwachsener Mann lag. Zerfetzt. Dem Tode geweiht. Blutig und zitternd, dabei verkleidet als ein lebensgroßes Verkehrsschild.

Sein zerschmetterter Kopf hinter einem großen roten Kreis, sorgfältig gezogen um ein rundes weißes Feld. Darin: 90 km/h

Das war im Grunde immer seine Paraderolle gewesen. Er hatte sich über die Jahre auch als nahezu alle anderen Verbote verkleidet, doch die Geschwindigkeitsbegrenzung auf neunzig Stundenkilometer, das war im Grunde er.

Um so schöner, dass er genau dieses Schild an so einem wichtigen Tag wie heute trug. Sollte die Welt doch über ihn denken, was sie wollte.

Das andere Leben. Das Richtige.

Das andere Leben. Das Richtige.

Ich hatte mir für uns ein ganz anderes Leben vorgestellt. Eher so ein richtiges. Mit guten Anzügen, schönen Kleidern, viel Wind im Haar. Ein Dasein im steten Gegenlicht der Sonne, die hinter unseren Köpfen über die Ränder der großen Sonnenbrillen hervorlugt. Fotos von uns sollte es nur in weichen Farben geben. Viel Weiß und Cremefarbene Eleganz. Das Meer vor dem Auge, unverschämtes Azur und Ruhm, der fast beiläufig von überall auf uns herabtropft. Leichtigkeit, sehr viel Leichtigkeit. Allenfalls bisweilen etwas Sodbrennen vom Rose Champagner, wenn er wieder eine Spur zu wenig kalt war. Kleine Risse an den Rändern der Nasenflügel vom Kokain. Sonst keine Hindernisse. Trotzdem gute Menschen. Verdammt gut. Hassenswert gut. Das hätten alle gesagt.

So hatte ich mir das vorgestellt und dir auch versprochen. Es tut mir Leid. Wir wollten von meinen Worten leben. So war der Plan. Ich hätte sie nur hervorwürgen müssen, wie früher jeden Tag. Einfach so. Wir hätten sie abgefüllt wie Goldstaub und in Bücher verpackt. Alles wäre so gewesen, wie du es verdient gehabt hättest. Ich hab es verkackt. Du hast mir geglaubt. Immer. Ich mir auch. Zunächst.

Stattdessen leben wir davon, dass du Dinge verkaufst. Belanglosigkeiten. Wenn du noch Fisch verkaufen müsstest. Oder Würste. Irgendetwas nützliches. Nein. Du verkaufst irgendwo den ganzen Tag Leere und dazu frei Haus dein langsam abblätterndes Lächeln. Für wenig Geld. An Menschen, denen ich im Grunde nicht einmal gestatten würde, dich auch nur flüchtig anzusehen. Geschweige denn eines ihrer modrigen Worte an dich zu richten. Alltag. Flachheiten, die dich jeden Tag mehr und mehr abschleifen. Wie ein abgegriffenes Marmorgeländer in einem alten Bahnhof. Unter den schmutzigen Händen unzähliger Scheusale, verlorst du deinen hellen, alabastrigen Blick. Ich wollte nie etwas anderes sehen, außer deine Augen, deine Brüste, deine Hände und dein Haar.

Du glaubst immer noch an meine Worte. Das wir sie eines Tages verkaufen können. Weil es Recht wäre. Ich weiß hingegen, dass das nie geschehen wird. Die Worte gerinnen mir in den Fingern. Sie sind sauer geworden. Flockig und trüb. Ich schäme mich vor dir. Ich schaue dir kaum noch in die Augen. Stattdessen starre ich auf die Hintern anderer Frauen. Nur um dich nicht ansehen zu müssen. Nur um nicht ins Leben zu sehen zu müssen. Dieses völlig Falsche. Dieser Irrtum, in den wir irgendwie hineingeraten sind. Dieses erdiges Leben, dass im Grunde für andere Menschen bestimmt war, es macht uns Schmutzränder unter den Fingern. Grünlich-Schwarze. Und lässt unsere Seelen faulen vor Langeweile. Wenn es so etwas wirklich gibt. In einem. Seele. Wenn wir denn noch welche besäßen. Vielleicht hast du sie schon heimlich verkaufen müssen. Ich fühle das nicht mehr. Ich fühle weder dich noch mich. Gar nichts. Ich bin stumm. Taub. Etwas Ekel vielleicht noch. Ich erkalte völlig.

Aber das wird nun alles anders. Ich verspreche es dir. Morgen schon. Ich besitze jetzt eine Waffe. Prall gefüllt mit Kugeln. Frag nicht. Ich habe es gut abgewogen. Es ist das Richtige. Gleich morgen gehe ich aus dem Haus. Irgendwann danach hole ich dich anschließend da raus, wo dich das falsche Leben den ganzen Tag gefangen hält. Wenn der Stahl in meiner Hand nicht mehr kalt ist, sondern heiß geworden. Dann werde ich so weit sein. Mit jedem Projektil werde ich einen unserer Wünsche zurückholen. Du wirst sehen. Vertrau mir noch dieses eine Mal. Warte einfach auf der Arbeit auf mich. Morgen gehen wir weg. Mach dich schön. Ich will das du so schön wie früher bist, wenn wir endlich ankommen. Dorthin, wo wir immer hätten sein sollen. Wirklich.

„Wann und wie wird man eigentlich genau verrückt?“

Los kommt schon! Scheißt ihn endlich voll!“

Ich schlenderte am winterlichen Rheinufer entlang, als diese Worte mein Gehirn erreichten. Der Wind schnitt nicht nur kalt, nein, er ritzte schon fast schmerzhaft im Gesicht. Wie sonst nur traurige sechzehnjährige Mädchen des Nachts mit Rasierklingen ihre Arme.

Ja.. gut so kommt alle her, Kinderchen und kackt ihn von oben bis unten voll!“

Ich wand mich um und sah direkt ins Gesicht dieses sanft wirkenden Mannes. Er stand lächelnd auf dem weitläufigen gepflasterten Platzes am Fluss und warf unablässig Brotkrumen hoch in die Luft. Unzählige Möwen flatterten um ihn herum, schnappten nach Brot, kreisten, stiegen hoch auf oder stießen wieder auf ihn herab. Er sah mir milde direkt in die Augen während ich mir mit eingezogenem Kopf einen Weg durch schlagende Flügel und Möwen Geschrei bahnte.

Ja, ja, scheißt ihn nur voll!“, rief er erneut in gütigem Tonfall. Als wenn es eine Art Huldigung an mich wäre.

Sein Blick heftete sich an mich und folgte mir, bis ich seine geflügelte Kinderschar hinter mir ließ. Ich vermied es mich erneut umzudrehen.

Wann wird man eigentlich genau verrückt und wie fühlt sich das dann an?“ Diese Fragen kicherten hüpfend und fröhlich durch meinen Kopf. Ist das ein schleichender Prozess? Mit Aussetzern dann und wann? Kleinen Wahrnehmungsfehlern am Montag und winzigen Schnipseln falsch verstandener Worte Donnertags? Oder wachte man eines Morgens auf und war völlig wahnsinnig? Bemerkte man so etwas ganz langsam selbst oder ging einfach die eine Realität nahtlos in eine andere über?

Ich schlenderte weiter in Richtung der frostigen Altstadt, mit eher unbestimmten Ziel und im Grunde sentimentalem Vorsatz. Der Möwenkot-Mann hatte einen alten Gedanken in mir wieder hervorgebracht. Als wenn er im Vorübergehen, nur mit Hilfe seines Blicks und grotesken Worten, zwei Finger in meinen Hals gesteckt hätte, damit ich diese Fragen wieder leichter hervorwürgen konnte.

Denn bisweilen gab es sie ja, diese merkwürdigen Tage, die recht unverdächtig und beschaulich begannen, dann aber einen seltsamen Drall bekamen und dabei sachte abglitten in äußerst dubiose Sphären des blanken Irrsinns. Fast beiläufig, so als ob es gang und gäbe sei, das karierte Nashörner schwerfällig auf Krücken schnaufend, im dritten Stock Pakete für verreiste Nachbarn abgeben wollten.

Das musste mal so kommen, kein Wunder!“, kopfschüttelnd zog die ältere Frau ihre Haustür hinter sich zu und hantierte mit ihrem Schlüssel. Ich hatte mittlerweile eine schmale Gasse ohne Autos erreicht, das Kopfsteinpflaster knirschte feucht unter meinen Schuhen.

Ich habe ihn immer gewarnt, immer und immer wieder habe ich ihm gesagt; Junge sieh da nicht hin! Das ist doch ganz großer Schund, das verdirbt dir nur den Kopf!“

Abwinkend drehte sie sich um, steckte ihren Schlüssel ein und schlich gebeugt die Gasse hinunter. „Immer und immer wieder …aber nein …das hat er jetzt davon!“

Mein Gang trug mich durch kleine Straßen und Plätze, die eher zu meiner Vergangenheit als zum jetzt gehörten. In dieser Stadt, die ihre Dörflichkeit schon im Namen hinter sich herschleppte und mich früher einmal einige Jahre beherbergt hatte.

Im Grunde wollte ich ja eigentlich nur mein Hirn spazieren führen. Es einfach von der Leine lassen, wie einen unausgeglichenen Hund, den es an merkwürdige Ecken, vollgepinkelte Laternen und feuchte Torbögen zog. Immer die Nase voraus. Völlig Impuls getrieben. Ich würde hinterher schlendern, mit Blickkontakt, aber ohne große Strenge. Irgendwann käme das Gehirn schon wieder zurück getrollt. Bei Fuß gehend. Zur Not würde ich einfach laut pfeifen. Auf Pfeifen reagierte es immer. Das Hirnchen.

Also bewegte sich mein Körper weiter. In so eine Art Erinnerungsrundgang. Einzig erinnerte nichts auf diesem Weg an Verbrechen an Filmstars in ihren illustren Villen oder historische Sehenswürdigkeiten von Rang, nein. Alles nur Trigger meiner Vergangenheit. Es war schon ein wenig auffällig, das mich bestimmte Gebäude oder Straßenzüge oft an irgendeine Frau erinnerten. War ein Mann wirklich so eindimensional und vom Unterbewussten gesteuert, das er fast nur Weibern nachhing? Ich spürte, wie sich mein innerer Psycho-Therapeut kichernd räusperte, das Monokel zurechtrückte und beflissen eine weitere der unzähligen Seiten seines imaginären Protokollheftes vollkritzelte.

Mein Gehirn war augenscheinlich ein Rüde, immer auf Witterung längst vergangener Hündinnen.

Und so ist die eigene strukturelle Einfachheit doch oft sehr erschreckend.

Hatte ich nicht noch vorhin die Frage aufgeworfen, wie das nun mit dem Beginn des Wahnsinns sei? Oder wann man endgültig in einen verbotenen Korridor hineinschlich und diese einzige Ausgangstüre krachend ins Schloss fiel? Für immer?

Ich ließ mein läufiges Gehirn weiter durch die Gegend streifen und näherte mich wieder der Erörterung des Alltagsirrsinns.

Nur wenige Menschen kreuzten inzwischen meinen Weg. Es war einfach zu kalt, zu grau und zu unwichtig heute. Ein bedeutungsloser Dienstag. Niemand wollte jetzt Zeit in einer Stadt ohne neue Saison-Ausverkäufe, oder einem betrunkenen Wochenende im Schlepptau, verschwenden. Ich befand mich in einem üblicherweise von Menschen förmlich verseuchten Gelände, das heute einfach mal mit sich alleine sein wollte.

Egal was sie fragen wollen, die Antwort lautet: Nein! Ich will auch gar nicht erst darüber sprechen. Das hat gar keinen Sinn.“

So rief mir der Mann an der Würstchen-Bude des Marktplatzes zu.

Das wird ein hartes Stück Arbeit, das kann ich ihnen sagen“, flüsterte es von hinten.

Ich bräuchte mich erst gar nicht umzudrehen, denn da würde niemand stehen. Diese Stimme kannte ich schon. Die war nie zu sehen. Zwecklos, da hatte der Würstchen-Mann allerdings recht. Schon rief mir mein schwanzwedelndes Hirn aus einiger Entfernung aufgeregt zu:

Hier… hier hast du immer gestanden und gewartet, bis sie Feierabend hatte. Sie hat sich oft darüber wirklich gefreut und gierig viele Zigaretten geraucht. Weißt du noch? Dann bist du mit ihr nach Hause gegangen und ihr habt gefickt! Ich war dabei, ich erinnere mich genau! Und da hinten siehst du? An der Ecke? Da hat früher diese T. gearbeitet. Erinnerst du dich? Sie war sehr groß und bewegte sich langsam und würdevoll. Fast wie eine Aristokratin. Aber im Grunde war sie vor allem sehr unglücklich. Das war schön, irgendwie. Sie hat dich gerne geküsst und danach geweint.“

Mein Hirn war heute sehr geschwätzig. Ich hatte vieles von alledem fast völlig verdrängt, aber dem räudigen Verstand war es wohl sehr wichtig dies noch einmal hervor zu kramen. Wurde man denn nun augenblicklich verrückt, oder gab es immer einen sukzessiven Auflösungsprozess?

Verdammt, er hatte recht, da vorne tauchte langsam die Leuchtreklame dieses großen Modeladens auf. Sofort musste ich an ihren langen weißen Schwanenhals denken. Ob sie dort inzwischen vermodert war, in dem riesigen Laden? Mit Moos und Flechten überzogen, als Statue ihrer selbst, auf langen Beinen durch ihr Reich schreitend, wie eine böse, königliche Stiefmutter?

Mein Hirn hechelte fröhlich voraus und mein Körper lief einfach hinterher, hinein in ihr textiles Fürstentum. Beim Eintritt in den zweistöckigen Laden schlug direkt die Sicherheitsanlage piepend an, doch niemand interessierte sich für mich. Mit schon vor langer Zeit eingeübten Blick erkannte ich rasch ihre Abwesenheit in dem Geschäft. Was mich irgendwie auch beruhigte. Man soll Särge ehemaliger Geliebter nicht nachts heimlich, und nach vielen Jahren, in ihren Grüften öffnen und auf die Skelette starren. Das wäre unschön anzusehen. Reine, seelische Leichenschändung. Sinnlos.

Auf der oberen Etage herrschte weitläufige Einsamkeit. Ein junger Verkäufer strich gelangweilt umher und seine zum Hipster-Hosen-falten lange zu alt gewordene Vorgesetzte, erzählte ihm aus ihrem einstmals jugendlichen Vorleben. Ihr Körper schien der Zeit zu trotzen, doch ihr Gesicht log einfach nicht. Mit geringem Interesse musterte ich die Ware, eigentlich nur noch auf der Suche nach meinem Verstand, dem umherspringenden Köter. Wo hatte er sich versteckt? Ich wollte diese Kathedrale von längst vergessener Vergangenheit möglichst rasch wieder verlassen.

Du kannst mich auch dabei an den Haaren ziehen, hörst du? Von hinten, mit beiden Händen. Sie sind lang genug. Du weißt schon, fest meinen Kopf nach hinten ziehen, um unser Gespann zu steuern. Aber nicht zu feste. Immer gerade so, das ich nicht weinen muss!“

Sie hatte mich nicht angeschaut, während sie das sagte, sondern weiter Hosen in Regale geräumt.

Du kannst mir auch in den Nacken beißen, so richtig! Und wenn es dir gefällt, scheuere mir ruhig eine dabei! Ins Gesicht, mitten rein!“

Ich errötete innerlich. Sie hatte das bestimmt nicht so gesagt. Das konnte einfach nicht sein.

Geh nicht weg! Was soll ich denn noch alles für dich tun? Soll ich dich vielleicht anspucken? Oder beleidige mich! Beschimpfe mich! Am besten gleich hier. Öffentlich. Sag allen, das ich eine verdammte Hure bin, ich will, dass du das sofort sagst, bitte!“

Ihr Wortschwall entfernte sich mit jedem der schnellen Schritte, die meinem Fluchtinstinkt vorauseilend gehorsam zu Diensten waren. Der Verkäufer in der Ecke des Ladens weinte leise: „Mama, Mama hör doch auf! Ich bitte dich, hör einfach nur damit auf!“

Rasch hatte ich den Ausgang erreicht, als wieder die bescheuerte Sicherheitsanlage aufschrillte.

Ja, ja, geh einfach weiter, habs eben schon gehört, dass es bei dir piept“, sagte die Kassiererin im Erdgeschoss freundlich und lächelte mir hinterher.

Kaffee, ich würde jetzt dringend einen Kaffee brauchen. Das wurde hier doch ein wenig anstrengend und intim. Mein Gang folgte einem Automatismus, der mich einige Straßen weiter in eines dieser alten, klassischen Cafés im Umfeld der Kunstakademie führte. Ich fand mich an einem Tisch sitzend wieder, vor mir ein Milchkaffee und zu meinen Füßen mein hündisches Hirn. Die studentische Kellnerin, der man ihre vormalige Existenz als gute und aufmerksame Schülerin noch immer ansah, brachte mir sofort die Rechnung. Anscheinend hatte ich dort schon geraume Zeit verbracht. Einzig: Ich erinnerte mich nicht mehr daran.

Das macht dann sieben Euro, bitte! Sagen Sie mal, stimmt das, was mein Kollege dort drüben behauptet? Sie haben vor vielen Jahren aus zwei Metern Entfernung an die Wand unserer alten Toilettenkabine ejakuliert? Ist das wirklich wahr?“

Der angesprochene ältere Kellner kam sofort hinzu und sagte:

Ich mag ihn nicht. Habe ihn nie gemocht. Habe dafür auch meine guten Gründe! Das ist kein Mensch. Er ist viel mehr ein Scheusal!“

Rasch warf ich ein paar Münzen auf den Tisch und stürmte wortlos aus dem Lokal. Mein Gehirn sprang um mich herum, lachend und aufgedreht, irre Kapriolen schlagend.

Warum hatte ich auch darüber nachgedacht? Warum hatte ich auch gefragt, wie das wohl ist, wenn man verrückt wird? Diese verfluchte Neugier. Fast begann ich zu rennen, wie ein verlorenes Mordopfer meiner selbst und fand mich in diesem einen bestimmten Parkhaus wieder. Der Betonhäutige Zeuge meiner vieler Nachtleben Ausfälle. Lange her.

Ich steckte mit frostig-steifen Fingern einige Münzen nervös in den Parkautomaten. Mein Hirn flitze derweil wie toll und übermütig durch das Parkdeck. Hechelnd zwischen den schlafenden Autos umher.

Der Apparat spuckte nach einigem Rattern mein Parkticket wieder aus und sagte blechern, aber sehr deutlich:

Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein, du verdammter Trasher! Es gibt Fragen, die niemals gestellt werden sollten und Gedanken, denen man besser nicht nachgeht. Und jetzt nimm dein verficktes Gehirn wieder an die Leine und verpiss dich! Niemand will von dir hervorgekramt werden. Lass die Toten, wo sie sind! Los, kommt …scheißt ihn endlich voll!“

Zu meinem großen Entsetzen hörte ich den Flügelschlag unzähliger Möwen im Parkdecken flattern und stieß zwischen meinen Fingern sofort einen langen Pfiff aus:

10931570_911131365586027_7864619062468113551_o

Bei Fuß!“