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Buchkritik / Archiv | Beitrag vom 21.10.2014

KriminalliteraturLeicht mystisch-mythisch-gespenstisch

James Lee Burke: Regengötter

Von Thomas Wörtche

Patrouille in Texas nahe der mexikanischen Grenze. (Jose Cabezas / AFP)
Patrouille in Texas nahe der mexikanischen Grenze. (Jose Cabezas / AFP)

James Lee Burke erzählt in eigenwilliger Prosa von einem Massaker nahe der mexikanischen Grenze. Ein harter Plot, doch Burke überzeugt vor allem durch seine Stimmungsbilder der Natur und durch messerscharfe Porträts seiner Hauptfiguren.

"Imperien kamen und gingen. Die unbezwingbare Natur der menschlichen Seele hingegen lebte ewig fort." So lautet der vorletzte Satz von James Lee Burkes monumentalem Roman "Regengötter". Eine philosophische Sentenz also, die zu dem mythischen Grundakkord des Titels passt.

Ganz und gar prosaisch hingegen ist der Ausgangspunkt des Romans: Irgendwo in Texas, nahe der mexikanischen Grenze werden neun Frauen gefunden, regelrecht exekutiert, mit einem Bulldozer notdürftig im Boden hinter einer Kirche "entsorgt". Die Frauen, illegal aliens aus Asien, hatten Drogen zwecks Schmuggel im Körper, und waren wohl zusätzlich zur Zwangsprostitution vorgesehen. Sherrif Hackberry Holland und seine Leute tun ihre Arbeit, auch wenn sie vom FBI und anderen "Diensten" behindert werden und stoßen auf ein unappetitliches Konglomerat aus Menschen- und Drogenhandel, aus Mafia und anderen Formen des organisierten Verbrechens. Und auf einen bemerkenswert psychopathischen Profikiller, der unter dem Namen "Preacher" operiert.

So zusammengefasst erzählt "Regengötter" einen völlig durchschnittlichen Plot ohne besondere Drehs und Wendungen. Aber James Lee Burke gehört nicht umsonst – auch wenn er bei uns seit Jahrzehnten kaum noch präsent ist – zu den ganz Großen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Schon seine Romane um den (Ex-) Polizisten Dave Robicheaux, die allesamt in Louisiana spielten, zeichneten sich durch harte Plots aus, kombiniert mit grandiosen Landschaftsschilderungen und oft mit einem Touch ins Mystisch-Mythisch-Gespenstische, erzählt in einer eigenwilligen, poetischen Prosa.

Über allem steht die Natur

Auch in "Regengötter" ist die durchaus realistische kriminalliterarische Standardsituation nur der Ausgangspunkt für ungewöhnliche Exkursionen in menschliche Dispositionen, in die Erhabenheit der Natur und in völlig eigenständige Denkwelten. Denn dass Sheriff Hackberry Holland überhaupt tätig wird, hat mit dem schlechten Gewissen eines der Mittäter an dem Massaker zu tun. Burke individualisiert und seziert alle Hauptfiguren, bis von ihren erwartbaren Motivationen oder Handlungen nichts mehr übrig bleibt. Preacher, der psychopathische Killer, ist in der Tat schwer gestört, aber er kennt Mitleid, Empathie und Glaube, ein kleiner, schmieriger Strip-Lokal-Besitzer entwickelt wahnsinnige Zivilcourage, und alle Frauenfiguren bringen den Kerlen das Fürchten bei.

Die Bibelfestigkeit der Figuren gehört zum kulturellen Grundbestand, christliche Handlungsweisen treffen wir nicht unbedingt immer an. Und so portraitiert Burke seine Figuren in schönster Demokratie – die Schurken sowie die Guten, die Minderen sowie die Wichtigen, die Vernünftigen und die Gestörten. Und über allem steht die Natur, deren Stimmungsbilder die Dominante des Romans liefern. Der Gang der Handlung ist dabei robust, aktuell plausibel und gewaltsatt, der Thrill-Faktor sowie der Unterhaltungswert hoch. Burke schreibt reinstes Genre und gleichzeitig reinste Literatur, weil er die Konstellationen des Genres nicht zu Verflachung nutzt. Er inszeniert sie hochkomplex und macht "Genre" als eine sehr probate Möglichkeit sichtbar, sich, auch im erkenntnistheoretischen Sinn, künstlerisch mit dieser Welt auseinanderzusetzen. Und mit der menschlichen Seele.

James Lee Burke: Regengötter
Aus dem Amerikanischen von Daniel Müller.
Heyne Hardcore, München 2014
660 Seiten, 16,99 Euro

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