Seit 22:03 Uhr Freispiel
Donnerstag, 08.07.2021
 
Seit 22:03 Uhr Freispiel

Buchkritik / Archiv | Beitrag vom 01.02.2017

"Zwanzig Lewa oder tot"Mit dem Weberschiffchen durch Zeit und Raum

Von Marko Martin

(Zsolnay Verlag/Imago/Westend61)
"Zwanzig Lewa oder tot. Vier Reisen" von Karl-Markus Gauß. (Zsolnay Verlag/Imago/Westend61)

Karl-Markus Gauß erzählt in seinem neuen Buch "Zwanzig Lewa oder tot" von seinen Reisen durch Osteuropa. Ein stilles, witziges Buch, das den Menschen, denen Gauß begegnet ist, viel Raum lässt - und das ein Gegengift zum grassierenden nationalistischen Wahn ist, urteilt unser Kritiker

"Der Mechanismus der Überbietung, von dem wir in der medialen Gesellschaft mit Verbrechen, Katastrophen, Unglücksfällen in Echtzeit und mittels Bildern aus intimer Nähe traktiert werden und traktiert zu werden begehren, muss immer drastischere Bilder ausstoßen und fortwährend neues Grauen finden oder erfinden."  – So weit, so bekannt.

Doch nun kommt die Pointe: Der in Salzburg lebende Schriftsteller und Osteuropa-Aficionado Karl-Markus Gauß tappt in seinem neuen Buch "Zwanzig Lewa oder tot" nicht etwa in die Falle einer gängigen und längst wohlfeil gewordenen Kulturkritik, sondern bezieht sich hier auf den seinerzeit populären Schriftsteller Curzio Malaparte und dessen reißerischen Weltkriegs-Roman "Kaputt", in welchem ein Zagreber "Augensammler" beschrieben wurde - ein kroatischer Ustascha-Faschist, der die Augen seiner Opfer angeblich in einer mit Früchten gefüllten Schale aufbewahrt hatte. Heute würde man sagen: "Fake news."

Besuche in Zagreb, Sofia und Novi Sad 

Dabei hätte es, gibt der versierte Literaturkenner und Reisende Gauß zu bedenken, solcher Übertreibungen gar nicht bedurft, war Zagreb doch einst tatsächlich ein Ort der Massaker gewesen. So wie auch die Wojwodina, wo vor einem knappen Jahrhundert die donauschwäbische Mutter des Autors zur Welt gekommen war - ehe auch dort "das jahrhundertelange Ineinander der Nationen und Nationalitäten zerschlagen wurde".

(picture alliance/dpa/Helmut Fohringer)Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß. (picture alliance/dpa/Helmut Fohringer)

Ob Karl-Markus Gauß, Jahrgang 1954, in die Republik Moldau reist, sich in Zagreb, Sofia, Plovdiv oder in Novi Sad umschaut – es geschieht immer in dieser Erkenntnis fördernden Gestimmtheit: Vergegenwärtigung der Vergangenheit, Erinnerung an oftmals vergessene Schriftsteller als mehr oder minder skrupulöse Chronisten eben jener Zeit - und vor diesem Hintergrund dann eine Alltags-Neugier, die es beim Bestaunen oder Verurteilen des einen oder anderen Oberflächen-Phänomens nicht belässt.

Großes Lesevergnügen

Was für ein Lektüre-Vergnügen: Wie ein Weberschiffchen gehen die Reflexionen des Autors durch Zeit und Raum, doch nichts Hektisches oder Bildungshuberndes haftet dem an; der Flaneur ist weder in Eile noch kokettiert er mit einer Peter-Handkeschen Attitüde des einsamen Sehers.

Denn zum Glück - schließlich sind wir hier in Osteuropa - tauchen immer wieder Menschen auf, die im wahrsten Wortsinn Originale sind und keine Klischees: Da ist etwa der Übersetzer Boris Peric, der Ludwig Wittgenstein ins Kroatische übersetzt hat und danach Zagreber Vorstadt-Gangsta-Rapper für einen Sprechgesang des "Tractatus logico-philosophicus" begeistern konnte.

Der Liebste aber ist uns jener Kellner aus Elias Canettis bulgarischem Geburtsort Russe, der seine ambivalenten Jahre in Osnabrück auf diese Weise resümiert: "Mein Deutsch ist schlecht, aber mein Opel ist gut." Das Zivile, Gewitzte und Heterogene als Antidot zum nationalistischen Wahn des "Reinen" - auch davon erzählt dieses stille Buch. Und ist auf eindringliche Weis damit aktueller als so mancher Nachrichtenkommentar.

Karl-Markus Gauß: Zwanzig Lewa oder tot. Vier Reisen
Zsolnay Verlag, Wien 2017, 208 Seiten, 22,00 Euro

App: Dlf Audiothek

Die neue Dlf Audiothek App ist ab sofort in den Appstores von Apple und Google zum kostenlosen Download erhältlich (Deutschlandradio)

Entdecken Sie mit der Dlf Audiothek die Vielfalt unserer drei Programme, abonnieren Sie Ihre Lieblingssendungen, wählen Sie aus Themenkanälen und machen daraus Ihr eigenes Radioprogramm.


Jetzt kostenlos herunterladen

Buchkritik

Robert Macfarlane: „Berge im Kopf"Vom Rausch der Höhe
Das Buchcover "Berge im Kopf" von Robert Macfarlane ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen. (Deutschlandradio / Verlag Matthes & Seitz)

Vor 300 Jahren wäre die Idee, einen Berg aus Spaß zu besteigen, bei vielen auf reines Unverständnis gestoßen. Warum das heute anders ist, beschreibt der Autor Robert Macfarlane in einer Mischung aus Abenteuerzählung und kulturhistorischer Studie.Mehr

weitere Beiträge

Literatur

Schreiben auf der Flucht, 1940 und heuteTransit Marseille
Das historische Fort Saint-Jean an der Einfahrt zum Alten Hafen (Vieux-Port) in Marseille im Abendlicht. (picture-alliance / Maxppp Launette Florian)

Marseille ist eine Stadt der Passage. 1940 flohen Menschen vor Hitler hierher, um Europa zu verlassen. Davon erzählt Anna Seghers' "Transit". Heute leben andere Flüchtlinge in Marseille. Wieder sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller unter ihnen.Mehr

weitere Beiträge

Entdecken Sie Deutschlandfunk Kultur