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Buchkritik / Archiv | Beitrag vom 18.03.2011

Süden ist zurück

Friedrich Ani: "Süden", Droemer, München 2011, 364 Seiten

Friedrich Ani hat seinen Protagonisten Süden wiederbelebt. (Deutschlandradio / Bettina Straub)
Friedrich Ani hat seinen Protagonisten Süden wiederbelebt. (Deutschlandradio / Bettina Straub)

"Der Kriminalroman zwingt zum Hinschauen in die Gegenwart", meint der Münchner Krimiautor Friedrich Ani. Nach einer sechsjährigen Pause hat er seinen Kommissar Tabor Süden jetzt wiederbelebt.

Mit den Romanen um Tabor Süden, Hauptkommissar im Münchner Vermisstendezernat, hat Friedrich Ani im letzten Jahrzehnt die deutsche Kriminalliteratur um den Beweis bereichert, dass "Krimis" nicht unbedingt Mord und Aufklärung brauchen, um zu funktionieren. Dass auch der Rand der Gesellschaft literaturfähig ist, dass ein Kriminalroman selbstverständlich ein Sprachkunstwerk sein und dass man mit einem solchen Konzept sogar nachhaltig Erfolg haben kann. Dann war Schluss: 2005 hatte Süden seinen letzten Auftritt, quittierte den Polizeidienst und wurde Kellner.

Jetzt, belebt Ani seinen Protagonisten neu. Der Titel ist schlicht: "Süden". Auslöser ist ein Anruf des verschwundenen Vaters, den Süden schon während seiner Zeit bei der Polizei als eine Art tragischer running-gag nie finden konnte. Süden nimmt einen Job in einer Privatdetektei an und macht da weiter, wo er weiland als Polizist aufgehört hatte: bei der Rekonstruktion von fremdem Leben. Es geht um einen netten, unscheinbaren Wirt, der eines Tages aufhört, mit seiner Umwelt zu kommunizieren, einfach auf einem Stuhl sitzt – und nach weiteren zwei Jahren einfach verschwindet. Südens Suche, beinahe die schräge Variante einer klassischen Queste, führt ihn zuletzt auf die Insel Sylt, die man allerdings selten so wie hier beschrieben findet: Süden trifft auf gescheiterte, auf müde, auf ausgelaugte, versteinerte und festgefahrene Menschen, und oft hat man den Eindruck, auch er sei einer davon.

Aber keine Angst. Ani bedient nicht den sozialpsychologischen Diskurs, sondern erzählt poetisch, manchmal sehr komisch und durchgehend melancholisch viele kleine, unscheinbare Geschichten. Sie alle sind verbunden und verschlungen mit dem Hauptstrang des Romans und mit der großen Suche des Tabor Südens: die nach seinem Vater - und damit auch nach sich selbst. Vergangenheit und Gegenwart sind dabei auf derselben Wichtigkeitsebene angesiedelt wie Visionen und Realitäten. Ein kleiner, von seinen Eltern im Stich gelassener Junge im Roman unterhält sich genauso selbstverständlich mit den Helden seiner Fantasie, wie Tabor Süden mit seinem toten Kollegen Martin Heuer redet, der sich vor langer Zeit in einem Müllcontainer erschossen hatte.

Am Ende ist der "Fall" des verschwundenen Wirtes so gelöst, wie ihn niemand hat voraussehen können. Kriminell und verbrecherisch in diesem außergewöhnlichen Kriminalroman aber sind ganz andere Dinge, die nicht einfach zu beschreiben sind: die Wirklichkeit in einer zutiefst verunsicherten, fragilen und deswegen auch zu Extremen fähigen Gesellschaft. Dafür braucht man schon Literatur von einer ästhetischen Qualität, wie Friedrich Ani sie liefert.

Besprochen von Thomas Wörtche

Friedrich Ani: Süden
Droemer, München 2011
364 Seiten, 19,99 Euro

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