18. September. Diesen aus Gedanken-, Gesprächs- und
Mailsplittern hervorgegangenen kurzen Aufsatz werde ich erst einmal
ein paar Tage gut abhängen. Vielleicht habe ich ihn nur für mich
geschrieben und werde ihn gar nicht veröffentlichen? Ich bin mir im
Augenblick nicht sicher. Cui bono? Manches ist mir noch nicht
differenziert genug formuliert. Obwohl der Text möglicherweise als zart
polemischer Einwurf für das Tagesgeschäft gerade richtig strukturiert
und temperiert ist. Ein bißchen an der Oberfläche kratzen, nicht mehr
und nicht weniger. Ja, Bücher verkommen immer mehr zum Tagesgeschäft:
Was man heute druckt, wird morgen oft kaum verkauft und übermorgen schon
aus dem Regal gedrängt. Ich hätt so gern ein bißchen Überblick. Was Don
Quichotte die Windmühlen, sind mir die Bücherfluten. Warum bin ich
nicht in der Lage, einsichtsvoll mit dieser Erkenntnis umzugehen und
mich in das Schicksal zu ergeben, eine ganze Reihe origineller Werke
aller Bemühungen zum Trotz nie kennenzulernen, statt mich noch
störrischer in die Strömungen zu stürzen?
20. September. Ich habe in der vergangenen Nacht die letzten
dreihundert Seiten von Tellkamps »Turm« gelesen, bin über etliche Seiten
geradezu hinweggeflogen, war müde und hellwach zugleich, konnte das
Buch nicht aus der Hand legen, mußte zum Ende kommen. Es war ein Kampf,
nicht abzubrechen nach 120, 400 oder 600 Seiten. Im Schlussteil gewinnt
das Buch naturgemäß an Dramatik – schließlich geht es auf den 9.
November 1989 zu –, und ich weiß die gewaltige Leistung von Uwe Tellkamp
in mancherlei Hinsicht zu schätzen. Da gibt es rasante Passagen (so
finde ich gleich die ersten drei Seiten eindringlich, gegen Ende finden
sich weitere), aber auch nach Abschluß der Lektüre bleibt der Eindruck:
gediegene, solide Literatur, alles in allem eine dem Konventionellen
selten entfliehende Sprache, die mich nicht begeistert. Ich lese zu
selten die nicht leicht zu beschreibenden Spurenelemente heraus, die zur
Transformation von Bildern, Motiven, Stoffen und Symbolen in eine
eigene, unverwechselbare Sprache führen (ich denke etwa an Hermann
Broch, Hubert Fichte, Uwe Johnson, Wolfgang Hildesheimer, Hans Lebert,
W. G. Sebald, an Thomas Hettche oder Joseph Winkler), die rhetorischen
Nuancen und einfühlsamen Verfeinerungen, die erst zum vollkommenen
Stil der Meisterwerke führen, das Augenzwinkernde, das Doppelbödige, das
Ironische, das Schneidende, das Schwingende, das Spöttische, das
Subtile, das Süffisante. Immerhin blitzen diese Dinge in den Dialogen
gelegentlich auf. (In Khaled Hosseinis »The Kite Runner« (Bloomsbury,
London 2004) lese ich: »But the most impressive thing about your story
is that it has irony. You may not even know what that word means. But
you will someday. It is something that some writers reach for their
entire careers and never attain. You have achieved it with your first
story.«)
21. September. Heute ist ein neuer Tag. Tellkamp ist einsortiert
neben Timm und Tucholsky. Da kommt die Post und bringt Saskia Fischers
Gedichtband »Scharmützelwetter«, der in diesen frühherbstlichen Tagen am
Ende des Sommers erschienen ist. Ich bin gespannt. Also, PC ausschalten
und rein in die Sonne mit diesem dottergelben Büchlein, das federleicht
in der Hand liegt.
29. September. Buchstäblich hin- und hergerissen bin ich von der Lektüre der Anthologien »Lyrik von JETZT zwei«
und »Neubuch«. Was wollen Autoren und Herausgeber mehr, als daß Leser
sich an ihren Editionen erfreuen und reiben zugleich? Ich lese auch
diese beiden Anthologien so, wie ich durch Ausstellungen von Bildern
gehe, setze mich also gleichsam fortlaufend mit immer wieder frappierend
anders gemachten Welten und Wörtern, wie sie von jungen Menschen nach
2000 fabriziert werden, auseinander. Polykakophone Kompositionen. Sausen
und Brausen. Wenig zum Lachen. Ist etwa Schluß mit Lust/Ich? Von vielen
der jungen Autorinnen und Autoren habe ich in den vergangenen Monaten
Einzeltitel gelesen. Interessant, nun wieder festzustellen, wie anders
manche Gedichte in den unterschiedlichen Kontexten wirken. Es gibt
anthologieresistente Gedichte, die dort oft erst richtig aufblühen, und
solche, die sich von ihrer absenten Wortstärke her keinen Gefallen tun,
hier abgedruckt zu sein.
30. September. Aus drei Manuskriptseiten sind am Ende neun
geworden. Wer hätte das gedacht? Die spätsommerlichen Sonnentage haben
sich indessen verabschiedet: »Schlechtwetterfront« las ich schmunzelnd
im »Neubuch«. Was lese ich nun als nächstes?
Wenn der Postmann zweimal klingelt
Die Lust, gute Bücher zu lesen, um in diesen auf brillante Bilder,
sensible Sätze und wesenhafte Wörter zu stoßen, die mich faszinieren,
fesseln und verzücken, ist nicht nur ungebrochen, sie will weiterhin
bedrohlich anschwellen. So, wie der Publikationsfluß im deutschen
Sprachraum tagtäglich weiter anzuschwellen scheint. Die
Veröffentlichungswut hat eine Dauerflutwelle von gigantischen Ausmaßen
ausgelöst. Vor diesem Szenario erscheint es mir nicht überzogen, auch
künftig wenigstens ein Buch (eine Literaturzeitschrift, ein Künstlerbuch
o. ä.) pro Tag aus der Verpackung schälen zu wollen. Es gibt so viele
schöne Dinge, denke ich nur an das weiße Schächtelchen von Patricia
Collins, in dem ich vier zeitungspapierumwickelte Kiesel mit den
Buchstaben P, O, E, M in einem Nest von Schnipseln fand. Ich habe die
Kiesel eben wieder einmal in die Hand gelegt: mein Gedicht von heute.
Wehe, der Postbote hat nichts dabei. Meine Frau fürchtet diese
glücklicherweise einigermaßen seltenen Momente, in denen ich mit
vollkommen leeren Händen und dem Gesichtsausdruck eines Orks ins Haus
zurückkehre. Heute, am 10. Oktober verwöhnt mich die Post mit
Christopher Eckers Roman »Madonna« (Mitteldeutscher Verlag, Halle 2007),
Richard Doves »Am Fluß der Wohlgerüche« (Rimbaud, Aachen 2008) und dem
Reader »Brinkmann. Schnitte im Atemschutz« (edition text + kritik,
München 2008). Ich möchte über alle drei Bücher gleichzeitig herfallen.
Nun ja, ich entscheide mich, alles andere einfach mal unterbrechend, und
lese Richard Doves Gedichte in einem Rutsch mit weit aufgerissenen
Augen und bin nach dieser lyrischen Weltreise ans andere Ende des nicht
immer nur blauen Planeten ziemlich hinter Atem. Die Blitze zucken, Fluggäste stöhnen, / die Nacht lacht respektlos.
Gelegentlich versuche ich es mit einer Entziehungskur. Ausschließlich
aus Platzgründen. Aber, so meine leidvolle Erfahrung, da geht es mir wie
dem Raucher filterloser Zigaretten: Nach absehbarer Zeit wird er
rückfällig und raucht mehr denn je. Und so werde ich mich damit abfinden
müssen, weiterhin gegen die anwachsenden Bücherstapel anzulesen und
beständig Namen von Autoren oder Buchtitel aufzunotieren, die nächsten
Bestellungen auf diese vorsorgliche Weise einleitend: Nicholson Baker,
Marianne Fritz, William Gaddis, Michel Houellebecq, Philip Roth und
David Foster Wallace stehen auf dem aktuellen Zettel mit grüner Tinte
vermerkt. Den in diesen Tagen sympathisch niedrigen Stapel mit
antiquarisch erstandenen un- oder angelesenen Büchern von Peter
Altenberg, Franz Hodjak, André Kaminski, Erich Loest, Stephan Reimertz,
Eva Zeller und Heiner Link verdanke ich einem mehrwöchigen Lesemarathon,
der mal wieder unumgänglich war.
Ich lese tagtäglich gern und viel, aber bisweilen gönne ich es mir, zu
prassen, zu schlemmen und aus dem Vollen zu schöpfen. Zu den schönsten
Augenblicken in meinem Dasein zählt der, den ich soeben wieder erlebe:
In Gedanken noch bei der nächtlichen Lektüre von »The Kite Runner«,
schreibe ich diese Zeilen, während draußen das gelbe Auto vorfährt. Von
wegen blauer Montag: Guido, der Postbote, überreicht mir zwei
Büchersendungen, in denen ich Margot Ehrichs Erzählungen »Komm nach
Madagaskar« (Rimbaud, Aachen 2008) und Edith Lutz‘ Aufzeichnungen
»Grenzgänge im Januar. Zwischen Israel und Palästina« (AphorismA, Berlin
2008) vorfinde. Auf versalia.de finde ich in einem Kommentar von
Matthias Hagedorn ein noch passenderes Bild: »Eine beliebte Süßigkeit,
die man für ein paar Groschen am Kiosk erwerben konnte, war das
sogenannte Eßpapier. Theo Breuer, so scheint es, hat nie damit
aufgehört. Charmant an seinem ›Lesehunger‹ ist, daß er die Leser daran
teilhaben läßt«.
»vier schwarze streifen längs der wangenknochen« Nun habe ich Ulf Stolterfohts 128seitiges Langgedicht »holzrauch über heslach« endlich gelesen, nachdem ich so einiges Sekundäre darüber zur Kenntnis nahm. Im Gegensatz zu Paulus Böhmers furioser postmoderner Elegie »Kaddish XI-XX« (Schöffling, Frankfurt am Main 2007), die mit »holzrauch über heslach« beim Peter-Huchel-Preis 2008 konkurrierte, haben mich Stolterfohts Verse nur bedingt in den Bann gezogen, während auch Oswald Eggers »Tag und Nacht sind zwei Jahre. Kalendergedichte« (Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2007), das 2007 den Preis gewann, eine fortwährende Faszination ausübt, durchweg unangestrengt daherkommt, dicht, durchwirkt, dynamisch. Bei Stolterfoht findet u. a. eine Überstrapazierung des Binnenreims statt, der zu allem Überfluß immer wieder schmerzhaft simpel gerät. Sind das überhaupt Reime? Bezwecken sie, was sie bezwecken sollten? Wenn sie beiläufig wirken sollen: Sie tun es nicht. Nein, ich weiß, gleich kommt schon wieder einer – und wieder und wieder. Ich finde manches Lässige arg forciert, vielleicht sogar manieriert, und nehme beim Lesen nolens volens Abstand. Dabei bin ich so gern ganz nah dran. Trotzdem: In »holzrauch über heslach« finden sich Passagen und Sequenzen, die es mächtig in sich haben. Das in neun Teile gegliederte Werk ist ein lesenswerter Parforceritt, bei dem ich eben auch die Mühen der Ebene hinter mich bringen muß. 30 Seiten weniger wären wahrscheinlich mehr gewesen: Auch T. S. Eliot nahm einst Ezra Pounds radikale Kürzungen an »The Waste Land« hin – sehr zum Gewinn dieses vielleicht vitalsten Langgedichts des 20. Jahrhundert.
»Die Träume werden schwärzer«
»Nich so doll« beeindruckt bin ich von der Lektüre der neuen und bereits
hochgelobten Bände »Heimliche Feste« von Uwe Kolbe und »fallstreifen«
von Nico Bleutge. Im Fall Bleutge ist ein begabter Spitzenklöppler am
Werk, der – wie schon im ersten Lyrikband – als sehr genau Beobachtender
Gang, Geräusch und Geschehnis präzis vermittelt. Je nach Thematik
ergibt eine Reihe von Gedichten banale Stilleben, andere führen zu einem
Pathos, das ich aus Feldpostbriefen kenne: »… ich kann den blick /
von dieser larve nicht mehr wenden / das bild wird stärker noch in
meinem kopf, da ich […} des mannes lippe kam mir vor die augen / und
seine rede in den sinn, die leicht gebläute / zunge, die sich schob
hervor … « Ich muß Gottfried Benn, Rolf Dieter Brinkmann, Ernst Jandl,
Thomas Kling, Christoph Leisten und Jürgen Nendza zu diesen Versen
befragen, die mich sehr ratlos zurücklassen. Indem Bleutge den
Gedichten, postmodern versiert, literarische Versatzstücke
anverwandelt, höre ich Echos von Artmann, Brockes, Kling und vielen
anderen Dichterstimmen. Ich klappe das Büchlein zu, stelle es ins Regal
und frage mich: Brauche ich diese Gedichte? Ich lese sie mit
professionellem Interesse, aber ohne hochgezogene Augenbrauen,
verkniffene Lippen, angehaltenen Atem, die wunderbare Tasse Tee für den
Augenblick verschmähend, die meine Frau mir anbietet. Bei Uwe Kolbe
allerdings, dessen Gedichte ich vor Jahren mit Bewunderung las, fehlen
mir die Worte. Bis auf vielleicht drei überzeugende Gedichte, schüttle
ich bei der überwältigenden Mehrzahl der Texte den Kopf und frage mich:
Wo sind da die Wörter, die mich begeistern? Kopfschüttelnd trinke ich
gleich mehrere Tassen Darjeeling hintereinander, schlage Jürg Halters
Gedichtband auf und finde in diesen sehr bewußt unspektakulär
(alltagssprachlich) verfaßten, allerdings hin auf – seelenruhig
inszenierte – Knallbonbons am Ende komponierten Gedichten letztlich
immer wieder die Bestätigung des Buchtitels gespiegelt: »Nichts, das
mich hält«. Der Sand zerrinnt mir zwischen den Fingern, im Blau über mir
spielt der Wind sein ewiges Spiel mit Wolken und Staub und Qualm,
Blätter fallen, alles ist Schall und Rauch. Ruhig und zufrieden klappe
ich das schön gestaltete Buch zu und komme mir vor wie der fliegende
Robert. Wußten Sie, daß eine Schneeflocke 0,004 Gramm wiegt?
Bisweilen kommt’s auf »Die Geschwindigkeit der Formeln« an. Nachzulesen
in Tom Pohlmanns facettenreichem, Lyrik, Essay und erzählende Prosa
umfassendem Buch, das nicht nur »Spuren im Schnee / und ihre
Haltbarkeit« faß-, fühl- und hörbar macht. Pohlmanns Sprache schafft
luftige Wirklichkeiten, in denen ich mich heimisch fühle. Wörter werden
im Kontext der Verse und Zeilen beseelt, »Kohlweißlinge« und
»Knorpelkirschen«.
»April is the cruellest month« Die Kritik an mangelhafter Übersetzungsarbeit, die ich in »Kiesel & Kastanie. Von neuen Gedichten und Geschichten« anhand verschiedener Beispiele äußere, wird durch die Böcke Norbert Hummelts bei der Arbeit an »The Waste Land« in »Das öde Land« (Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008) erneut bestätigt. Ist das Eile, Hybris, Unwissenheit, was zu solch liederlichen Ergebnissen führt? An Unvermögen erlaube ich mir nicht zu denken. Insgesamt sind zahlreiche Übersetzungen aus dem Angloamerikanischen, die ich nach 2000 zur Kenntnis nehme, nicht ausgereift bzw. in hohem Grade sorglos übersetzt oder – blauäugig? Das ist allerdings nicht jenes »andere Blau«, das Rolf Dieter Brinkmann beschwört. Cognac, Whisky und Wein werden oft viele Jahre lang gelagert, selbst das banale Fleisch wird abgehangen. Wie sollten Gedichte und ihre Übersetzungen nicht ihre Zeit brauchen? Und manche freilich wollen gar nicht übersetzt werden: Gedichte übersetzen heißt Gedichte nicht übersetzen.
»Mühen der Ebene«
Apropos »Mühen der Ebene«, zu denen mir die Devise einfällt: auf dem
Teppich bleiben. Uwe Tellkamps vom Feuilleton in den Himmel gehobener
Roman »Der Turm« ist kein »Meisterwerk«, wie dort festgestellt, sondern
eher ein durchaus ›wohltemperierter‹, jedoch während vieler Phasen
langatmiger, mit reichlich Redundanz versehener Aufguß von Gestalten und
Geschehnissen aus der DDR der Jahre 1982 bis 1989, die ich vom
Grundsatz und Tenor her aus einer Reihe gelungener Bücher und Filme
bereits kenne. Ich lese das Buch seit einigen Tagen und Nächten, bin
heute auf der 604. von 975 Seiten. Zwischendurch habe ich eine Reihe
anderer Bücher gelesen. (Was ich eigentlich nicht tue, genausowenig, wie
ich das Wort ›eigentlich‹ an und für sich vermeide, aber da ich im Turm
auch zu diesem Wörtlein und dessen (Nicht-)Verwendung einiges – im Kern
(vielleicht?) Überflüssige – zu lesen bekomme, lasse ich es nicht und
beginne Tellkamp plötzlich zu begreifen: Ich sitze hier und kann nicht
anders …) Uwe Tellkamp vermittelt als hochgebildeter Autor via
allwissenden Erzähler (dem gelegentlich aus anderer Perspektive unter
die Arme gegriffen wird) ungeheuer viele, entweder am eigenen Leib
erfahrene bzw. genau recherchierte, bis in kleinste Details geschilderte
Vorgänge und Phänomene (oft in didaktischer Absicht), aber der von
mehreren Protagonisten in disparate Richtungen gezerrte
Geschichtsverlauf fesselt mich zum einen nur an wenigen Stellen und ist
zum anderen in einer Sprache geschrieben, aus der sich noch kein Stil
entwickelt hat. Sie ist austauschbar, Mainstream, eben ›wohltemperiert‹,
glatt. Die oft weit ausufernden Episoden werden souverän
heruntererzählt, dabei ›überlebt‹ manche Passage mittels der Gefühle,
die die damaligen Verhältnisse beim Leser auslösen. Man kann das Buch
natürlich lesen, »Der Turm« ist alles andere als ein Flop (»Die Box« des
von mir so hochgeschätzten Günter Grass stemple ich als solchen ab),
aber ich hätte es nicht unbedingt lesen müssen. (Gar nicht lesen müssen
hätte ich Peter Handkes »Kali. Eine Vorwintergeschichte«. Sehr
begeistert vom Handke der ersten Jahrzehnte, Stilist und Denker, wie er
im Buche steht, will ich mir nach Jahren wieder den Hochgenuß eines
Peter Handke gönnen, dessen Werk ich über weite Strecken verfolgt habe,
bis ich in den 1990er Jahren den Kontakt verlor. Ich habe es bereut,
fand »Kali« fade. Schade.) Die letzten gut 300 »Turm«-Seiten werde ich
wohl teilweise überfliegen. Mal sehn.
Dabei liebe ich die dicken Schinken: Peter Weiß, »Die Ästhetik des
Widerstands«, Robert Musil, »Der Mann ohne Eigenschaften«, Hans Henny
Jahnn, »Fluß ohne Ufer«, Uwe Johnson, »Jahrestage«, Arno Schmidt,
»Zettels Traum« – überwältigende Bücherbergtouren.
Mich wundert, daß Tellkamps früher entstandene, vereinzelt
veröffentlichte Gedichte und der Roman »Der Eisvogel« (Rowohlt, Reinbek
2006) sprachlich merklich attraktiver, strukturell gewagter, konziser
komponiert sind. Der ganze Roman, der die in einer Nische zwischen
Funktionären und Arbeiterklasse angesiedelte, bürgerlich orientierte
›High Society‹ von Dresden in jenen 80er Jahren auf dem Weg zur Wende
beschreibt, bietet wenig Überraschendes.
Beispielsweise Theodor Fontane, Alfred Döblin, Joseph Roth, Thomas Mann,
Hans Fallada haben Gesellschaftsromane von anderem Format geschrieben,
jeweils in einer Sprache, die einmalig und den Stoff in der Weise
meistert, die notwendig ist, um mustergültige Literatur daraus zu
machen, die auch nach Jahren und Jahrzehnten (und manchmal
Jahrhunderten) noch von Interesse ist. 2007 gewann Julia Franck den
deutschen Buchpreis, den Uwe Tellkamp vielleicht 2008 gewinnt (wie ich
zufällig lese, ist er unter den letzten sechs – wenigstens sechstausend
Romane werden im deutschen Sprachrauch alljährlich publiziert, bleibt
die Frage offen, wie eine Jury an ihre Long- und Shortlist kommt). »Die
Mittagsfrau« (S. Fischer, Frankfurt am Main 2007) habe ich im
vergangenen Jahr gelesen, die Geschichte nimmt nach rund 100 Seiten
dermaßen Fahrt auf, daß ein Abspringen lebensgefährdende Risiken nach
sich gezogen hätte, die Sprache bleibt dabei durchgehend konventionell
und unauffällig.
Ich will mitgerissen werden, auf fliegenden Teppichen davongetragen
werden – nicht nur von den Geschichten, nein, insbesondere auch von der
Sprache in Romanen. Ich benenne als Beispiel statt der an dieser Stelle
dem Leser automatisch in die Gedanken springenden Namen und Titel aus
der deutschsprachigen Literaturgeschichte Gertrude Steins 1925
veröffentlichten (nicht ins Deutsche übertragenen) 922seitigen, die
Leserschaft polarisierenden Roman »The Making of Americans« (Dalkey
Archive Press, Chicago 2006), dessen Wortzahl Tellkamps »Turm« noch
einmal um etwa das Doppelte übertreffen dürfte, ebenfalls ein
Gesellschaftsroman, dessen idioynkratische Sprache allerdings von der
Art ist, daß ich sie gleichsam unablässig kauen und wiederkäuen muß.
»The Making of Americans« erzählt die Geschichte mehrerer Familien über
drei Generationen, ist dabei allerdings von einer dermaßen
entschleunigten Art, daß ich meinen Freunden während der Lektüre
schrieb: »Ich lese den langsamsten Roman aller Zeiten.« Konzentrisch um
einen im Kern einfach komplizierten / kompliziert einfachen Gedanken
kreisend, greift Stein ein- und denselben Satz immer wieder auf,
wiederholt ihn wörtlich, variiert ihn nur geringfügig und verwandelt ihn
nach und nach in einen neuen, verwandten Gedanken, der nun erneut hoch
die Kreise zu schlingen beginnt. Das ist bezwingende Sprachmusik, nach
der ich süchtig bin. Thomas Bernhards Prosa fällt mir spontan dazu ein.
Thor Kunkel hat mit »Endstufe« (Eichborn, Berlin 2004) einen tollkühnen
Roman geschrieben, der mir nicht mehr aus dem Gedächtnis weicht. Und vor
wenigen Tagen las ich Jan Kuhlbrodts schmalen Band
»Schneckenparadies«, der ebenfalls – welch ein guter Zufall – in der
DDR der 1980er Jahre spielt, und in diesen
autobiographisch-essayistischen Romanseiten finde ich Sprache, die ich
meine: Sprache, die dem Autor Jan Kuhlbrodt – gleichsam wie von selbst,
ich erinnere an die HB-Reklame aus den 1960er Jahren – aus dem Keyboard
erwächst. Da werden die banalsten Dinge (aus nichts anderem besteht
bekanntermaßen der Großteil des Lebens) zu verbalen Schwingungen und
somit fühl-, greif- und nachvollziehbar. Und wie ein Film läuft
»Schullandschaft mit Lehrer« des mir bis dato unbekannten Luxemburgers
Henri Dor vor meinem geistigen Auge ab. Endlich eine sich mit dem
Spannungsfeld Schule, Lehrer, Schüler, Eltern, Gesellschaft in dieser
Zeit auseinandersetzende Geschichte mit Biß und Tiefgang, die mich von
der ersten Zeile an in den Bann zieht und bis zur letzten nicht losläßt.
»Glatte Verse rings umher«
Um die zeitgenössischen Gedichtbücher der jungen Autorinnen und Autoren
im deutschen Sprachraum ist es, wie oben angedeutet, ähnlich bestellt
wie um die Romane und Erzählungen: grundsätzlich empfehlenslesenswert,
jedoch nicht so »herausragend«, wie mancher Kritiker die Zeitungsleser
glauben machen möchte. Das bestätigen auch die beiden Bände, deren
Druckerschwärze noch kaum getrocknet ist: Marius Hulpes »wiederbelebung
der lämmer« (»rückzug« zeigt den guten Einfluß Klings / ist mir –
FRAPPIEREND – wundergleichsam aus der Seele geschrieben) und Sabine
Imhofs »Das Alibi der Abwesenheit« mit dem sehr schönen Gedicht »Der
reparierte Sommer«.
Ich möchte Gedichte von Autoren wie – beispielsweise – Jürgen Becker,
Erika Burkart, Paulus Böhmer, Elke Erb, Manfred Peter Hein, Franz
Hodjak, Axel Kutsch (der mit »Einsturzgefahr« beim Peter-Huchel-Preis
1997 am Start war, den Thomas Kling schließlich mit »morsch« gewann) am
Ende dieses ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend ins Rampenlicht
rücken. (Der stille Walter Helmut Fritz ist übrigens auch noch da, nach
dessen Gedichten ich ähnlich süchtig bin wie denen von Rolf Dieter
Brinkmann. Zur Zeit bereitet Hoffmann & Campe eine Werkausgabe vor,
die 2009 anläßlich des 80. Geburtstags dieses Meisters des lakonischen
Gedichts erscheinen wird.) Oder die Lyrik Maximilian Zanders, »kopfloser
Fußgänger in überfüllten Straßen«, dessen Gedichte von knackiger
Frische und dermaßen pfiffig sind, daß sie größere Leserscharen
begeistern dürften: Jüngst erschien der Band »Anthropisch«, der mehr als
hält, was »Antrobus‘ Tagebuch« von 2004 bereits verspricht.
Es kann nicht sein, dass wir in diesen Jahren die Zeitungen aufschlagen
und schon wieder die Namen der üblichen fünf bis zehn Verdächtigen
lesen, Autorinnen und Autoren, die ich sämtlich schätze und deren
Gedichte ich mit Gewinn lese, die aber nicht die außerordentliche
Qualität haben, die ihnen auf allen möglichen Seiten des Feuilletons
nachgeschrieben wird. Sie fahren in einem ziemlich flott fahrenden,
Ausreißer nur episodisch zulassenden Hauptfeld mit zahlreichen jüngeren
und älteren Autorinnen und Autoren aus vielen kleinen und wenigen großen
Rennställen. Warum schauen die Berichterstatter nicht genauer hin, um
die Lage zutreffender als in letzter Zeit zu vermitteln. Oder sind sie
daran nicht interessiert? Auf einem Auge blind? Wo in den
Zeitungsspalten steht etwas über die sprachmächtigen Gedichte des
Luxemburgers Jean Krier, wo über die durchdachte Lyrik des
ungarischstämmigen A. J. Weigoni? Wer verlegt die originellen Gedichte
von Vera-Schindler Wunderlich (nein, sie lebt nicht in Berlin und ist
auch nicht erst in den 80er Jahren geboren)?
Das Lyrikniveau wurde nach mehreren weniger eindrucksvollen Jahrzehnten
seit Ende der 1980er Jahre merklich gesteigert. Aus vielen Versen quillt
die Lust am Formen, Fügen und Verfassen, Träumen, Tüfteln,
Transformieren. Lyrik nach 2000 ist Fortschreibung dessen, was mit
Thomas Klings »geschmacksverstärker« (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989)
endlich wieder durchstartete und aufbrach zu neuen Ufern. Es hat nach
2000 nicht ein Gedichtbuch von Seiten der jüngeren Generation gegeben,
das im Hinblick auf Innovation und Vitalität mit den fünf oder sechs
herausragenden Gedichtbüchern der 90er Jahre, von denen ich exemplarisch
Marcel Beyers »Falsches Futter« (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996)
benenne, zu vergleichen wäre. Ganz zu schweigen von Rolf Dieter
Brinkmanns erstmals 1975 erschienenem, mit brachialer Gewalt auf mich
einstürzenden »Westwärts 1 & 2« (Rowohlt, Reinbek 2005) und Reinhard
Priessnitz‘ Gedichtbuch »vierundvierzig gedichte« (edition neue texte,
Linz 1986), das beim Lesen heftige Pulserhöhungen in Gang setzt. Und wer
unter den preisgekrönten und vom Feuilleton umjubelten Jüngeren wollte
ernsthaft konkurrieren mit Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Oskar
Pastior (um nur die Spitze des Lyrikbergs zu benennen)? Christian
Saalberg? Genug. Ich empfehle notabene die weit ausgreifenden Gedichte
aus »Nach dem Leben« (Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006) der 1942
geborenen Karin Kiwus, die Siggi Liersch mir kürzlich so sehr ans Herz
legte, daß ich nicht umhin konnte, sie stehenden Fußes zu bestellen.
Tour de Force
Gleich zwei Anthologien mit Gedichten der ganz jungen Garde sollen auf
eine Entwicklung aufmerksam machen, die so neu nicht ist. Bereits »Lyrik
von Jetzt« (DuMont, Köln 2003) präsentierte mit Stolz und
Selbstbewusstsein die lyrischen Muskelspiele der jungen Generation, und
was damals nicht schlecht war, muß heute nicht falsch sein. Aber macht
es Sinn? (Zumal der größere Teil der in »Neubuch« vertretenen 25 auch im
Chor der 50 Stimmen von »Lyrik von Jetzt zwei«
singt.) Zum Glück kommt kein erfahrener Herausgeber auf die Idee, etwa
mit »Lyrik von Gestern« und »Altbuch« zu antworten – obwohl darin unter
Umständen formidablere, wirkungsmächtigere Verse anzutreffen wären als
in »Lyrik von JETZT zwei« und »Neubuch«.
Kein Lyrikleser fragt sich ernsthaft beim rundum geglückten Gedicht (das
naturgemäß auf immer blutjung bleibt), welches Alter der Verfasser hat.
Die eine frühreif, der andere spätentwickelt, so what? Wenn überhaupt:
Ist nicht entscheidend, wo ich am Ende stehe? Im übrigen bestreite ich,
daß die Zahl der Gedichte oder vergleichbare Texte verfassenden
Autorinnen und Autoren der 70er und 80er Jahrgänge sich signifikant von
denen der 50er und 60er Jahre abhebt. Meine Erfahrungen sprechen eine
andere Sprache als jene, die in diesen Zeiten, die den Hype als goldenes
Kalb verehren, als poetically correct gilt. Und schon Karl Kraus
schrieb (wie ich in einem Aufsatz von Axel Kutsch lese): »Die Lyriker
vermehren sich wie die Bisamratten«. Mehr noch: Je gelungener ein
Gedicht, um so unwesentlicher der Name des Urhebers. Wenn ich ein Bild
im Museum betrachte, betrachte ich das Bild um des Bildes willen. Der
anschließende Blick auf den Namen ist – sekundär.
Ich bevorzuge – wenn ich wählen soll, was ich zum Glück nicht brauche –
mit Weitwinkelobjektiv gemachte, die ausgedehnte Bandbreite lyrischen
Schaffens im deutschen Sprachraum exemplarisch vor Augen führende
Sammelbände à la »Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik«,
»Der Große Conrady« oder »Der deutsche Lyrikkalender. Jeder Tag ein
Gedicht«, in dem ich heute, am sonnigen 18. September 2008 in Günter
Eichs Gedicht »Ende eines Sommers« die Verse lese: »Wer möchte leben
ohne den Trost der Bäume!« und »Es heißt Geduld haben«.
Nun sind »Lyrik von JETZT zwei«
und »Neubuch« (mit einem munteren Nachwort von Ulrike Draesner) da,
beides fein edierte Bücher. Mit den Auftaktgedichten »Rattenfänger« bzw.
»Rolandslied« schiebe ich zunächst einmal Bedenken von gestern
beiseite, stehe, schwupp, gut gelaunt am Straßenrand und erlebe zwei
zeitgleich gestartete Rennen – die Tour de Force kann beginnen. So etwas
geht nur in der Literatur. Ich habe einmal ein Gedicht gelesen, in dem
die Eisberge untergingen und die Titanic wohlbehalten im Hafen von New
York einlief. Unglaublich, was für Möglichkeiten und Räume Literatur und
Sprache er/öffnen können.
Einzelne Namen aufrufen heißt viele Erwähnenswerte übergehen, die
Teilnehmer bleiben vorläufig unbenannt, und jeder Leser mache sich sein
eigenes Bild. Stahlroß und Reiter werden dort benannt, wo der
entsprechende Raum zur Verfügung steht: In »Aus dem Hinterland. Lyrik
nach 2000« (2005) und »Kiesel & Kastanie. Von neuen Gedichten und
Geschichten« (2008) finden Sie auf insgesamt 832 Seiten Fakten,
Hintergründe, Meinungen und – Namen. Unter denen, die nicht am Start
sind, benenne ich Marjana Gaponenko (1981), Lino Wirag (1973) und Walter
Pucher (1971), drei ausgeprägt eigen/artig Schreibende, deren
wundersame, funkensprühende, wortstarke Gedichte die jeweiligen
Sammlungen zusätzlich bereichert hätten.
Ready – steady – go. Eine/r fährt vom Start weg einen betont rasanten
Stil, geht ungeschützt in den Wind, »das fault sich schnell im Unterleib
und aast dahin«, fährt kühn die Kurven an – »ohne brakesbenutzung
backwards an ne wall sliden«. Das straff durchorganisierte Feld bleibt
dran, »am entfernten horizont das rotieren / des helikopters«. Hier
zieht einer das Tempo an, ich schlingerte, dort wählt jener ein
kleineres Silbenritzel – »in vollen zügen / genieße ich / die fahrt / am
wenigsten« –, mal sehn, was draus wird. Mit dem »Klapprad / Durch das
Niemandsland« fahren die wenigsten. Ziemliche Temperamentsunterschiede,
ein Ruf: »ich mag nicht mal die reime mehr, trete sie mit füßen«, doch
der Pulk funktioniert wie eine vielbeinige Gestalt »im zentrum der
liebe«, die (größtenteils) freimetrisch, »ohne Rücksicht prügelt sich
die Landschaft ins Rückgrat«, (beinah) reimfrei, auf klassische Formen
(fast ganz) verzichtend durch die virtuelle Verslandschaft (»bewohnbare
bauwagengebirge«) schlängelt und »Die Berge, da draußen, verschwinden im
Regen«. So kommt man, kurz- oder langatmig, gemeinsam auf die
Zielgerade dieser flotten, aber nicht aufregenden Etappe, »Paula bückt
sich und zurrt / die Riemchen ihrer Ballerinas fester – fuck it,
sweetheart«, kaum eine ernsthaft böse Attacke, »Der Himmel klart auf«,
keiner tut dem andern weh, »glühwürmchen stoßen / niemals zusammen«,
während man über die Ziellinie fährt »auf dem – so sagt man – harten
Pflaster«. Was sind das für »bieder sind wir doch verschwommen schön/e
Zeiten: im rothaus am see vom wohnwagen aus / guckst du kühe, die
salzleckend grasend / den wald stärken«.
Bei Charles Simic lese ich: »Don’t tell the readers what they already
know about life. Don’t assume you’re the only one in the world who
suffers. Don’t overwrite. The use of images, similes and metaphors make
poems concise. Say the words you are writing aloud and let your ear
decide what word comes next. Remember that what you are writing is a
draft that will need additional tinkering – perhaps many months, even
years, of tinkering«.
»stieg den hügel alter schimmernder buchen / hinauf« Als von Jorge Luis Borges entflammter Grenzlandbewohner (»Von Borges lesen lernen, heißt: eklektisch lesen, den Kanon auflösen, Literatur ohne Chronologie, ohne Geschichte und ohne Nationalität wahrnehmen«, Alberto Manguel), der gern über politische, kulturelle, zeitliche Schranken hinwegliest, finde ich in den zeitgenössischen Gedichten und Geschichten jenseits deutscher Grenzen vielfach mehr Biß und Tiefgang, sie sind kerniger, zwingen, drängen und verlocken, üben immer wieder die unwiderstehliche Wirkung aus, die ich in manchen der guten neuen Bücher im deutschen Sprachraum vermisse. Die angloamerikanische Literatur beispielsweise, die mich seit Jahrzehnten zu spontanen Sprüngen über den Atlantik verführt, versammelt an der Spitze eine Reihe nobelpreisverdächtiger Könner von Weltformat. Persönliche Favoriten in dieser Gruppe sind für die Prosa Philip Roth (dessen in diesen Tagen erschienenem Roman »Indignation« ich entgegenfiebere), gefolgt von John Updike, für die Lyrik Billy Collins im Gleichschritt mit John Ashbery. Mit diesen konkurriert im deutschen Sprachraum in den Jahren nach 2000 allein Friederike Mayröcker, die wahrhaft jüngste Dichterin deutscher Sprache von Weltformat: Zuletzt las ich »Paloma« und wurde wie so oft schon eingefangen von diesen federleichten, luftigen, musikalischen und doch so resonanten Wortmontagen. Ich wünschte, Friederike Mayröcker hätte den Nobelpreis an Elfriede Jelineks statt erhalten, deren kalauerhafte Prosa ich bei weitem überschätzt finde. An die Durchschlagskraft der großen Romane und Gedichtbände auch der jüngeren deutschsprachigen Vergangenheit kommt die deutsche Literatur in diesen Jahren ebenfalls nicht ganz heran. Again: So what?
Ich lese weiter hier im hügligen, grünen, regenreichen Hinterland nahe der belgischen Grenze (fast) alles, was mir vor die Flinte kommt, werfe auch bei Sonnenschein die Angelhaken aus und ziehe neue Bücher an Land: »Scharmützelwetter« wartet mit wider den Lyrikstachel löckenden Versformationen auf, die Sand ins bisweilen vielleicht allzu glatt laufende Getriebe streuen, Ulrike Draesner konfrontiert mich in »berührte orte« mit totallyrischen (Selbst-)Vergewisserungen einer Dichterin, für die Fühlen, Gleichgewicht halten, Hören, Orientierung finden, Sehen, Tasten, Riechen, Schmecken in einer selten nur noch zu be/greifenden Welt, deren vielschichtige [z/er/split/terte] Realitäten kaum mehr zu fassen sind, kraft des Vers/Dichtens der rhythmisch pulsierenden Wortkombinationen haarscharf er/lebbar bleibt, während ich mich von Joachim Sartorius ins weiträumige »Hôtel des Étrangers« entführen lasse, in dem ich mich in Lobby und Lounge von gelöst zwischen Gefühl und Gedanken schwingenden Gedichten verwöhnen lasse: »Mag sein, / daß ich sündhaft neugierig bin«.
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Weiterführend →
Einen Essay über das Tun von Theo Breuer als Herausgeber, Essayist und nicht zuletzt als Lyriker lesen Sie hier.
»Man liest ein Buch. Wie Sterne sind die Bücher der Poeten. So unendlich weit von uns. Und dennoch schimmern sie.«
(Peter Altenberg, »Wie ich es sehe«)
Nico Bleutge, »fallstreifen«, Gedichte, C.H.Beck, München 2008.
Karl Otto Conrady (Hg.), »Der Große Conrady. Das Buch deutscher
Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart«, Artemis & Winkler,
Düsseldorf 2008.
Henri Dor, »Schullandschaft mit Lehrer. Eine Erzählung«, BoD, Norderstedt 2008.
Ulrike Draesner, »berührte orte«, Gedichte, Luchterhand Literaturverlag, München 2008.
Saskia Fischer, »Scharmützelwetter«, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008.
Günter Grass, »Die Box. Dunkelkammergeschichten«, Steidl, Göttingen 2008.
Jürg Halter, »Nichts, das mich hält«, Gedichte, Ammann, Zürich 2008.
Peter Handke, »Kali. Eine Vorwintergeschichte«, Suhrkamp Frankfurt am Main 2008.
Marius Hulpe, »wiederbelebung der lämmer«, Gedichte, Ammann, Zürich 2008.
Sabine Imhof, »Das Alibi der Abwesenheit«, Gedichte, yedermann, Riemerling 2008.
Uwe Kolbe, »Heimliche Feste«, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008.
Jan Kuhlbrodt, »Schneckenparadies«, Roman, Plöttner, Leipzig 2008.
Björn Kuhligk und Jan Wagner (Hg.), »Lyrik von JETZT zwei. 50 Stimmen«, Berlin Verlag, Berlin 2008.
Axel Kutsch (Hg.), »Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik«, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2008.
Friederike Mayröcker, »Paloma«, Prosa, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008.
Shafiq Naz (Hg.), »Der deutsche Lyrikkalender 2009. Jeder Tag ein Gedicht«,
Alhambra Publishing, B-Bertem 2008.
Tom Pohlmann, »Die Geschwindigkeit der Formeln. Gedichte und Prosa«, Edition Mischhaus,
Leipzig 2008.
Joachim Sartorius, »Hôtel des Étrangers«, Gedichte, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
Ulf Stolterfoht, »holzrauch über heslach«, Langgedicht, Urs Engeler Editor,
Basel und Weil am Rhein 2008.
Uwe Tellkamp, »Der Turm«, Roman, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008.
Ron Winkler (Hg.), »Neubuch. Neue junge Lyrik«, Nachwort von Ulrike Draesner,
yedermann, Riemerling 2008.
Maximilan Zander, »Anthropisch«, Gedichte, Silver Horse Edition, Marklkofen 2008.