Über Zeitschriften

Two Cultures

Wenn man die Existenz von Buchverlagen und Feuilletons einmal voraussetzt, so ist nichts (…) für das Gedeihen von Literatur so wichtig wie die Institution der Literaturzeitschrift (Joachim Kalka, in Sprache im technischen Zeitalter, No.179, 2006). Es ist unter Schriftstellern wahrscheinlich wenig bekannt, dass in der anderen der ›two cultures‹, den Naturwisenschaften, Zeitschriften eine eher noch größere Rolle spielen.

Impact Factor

Die bedeutenden Wissenschaftszeitschriften haben gemeinsame Merkmale: Lange, oft jahrhundertelange Tradition, hoher ›impact factor‹, hohe Ablehnungsquote, Sprache: Englisch. Der ›impact factor‹ ist ein Maß für die Häufigkeit, mit der in der Zeitschrift veröffentlichte Arbeiten in anderen Zeitschriften zitiert werden. Ein hoher ›impact factor‹ setzt in der Regel eine hohe Ablehnungsquote voraus: Für die scientific community weniger interessante Arbeiten werden seltener zitiert. Doch ist das Konzept der Qualitätsbewertung von Zeitschriften auf Basis des ›impact factors‹ nicht unumstritten.

Natürlich kann es für Literaturzeitschriften keinen ›impact factor‹ geben. Die Qualitätsbewertung erfolgt hier in gelegentlichen Rezensionen und durch interne Meinungsbildung von Lesern und Autoren. Die Häufigkeit, mit der bekannte Namen im Heft auftauchen, ist für viele Literaturliebhaber ein Indikator für die Qualität der Zeitschrift.

Überflutet

Es gibt nicht viele Autoren, die Publikationserfahrungen sowohl mit Wissenschafts- als auch Literaturzeitschriften haben. Der amerikanische Chemiker Roald Hoffmann  (Nobelpreis für Chemie 1981) hat in Wissenschaftszeitschriften seine grundlegenden wissenschaftlichen Ergebnisse publiziert und in Literaturzeitschriften Gedichte. In einem Interview (2004) sagte er, dass selbst in sehr anspruchsvollen Wissenschaftszeitschriften mindestens 35 % der eingereichten Arbeiten angenommen/publiziert werden, während in einem average literary journal, far from the best, the acceptance rate for poems is less than 5%. Das gilt tendenziell sicherlich auch heute noch und ist nicht überraschend: Es werden natürlich weit mehr Gedichte geschrieben und eingereicht als naturwissenschaftliche Arbeiten. Die allgemeine ›Anything-goes‹-Stimmung, der fehlende Widerstand des Publikums und die zunehmende Elastizität der professionellen Kritik sind die gegenwärtige Lyrikproduktion fördernde Umstände. Möglicherweise werden die Redaktionen der Literaturzeitschriften heute mit mehr Lyrikeinsendungen überflutet als je zuvor.

Die Vielfalt

der deutschsprachigen Literaturzeitschriften ist außerordentlich und eigentlich nicht überschaubar. Auch die im Netz zugänglichen Listen von Literaturzeitschriften sind einerseits nicht vollständig und enthalten andererseits Zeitschriften, die höchstens noch in der Erinnerung existieren. Neben den wenigen großen traditionsreichen Zeitschriften gibt es eine Unmenge von ›little mags‹. Viele davon sind sehr interessant oder waren es, und manche haben in der zeitgenössischen deutschen Literatur eine wichtige Rolle gespielt. Ein Beispiel sind die Lyrischen Hefte. Diese Zeitschrift für Gedichte, wie sie im Untertitel hieß, wurde 1959 von Arnfrid Astel  begründet  und von ihm bis 1971 begleitet. In direkter Nachfolge gingen die Lyrischen in die Literarischen Hefte unter wechselnder Herausgeberschaft über. In den Heften haben nahezu alle wichtigen Autoren aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts publiziert, beispielsweise Nicolas Born, Hans Magnus Enzensberger, Karl Krolow, Jürgen Theobaldy und Martin Walser.

Die Unterschiede

zwischen naturwissenschaftlicher und literarischer Tätigkeit und ihren Ergebnissen spiegeln sich auch in den Zeitschriften, besonders deutlich, wenn man die Texte in Lyrikzeitschriften mit denen in naturwissenschaftlichen Journalen vergleicht. Gedichte sind abgeschlossene Gebilde, die Texte experimentellen oder theoretischen Inhalts in Wissenschaftszeitschriften sind das nur in seltenen Fällen; in der Regel sind es Berichte über Teilstücke größerer (oft zunächst nur geplanter) Projekte, die vom Autor selbst oder im Glücksfall auch von anderen fortgeschrieben werden. Auch die inhärente (und überhaupt nicht beklagenswerte) Fremdheit zwischen den ›two cultures‹  wird nirgends deutlicher als in deren Publikationen und ihrer Rezeption. Dem Prototyp des Naturwissenschaftlers eignet eine durch Erziehung erworbene und lebenslange Übung verinnerlichte Abwehrhaltung gegenüber Erzeugnissen intellektueller Anstrengung, für die sich keine objektiven und überprüfbaren Qualitätskriterien definieren lassen. Er kennt auch kein ›naturwissenschaftliches Ich‹; seine Texte werden von einer geschlechtslosen (englisch sprechenden) Überperson erzeugt, deren Name ›Man‹ ist. Und schließlich: Alles, was mühelos und ohne größeren Zeitaufwand aufs Papier gebracht werden kann, ist für ihn sowohl des Selbst- wie des Fremdbetrugs verdächtig. Leicht einsehbar, dass die Lyrik für ihn eine fremde Welt ist.

Aufbäumen

Über der Landschaft der Literaturzeitschriften steht in großen Lettern: Sie betreten hier heraklitisches Gelände. Literaturzeitschriften werden geboren, sind eine Weile lang sehr lebendig und verschwinden wieder. Das gilt nicht nur für ›little mags‹ sondern manchmal auch für große traditionsreiche Journale. NDL – Neue Deutsche Literatur – wurde 1952 in der DDR begründet und verschwand (inzwischen hochglanzpoliert) 2004. Eine wunderbare Zeitschrift. Ein Jahr später erschien die großartige NDL-Anthologie small talk im holozän (deren geplante Fortsetzungen nie erschienen) – ein letztes Aufbäumen, dann nichts mehr.

Auf wundersame Weise wiederkehren …

Das Schicksal kleiner Zeitschriften ist oft an das persönliche Schicksal ihrer Herausgeber gebunden. Einmann-Unternehmen, kein Apparat. Ein Bruder fällt die Treppe herunter, die Zeitschrift verschwindet. Die Ehefrau läuft weg, die Abonnenten blicken ins Leere. Doch Leser und Autoren geben die träumerische Hoffnung nicht auf, dass manche Zeitschriften auf wundersame Weise wiederkehren werden: Faltblatt, Hirschstraße, Muschelhaufen, Lose Blätter …