Der Essay, Comeback eines literarischen Versuchsfelds

Im Blick auf den Geistreichtum eines guten Essays kann man den Essay als den großen Bruder der Twitteratur auffassen.

Apodiktische Postulate sollte man mit größter Vorsicht genießen. Die These Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch entstammt dem Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft, den Theodor W. Adorno 1949 schrieb und 1951 erstmals im Rahmen einer Festschrift für den Soziologen Leopold von Wiese veröffentlichte. Vergleichbar ist die Situation fast dreißig Jahre nachdem Philip Larkin den Tod des Essays verkündet hat, es erscheinen mehr Essaybände als je zuvor.

Aber sind es wirklich Essays?

Die Frage ist nicht neu, die Redaktion stellte sie bereits vor 10 Jahren. Wiederholt versucht KUNO den Bestand der Gegenwartssprache zu sichten. Der Essay vollzieht eine Bewegung, die durch die Erinnerung hindurch zugleich ins Offene, Unbegrenzte, Ungebundene, vom 16. ins 21. Jahrhundert hinein führt. Das KUNO-Online-Archiv zeigt Wegmarken in der Biographie von Nonkonformisten auf.  Ein Essayist beherrscht die Technik des sezierenden Chirurgen, so lesen wir Hyperions Rede wie einen Gegenbrief zu Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen mit ihrer Autonomieerklärung und Ganzheitsbestimmung des Menschen. Die Reflexion ist eine Erinnerung in doppelter Faktur, sie erinnert nicht nur Erlebtes, Verlorenes, sondern erinnert sich, an was einst war und sein wird. Sie ahnt das Zukünftige. Erinnerung und Ahnung, das können wir seit 500 Jahren in Essays lesen. In diesem Jahr versuchen wir abermals die Evolutionsgeschichte des Essays zu vervollständigen. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv.

Wo die neuen Essayisten die Realität fiktionalisieren, um ein Image aufzubauen, benutzt Heti angeblich reale Menschen und sogar Dokumente – Emails, mitgeschnittene Unterhaltungen – um das klassische fiktionale Projekt des Bildungsromans, die Bildung eines genuinen Selbsts, zu forcieren. Die Ernsthaftigkeit ihrer Suche wird belegt durch ihre Bereitschaft, ihrer Romanfigur ‚Sheila Heti‘ zu erlauben, wirklich – nicht lustig – grandios, dumm und narzisstisch zu sein, wie es ein konventioneller Essayist sich niemals trauen würde.

Adam Kirsch beugt sich kritisch über die neuen Bücher von Davy Rothbart, Sloane Crosley und ihr Vorbild David Sedaris und stellt fest, dass sie eher Humoristen sind, die „kurze, lustige Klatschgeschichten darüber erzählen, was ihnen alles für merkwürdige Dinge passiert“ sind. Dafür erfinden sie, so Kirsch, ein fiktionales Alter Ego, das ihren Namen trägt und sich nett idiotisch benimmt. Kirsch geht das auf die Nerven. Er empfiehlt als Antidot Sheila Hetis Roman How Should a Person Be?:

»Gibt es eine Zukunft für die Literatur oder werden die Geschichten der Zukunft nur noch per Copy and paste aus Versatzstücken gebastelt?«, fragt KUNO im laufenden Essaywettbewerb.

Ähnliche Textarten, teilweise auch synonym verwendet, sind Traktat und Aufsatz. Verwandte journalistische Darstellungsformen sind die Glosse, die Kolumne, der journalistische Kommentar und der Leitartikel.

KUNO erwartet einen Text, der mindestens 5.000 Zeichen, höchsten 10.000 Zeichen haben sollte. Ausgesuchte Essays werden auf KUNO vorgestellt. Die drei mutigsten Essays werden mit einem künstlerisch gestalteten ‚Bücherregal’ von Haimo Hieronymus + Buchbestückung von der Edition Das Labor ausgezeichnet (Marktwert 500,- Euro).

 

Einsendungen per eMail an: Matthias-Hagedorn@gmx.de

Weiterführend →

KUNO hat ein Faible für die frei drehende Phantasie. Wir begreifen die Gattung des Essays als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auch ein Essay handelt ausschliesslich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit. Wir betrachten Michel de Montaigne als einen Blogger aus dem 16. Jahrhundert. Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommen­tie­rung der Welt­lage zur Dauer­beschäf­tigung erhob. Seine Zeit­schrift „Die Fackel“ war gewisser­ma­ßen der erste Kultur-Blog. Die Redaktion nimmt Rosa Luxemburg beim Wort und versucht in diesem Online-Magazin auch überkommene journalistische Formen neu zu denken. Enrik Lauer zieht die Dusche dem Wannenbad vor. Warum erstere im Spätkapitalismus – zum Beispiel als Zeit und Ressourcen sparend – zweiteres als Form der Körperreinigung weitgehend verdrängt hat, ist einer eigenen Betrachtung wert. Ulrich Bergmann setzte sich mit den Wachowski-Brüdern und der Matrix auseinander. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein weitere Betrachtungen von J.C. Albers. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.