Am Anfang war der Big Bang? Nicht ganz. Denn auch der Big Bang fing mal klein an – als
Singularität. So bezeichnet man den Ausgangspunkt von allem, den absoluten, also
von allem losgelösten Nullpunkt unseres Seins. Er ist ohne jede Dimension. Aber
dabei nicht Nichts. Sondern Alles. Schließlich konzentriert sich hier all das,
was im All ist. Allerdings noch ohne Raum und Zeit: Beides ist eins, zwei
Seiten einer Medaille und Resultat der kosmischen Initialzündung, der Inflation
vulgo Urknall. Insofern ist jede Frage nach der Genese der Singularität
obsolet, denn sie impliziert eine zeitliche Dimension, ein Vorher, eine
Konstitution von Allem in eben dieser nicht dimensionalen Singularität. Obsolet
schon deshalb, weil logisch unmöglich. Oder zumindest: für uns undenkbar.
Wie gesagt: Erst in
der Inflation, der überlichtschnellen Expansion im Urknall, wurde Raum und eben
auch Zeit geboren. Vor der Zeit gab es keine Zeit. Und damit auch kein ‚Vorher’.
Aber dennoch stellt sich uns doch arg beschränkten Wesen die kindlich-naive
Frage: Woher kommt bloß diese Singularität? Wie und durch was oder wen wurde
sie erschaffen? Creatio ex nihilo, erschaffen aus dem Nichts? Die Wiederkehr
des ewig Gleichen, ein unergründlicher Kreislauf von Singularität, Inflation,
kosmischer Expansion, Implosion und maximale Reduktion in einem Schwarzen Loch
unbeschreiblichen Ausmaßes – eben der Singularität? Ein infiniter Regress, eine
Reductio ad absurdum?
Oder ist die
Singularität vielleicht doch kraft einer göttlichen Instanz? War es ein
göttlicher Wille, ja Gott selber, der in einem imperativen, deklamatorischen
Akt der Finsternis ein Ende setzte: ‚Es
werde Licht!’ ? Eine erhebende, geradezu erhabene Vorstellung, insbesondere
zu Ostern. Da, wo das Wissen endet, beginnt der Glaube. Aber wie’s der Teufel
so will, nimmt er just in diesem Moment Gestalt als Descartes an. Und nährt den
Zweifel: Am Anfang war das Wort?
Das Wort: der
Logos. Rede. Erzählung. Behauptung. Gott selbst. Gottes Wort. Sein ewiges
Denken. Weltgeist. Christus. Lehre. Vernunftprinzip. Ja: die Vernunft als
solche. Das finale Ende der Ödnis durch Gottes linguistic turn. Die Schöpfung:
ein Sprechakt? Die Singularität als das Wort Gottes, der Logos als
archimedischer Punkt: Gib mir einen Punkt, wo ich sicher stehen kann, und
ich erschaffe die Welt.
So etwas vermag nur
Gott. Oder ein Gott. Aber kein Mensch, auch kein Archimedes. Was ist aber nun mit
denen, die Xenophanes und seine spöttische Rede von den kuhischen Göttern der
Kühe, den pferdischen der Pferde und den menschlichen der Menschen im Ohr haben?
Die sich seitdem so gar nicht mehr einen personalisierten Gott vorstellen
können, schon gar keinen sprechenden?
Wer so an Gott zweifelt,
muss nicht verzweifeln. Ganz im Gegenteil. Denn gerade im Moment seines größten
Zweifels hat der Zweifelnde eine unbezweifelbare Gewissheit: Dubito ergo sum, ich zweifle, also bin
ich. Mein Zweifel ist es, der mir die
Gewissheit konstituiert, dass ich bin.
Dies ist mein ganz persönlicher archimedischer Punkt, der es mir sogar erlaubt,
einen Schritt weiter als Sokrates zu gehen: Dank meines Zweifels weiß ich
etwas. Nicht viel vielleicht. Aber das für mich Wichtigste: Ich bin. Diese Einsicht lässt mich selbst-bewusst werden. Und gleichzeitig
unendlich demütig.
Das
kann sich gegebenenfalls noch als ganz hilfreich erweisen. Bietet diese
Demut doch einen gewissen Schutz vor der selbstgefälligen
Arroganz eines jedes Wahrheitsanspruchs. Und dabei handelt es sich nach
aktuellem Stand derzeit um 7.320.406.253 im Zweifelsfall miteinander
konkurrierende
Wahrheitsansprüche. Genauer gesagt, um 7.320.406.581. 7.320.407.497.
7.320.408.620.
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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2016
Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.