Punktgenaue Poesie

Wer ein grossartiges Buch liest, flüchtet nicht vor dem Leben, sondern taucht tiefer ins Leben ein.

Julian Barnes

Zur Lyrik gehört das Subjektive, der unverstellte Blick aufs Einzelne, Einmalige. Paßt diese Herangehensweise zu einer Anthologie? Diese Zusammenstellungen können eigentlich nie befriedigen. Jeder Lesende wird irgendetwas anderes vermissen, was seiner oder ihrer Meinung nach unbedingt zum Thema und somit in eine Textsammlung gehören würde. Sie sind immer irgendwie unvollständig, müssen sich zwangsläufig auf der Oberfläche bewegen, taugen gerade mal für den Ferienkoffer oder als Verlegenheitsgeschenk. Der ungeduldige Leser kann die schlechten Gedichte besten Gewissens überspringen, der Geduldige sich dafür bei der Poesie umso länger aufhalten. Keine Anthologie hat Anspruch auf Vollständigkeit, jede kann jedoch Tendenzen aufzeigen, kann versuchen, einen groben Überblick zu verschaffen und so, im besten Falle, zum Weiterlesen animieren.

Irgendwo in der Mitte des Buches oder der Reihe  Versnetze einzusteigen ist genauso möglich, wie die Unart, das letzte Kapitel zuerst zu lesen. Insofern ist es ein ziemlich mutiges Unterfangen von Axel Kutsch unermüdlich am Projekt Versnetze zu arbeiten. Glücklicherweise sieht der Herausgeber die Einschränkung deutsche Lyrikszene nicht zu eng, es sind auch deutschesprachige Gedichte aus dem europäuschen Ausland zu finden. Diese Anthologie-Reihe ist eine Re-Konfiguration der Subjektivität in Zeiten einer nicht mehr beherrschbaren Fülle an subjektivitätskonstituierenden und gleichzeitig unterminierenden Kräften. Zukunftsangst und Verlorenheit werden in diesen Gedichten nicht nur in kurzen Momenten eingefangen, sondern vielschichtig und reizvoll dargestellt. Ernste politische Gedichte stehen neben witzigen Gedichten und wir finden vieles bis hin zu lautmalerisch verspielten Texten. So eignet sich diese Reihe als Einstieg für jeden, der sich mit aktueller Lyrik befassen will. Es wird aber auch ein erfahrener Leser unter den rund hundert Autoren eine lohnenswerte Neuentdeckung machen können.Eine Gemeinsamkeit dieser Gegenwartslyrik besteht darin, daß all diese Lyriker üben, das Leben auszuhalten. In vielen Gedichten bleiben die Enden dabei offen und erfordern vom Leser eine Bereitschaft zum Weiterdenken, damit dieser einen Nachhall verspürt wie Sinngebung im 21. Jahrhundert funktioniert.

 

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Versnetze_neun, Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, Hg. Axel Kutsch, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2016.

Weiterführend

Axel Kutsch erweist sich als Meister der Twitteratur. Aus dem Band Versflug, präsentiert KUNO in 2016 ausgewählte Kurz-Gedichte aus den Jahren 1974 bis 2015, keines länger als 140 Zeichen! Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.
Lesen Sie auch die Gratulation von Markus Peters zum 70. Geburtstag auf KUNO. Eine  Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland hier.