Retoure

Nicht normal

An einem luftigen Morgen fragt Kraus, aus wie vielen Büchern etwa die von mir so genannte ›Installation‹ mittlerweile bestehe. Gut zehntausend, antworte ich nach kurzem Überlegen und wun­dre mich im selben Augenblick, daß ich in der vergangen Nacht wieder bis weit nach Mit­ternacht gelesen habe und dennoch heute morgen schon kurz nach sieben aufge­standen bin, um gleich wieder zu lesen, obwohl die Augen immer noch schmerzen. »Das ist nicht normal«, würde Tommy, Held des komischen Film­spektakels Voll normaal, mit nachdenklicher Miene und geschürzten Lippen meinen, und er hätte total recht. Die Welt der Kunst und der Phantasie ist die wahre, the rest is a nightmare, schreibt Arno Schmidt, und ich habe des öfteren schon versucht, Menschen klarzumachen (warum glaubt mir das eigentlich keiner?), daß ich mich in erster Linie um eines kurzen Moments bloß der Mühsal des Lesens unter­werfe – und das ist schon immer so: Es ist der Augenblick, in dem das Buch seinen Platz innerhalb der Installation findet, die sich übers ganze Haus mit Schwerpunkt Lyrikkabinett und Prosa­zimmer erstreckt. Gerhard Jaschkes Bonmot Die Weltbude ist nicht nur ein Ort, sondern eine Lebensart paragrammiere ich zu: Die Installation ist nicht bloß ein Wort, sondern eine Lesensart.

Retoure

So werden die Räume, naturgemäß, von Woche zu Woche enger.Wohlweislich fragt Christa Wißkirchen, bevor sie das Buch Retoure schickt, am Tag zuvor per E-Mail an, ob ich wohl noch einen Zentimeter Platz habe für ein Buch, das 2009 von Christina Yaghmaei und ihr im Kunstanstifter Verlag erschienen sei und mich vielleicht interessieren könnte. Ich gehe mit dem Zoll­stock an die betreffende Stelle, messe aus und jubiliere: Ja, es wird noch einmal gut­gehn. Ich vergesse die Anfrage im Verlauf des Tages, der geprägt ist vom sich mehr und mehr verbreitenden Duft eines riesigen Sonnenblu­men­kopfs, den die befreundete holländische Nachbarin Sofie vorbei­bringt, der Arbeit an Gedicht und Essay sowie der Lektüre von Alan Judd und Marlene Streeruwitz, deren Buch Lisas Liebe ich in der vergange­nen Nacht um 1:37 Uhr aus der Hand lege, als die Buchstaben vor meinen Au­gen zu verschwim­men beginnen (während draußen ein Gewitter blitzt und tobt), um es heute morgen früh um sieben, eingedenk Max Beckmanns Diktum, das Leben sei nur eine Szene im Theater der Unendlichkeit, wieder in die Hand zu nehmen.

Nicht wahr

Ich unterbreche das Lesen am gestrigen Spätnachmittag, als mir wäh­rend der Lektüre von Alan Judds The Kaiser’s Last Kiss unvermittelt klar wird, daß bei der angloamerikanischen Literatur zwischen den Buchstaben J und K nicht mal mehr ein Zentimeter Platz mehr ist und ich also dessen beraubt werde, was mir gleichsam sakrales Ritual ist. NEIN. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Ich rase ins Prosa­zimmer, sehe mich um, greife blindlings nach Guillaume Apollinaires Die Quais und die Bib­liotheken und lese: »Vom Herumlaufen in fremden Städten wurde ich oft furchtbar müde«, sagte er, »und um mich auszuruhen, um mich zu Hause zu fühlen, ging ich in eine Biblio­thek.« Und ich erkenne, daß ich durch eine große und aus ver­schiedenen Gründen sinn­volle Umstellak­tion (die rund drei Stunden in An­spruch nimmt) ein letztes Mal Platz für kommende Bücher schaffen kann – und zwar nicht nur im Bereich der englischen und ameri­kani­schen, sondern auch der deutschsprachigen Literatur, wo die Bücher Friederike Mayröckers nun auch ihre mit Linolschnitt von Karl-Friedrich Hacker, Kaltnadelradierung von Vroni Schwegler und Aquarell von Marion Steinfellner bereicherte Nische ›gewonnen‹ haben. Wow. Als Mrs Columbo abends nach Hause kommt, zeigte ich ihr, beseelt von meinem Tun, das Ergeb­nis. Sie lächelt und greift sich Herta Müllers Niederungen aus dem Regal.

Kiesel und Kastanien

Nun muß ich, bevor ich diese ohnehin bereits viel zu sehr aufgeblähte Be­schreibung eines Phänomens, das doch ausschließlich für mich allein von Inte­resse ist (obwohl auch Bensch sich gern hier aufhält), endlich zu Ende geht, noch einmal betonen, daß ich diese beiden mit Büchern gefüllten gegenüberliegenden Räume nicht als Bibliothek sehe, sondern als Installation, in der Buch, Bild und Ton (in diesem Au­genblick sind es die Klänge von Schuberts fünfter Sinfonie, die durch den Raum hallen) grundsätzlich gleichARTige Rollen spielen, ganz zu schweigen von den Kieseln und Kasta­nien, die an ver­schiedenen Stellen, und zwar keineswegs als Lückenbüßer, zu ent­decken sind. Das Blau ist das Gelb des Rots. Lese ich bei Pierre Garnier. Jeden­falls: Nach der Umgestaltung bleibt eine kleine Stelle frei (der eben noch ausgemessene Zentimeter ist längst der Metamorphose der Installation zum Opfer gefallen), an die ich ein schönes Buch zu legen wünsche, eine Stelle, an der die Installa­tion noch nicht voll­kommen, dem entspricht wie ich sie mir vorstelle. Und dort liegt nun, voilà, das bildschöne, farben­prächtige, formen­reiche, wortstarke Buch Retoure von Christina Yaghmaei und Christa Wißkirchen, ein Bilder- und Le­sebuch mit keramischen Bildplatten von Christina Yaghmaei und Texte von Christa Wißkir­chen, das 59 Seiten umfaßt und 2009 im Kunstanstifter Verlag in Mannheim erschienen ist und das ich mit Freude gelesen und mit Lust betrachtet habe.

 

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Zuletzt erschienen:

Scherben saufen. Gedichte von Theo Breuer. Lyrikreihe Bd. 129. Pop-Verlag 2019

Zischender Zustand . Mayröcker Time von Theo Breuer. Reihe Lesezeichen Band 1 – POP VERLAG, 2017

Friederike Mayröckers Texte radikalisieren die Frage nach der Autorschaft. Sie suchen nicht nach einer Personalisierung, sondern führen eine Bewegung in den Text ein, die den Ursprung der Rede  unbehaftet läßt. Bei ihr wird das Konzept der Herrschaft über einen Text zugunsten einer unüberschaubaren – nur zeitweiligen – Perspektivierung aufgelöst. Mayröckers „Liebesspiel mit der Sprache“ kennt keine logischen Grenzen, es sucht und findet „das zärtliche Durchwachsensein grenzüberschreitender Honigkeiten“. Daß diese sprachlich avancierte Lyrik eine starke Wirkung auch auf die jüngeren Autorengenerationen ausübt, ist nicht verwunderlich. In sprachreflexiven Gedichten österreichischer und auch deutscher Lyriker (wie beispielsweise Thomas Klings und Sophie Reyer) ist ihr Einfluß spürbar. In Mayröckers Texten ist Autorschaft keine in der Verkleidung einer Erzählung mit Figuren und deren Entwicklung verborgene Frage, sondern artikuliert sich in der Frage nach Herkunft, Status und Professionalität des Schreibens. Diese Befragung möglicher Autorschaft wird von Theo Breuer in seinem Gebrauchslesebuch als Hyperautorschaft gelesen. Dieser Zischende Zustand ist eine spektakuläre, hyperaktive Hommage, die zu explodieren scheint vor Einfällen, Einsprengseln und Meta-Reflexionen und es doch immer wieder schafft, Inseln zum Verharren in den sprudelnden Textfluß einzubauen. So elegant und witzig kann eine schreibende Selbstvergewisserung sein, und ebenso geistreich und anregend ist dieses journalistische Produkt. Die beim ersten Band in der Reihe LESEZEICHEN versammelten Texte sind literarische Kleinode und damit das Beste des Genres; kaum einer Reflexion gereicht das hohe Tempo, das typisch für das Feuilleton ist, zum Nachteil. Niemand wird an diesen essayistisch-poetischen Reflexen einer Mayröckerrezeption (und immer wieder darüber hinaus) vorbeikommen – außer Stan Libuda.

Weiterführend →

Einen Essay über das Tun von Theo Breuer lesen Sie hier.