Jeder gesunde Mensch kann leicht drei Tage ohne Nahrung leben; ohne Poesie – niemals …
So steht es, black on white, in einem frisch gedruckten Prospekt für Lyrik geschrieben. Ich will es nun ganz genau wissen und lese, nach langer Zeit einmal wieder, Charles Baudelaires Rede Aux Bourgeois im originalen Wortlaut von 1846. Während der Lektüre des vollständigen Satzes – Vous pouvez vivre trois jours sans pain; – sans poésie, jamais; et ceux d’entre vous qui disent le contraire se trompent: ils ne se connaissent pas – schlage ich mir prustend auf die Oberschenkel: Der Bourgeois mag Baudelaire meinetwegen Anmaßung · Bosheit · Chuzpe · Dreistigkeit · Erbarmungslosigkeit · Frechheit · Gemeinheit · Hoffart · Impertinenz · Jähzorn · Keckheit · Lümmelei · Mißachtung · Niedertracht · Obsession · Pöbelhaftigkeit · Quälerei · Respektlosigkeit · Schamlosigkeit · Tollkühnheit · Unverfrorenheit · Vermessenheit · Willkür · Zynismus unterstellen bzw. zur Last legen, aber das ist es, das ist es: – sans poésie, jamais, und Leute, die das Gegenteil behaupten, kennen sich nicht. Auch ich weiß, daß wir zwar einige Tage lang ohne Brot leben können (In der Not / eß ich Butter ohne Brot war ein gern gewählter Zweizeiler in von Armut geprägten Kindertagen, und schon war der leere Magen wieder ein wenig besänftigt), aber niemals ohne die poetischen Momente im alltäglichen Leben, die wir immer und überall antreffen. Kürzlich fallen mir Spaghetti aus der Packung auf den Küchenboden – was für ein ›großartiger‹ lyrischer Augenblick.
Ölfleckornamente
Farbenfrohe Kinder aus den Nachbarhäusern malen bunte Bilder, wilde Wörter, zackig Zeichen auf angerauhten Teer der angegrauten Straße, Regen spült Kreide weg, kaum dringt Sonne durch, ist Wasser abgeflossen, malen helle Mädchen unverdrossen, beruhigen auf diese Weise, naturgemäß und sehr, Verkehr – und auf die leise Schnelle ist alles wieder neu: GEIL. Verschmitztes Lachen. Ich registriere die Ölfleckornamente im Asphalt der Straßen, die Kieselsteinmosaike, die ich in großen Städten an diesen Ecken und Enden nicht unbedingt vermuten würde: Getreu Erika Burkarts Worten orte, einen stein mitnehmen und ein herz dort lassen sammle ich stets den einen oder anderen abseitig liegenden Kiesel auf, um ihn der Stone Art, an der ich unter Verwendung von mittlerweile vielen tausend winzigen, kleinen, mittleren und großen in Feld, Wald, Wiese, Dorf und Stadt gefundenen Natursteinen auf unserem Anwesen in der Sistiger Wolfskaul auf einer Fläche von rund tausend Quadratmetern seit 1984 arbeite, einzuverleiben.
Singen und summen
Wie faszinierend vermeintlich ›fehlerhafte‹ Floskeln von (Klein-)Kindern oder Menschen zu vernehmen, deren Muttersprache nicht deutsch ist. Köstliche Kakophonie im Kölner Hauptbahnhof am Sonntagabend. Vor Wochen die Keile verspäteter Graugänse im Himmel. Die noch warme Nachmittagssonne blendete, ich wurde ruhiger, fühlte, wie der Steg sich unter mir bewegte, sah Spiegelungen in der Ferne, gebrochene Binsen und Schilfe in der Nähe, sie trieben neben mir. Die verdickten Ringe an ihren Stängeln dort, wo die Gewächse besonders stabil scheinen, glühten rot; kreuz und quer lagen sie, schwebten im Wasser, beschaukelten die Halme, die noch rauschten. (Ulrike Draesner) Ich erlebe, wie junge und alte Menschen Lieder (Songs) hören, singen, pfeifen, mit Wörtern spielen, Sprüche klopfen, Verse schmieden, Witze machen. Und wenn Özil ∙ Khedira ∙ Podolski spielen, singen und summen in diesem Lande lebende, offenbar fußball- und lyrikverrückte Menschen – Seid umschlungen Millionen! – ein Gedicht, das 1841 auf Helgoland entstand, in Joseph Haydns kaiserlicher Vertonung mit. (Fragen Sie Michael Lentz.)
Fröhliche Urständ
Wir Wiener Waschweiber wollen weiße Wäsche waschen, wenn wir wüßten, wo warmes Wasser wär, höre sie pointiert und bildhaft sprechen, und wie viele Menschen pflegen einen persönlichen Refrain, der (oft wahrscheinlich ohne sich dessen bewußt zu sein) regelmäßig das Ende der Aussage markiert, die gängigsten und abseitigsten rhetorischen Figuren tollen sich in Sätzen, Tropen verstecken sich in den Wörtern des Alltags, der, zum Vorteil der Verse, die Fundgrube schlechthin für Gedichte geworden ist, das Paragramm feiert fröhliche Urständ, lese auf der Verpackung von SalbuBronch: Zur Erheiterung der Bronchien, antithetisch · brachylogisch · chiasmisch · dysphemismisch · elliptisch · floskelhaft · geminationisch · hyperbolisch · ironisch · klimaktisch · lautmalerisch · metaphorisch · neologisch · oxymoronisch · paronomasisch · repetitorisch · synästhetisch · tautologisch · untertreibend · vulgär · wortspielerisch · zynisch geht es zu in der Sprache von Feinden, Fremden, Freunden und Verwandten, daß mir Hören und Sehen vergeht – »usw.« ∙ usw. ∙ usw. –
By the way
Allen Menschen, die sich unpoetisch stur, starrköpfig und im übrigen stets ohne jede Not ein unlyrisches Naturell unterstellen, weise ich, egal, ob wir uns auf einem Fest, im Flur, in der Kneipe, auf der Autobahn, im Wald, an der Tankstelle, in der Sauna (wo ich noch nie war, was Kraus und Edith für einen folgenschweren Fehler halten), im Büro, unter dem Straßenschild Maler-Bock-Gäßchen in Köln, im Lyrikkabinett, am Strand, in der Röhre beim gemeinsamen Lesen des Telefonbuchs: Grünbein ∙ Hübsch ∙ Rautenberg, auf dem Mond, im Klassenraum befinden, innerhalb kürzester Zeit nach, wie lyrisch (oder antilyrisch) sie sich in dieser und jener Wendung ausdrücken oder wie poetisch sie offenbar das eine oder andere Phänomen empfinden, und ich rufe ihnen mit Baudelaire zu: Vous êtes les amis naturels des arts. And, by the way: the greatest poem is the human nervous system. (Stanley Moss)
Ich höre ›papperlapapp‹?
Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.
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Ein Hinweis auf: Scherben saufen. Gedichte von Theo Breuer. Lyrikreihe Bd. 129. Pop-Verlag

Rund 70 Gedichte aus den Jahren 2013 bis 2019 werden in Theo Breuers neuem Gedichtbuch Scherben saufen versammelt. Schon der Titel verrät die paragrammatisch-parodistische Ausrichtung des Lyrikbands mit den vielen »kleinen Verschiebungen«, in dem der Himmel voller Schweigen hängt und sich im Witzkrieg am Ende alle kaputtlachen. In (un-)gereimten, heiter bis molkig wetternden Rollengedichten werfen Bensch, Kraus, Peer Quer und Mrs Columbo derart ungestüm die Buchstaben um, als wären sie beim Kegeln in der Kneipe. Ob schnurzgepieptes Ein- oder Zweiwortgedicht, salopper Vierzeiler, sprachspielerisch montiertes Sonett oder sturzbächliches, bisweilen über mehrere Seiten dahinrauschendes Poem: Stets geht es dem Autor s∙u∙c∙h∙s∙t∙ä∙b∙l∙i∙c∙h um Silbe und Wort, Stimme und Sprache, um Klang, um Schwingung, um Sound. In Scherben saufen findet der Leser Gedichte von wildschöner, quirliger Lebendigkeit – mit atmenden, brausenden, brodelnden, hechelnden, perlenden, sprudelnden, schäumenden Versen.
Weiterführend →
Einen Essay über das Tun von Theo Breuer lesen Sie hier.