Erinnerungen sind Phantomschmerzen der Seele

Wer über den Tod geistreiche Dinge sagen kann, wer das über sich bringt, der verdient ihn.

Elias Canetti

Gute Fiktionen vermögen verborgene Zusammenhänge herzustellen und neues Licht auf ein scheinbar bekanntes Geschehen zu werfen. Weigoni erzählt er aus dem zerrissenen inneren Deutschland heraus. Diese Bruchstücke aus dem Hinterland sind so montiert, daß das Leben im Rückblick nicht in unzählige Einzelbilder zerfällt. Die Fragmente sind so zusammengefügt, daß sie dort Sinn stiften, wo doch alles ohne Folgerichtigkeit geschehen ist. Es sind Versuchsanordnungen, in denen die Regeln der Wirklichkeit durchbrochen werden. Man lent Figuren kennen, die vor ihren eigenen Unzulänglichkeiten davon laufen. Das beginnt mit Fitnesswahn und endet in ihren Sexualitäts– und Liebeswelten. Das Rheinland ist eine Gesellschaft, die einen Qualitätsstandard an Körperlichkeit und Liebe legt, es ist zwangsläufig eine Gesellschaft der Enttäuschung und Frustration sein. Weigoni verwandelt die Rheinländer zu Typen, die so wirken, als seien sie immer schon da gewesen.

Diese Gegend hat mich kaputt gemacht und ich bleibe so lange, bis man ihr das anmerkt.

Herbert Achternbusch

A.J. Weigoni hatte einen intellektuellen Scharfsinn, der gerade vor dem Alltäglichsten nicht haltmacht, und die sprachliche Genauigkeit und Assoziationskraft des erfahrenen Lyrikers, dabei mischt er in irrlichternder Weise das Banale mit dem Grandiosen, das Luftige mit dem Tiefen und das Witzige mit dem Todernsten, in einem Wirbel von Imaginations-, Realitäts- und Erregungszuständen, schließen sich Kunst und Leben kurz oder besser: lang – zur Endlosschlaufe. Mit leichter Hand, keckem Herz und kühlem Kopf spielt dieser Romancier auf der Klaviatur von Erzählen und Beschreiben, Überhöhen und Verrätseln, Ironisieren und Zitieren, Provozieren und Philosophieren. Literatur wird wieder zu einem Medium der Verwandlung, wenn Weigoni eine Darstellungs- und Denkform liebt, dann jene der Aporie und der Paradoxie.

Die Vernunft ist der Glaube an etwas, das man ohne Glauben verstehen kann; doch bleibt es noch immer ein Glaube, denn verstehen setzt voraus, daß es etwas Verstehbares gibt.

Fernando Pessoa

Das Rheinland ist ein Biotop für Randexistenzen aller Art. Grölende Bierplautzen-Männer trifft man in der „Alkstadt“ ebenso, wie Yuppies und die Intelligenzia aus der Kunstakademie. Diese Buch ähnelt einer Stadt und man würde das Rheinland nicht kennenlernen, wenn man nur die Hauptstrasse rauf und runter läuft, man muß die Nebenstrassen und die Seitengassen auch besuchen, nur so bekommt man eine Ahnung von dem, was das Rheinland wirklich ist. In der Bonner Republik entfaltet sich in der Ära einer Verfallsgeschichte ein abgründiges, doch humorgetränktes Gesellschaftspanorama. Es ist ein Roman der Diskontinuitäten, von ungleichzeitigen Beziehungen, die auseinanderbrechen, weil in ihnen für Entwicklungen kein Platz ist. Gefangen sind sie alle Rheinländer in sich. Dies wird mit soziologischer Genauigkeit und psychologischem Tiefgang beschrieben. Weigoni häuft Charaktere und Orte an, historische und erfundene Ereignisse, Nachrichten und Halluzinationen, und sein mimetischer Versuch geht auf: Chaos lässt sich durch literarisches Chaos wiedergeben.

Das Lächerliche ist schrecklich, und das Schreckliche ist lächerlich.

E.T.A. Hofmann

Im Rheinland ist niemand wirklich frei, daher versucht es diese Spezies ihr ganzes Leben, es zu werden. Das Rheinland als Heimat ist kein abstraktes Konstrukt, kein Gegenstand der Debatte, sondern etwas sehr Konkretes. Oder wie Heinrich Böll bereits in einem anderem Zusammenhang geschrieben hat „Das ist ein Heimatroman, wie alle Romane, in denen Menschen zu Hause sind.“ Heimat ist aber auch ein ein Kaleidoskop mit blinden Flecken und damit begegen wir uns auf die Handlungsfelder für eine historische Realität, präziser: dem Zeitraum zwischen dem 9. November 1989 und dem 11. September 2001. Dieser Roman ist ein Wortkunstwerk im engeren Sinn. Wie in seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet gestaltet Weigoni das Verhältnis von Wirklichkeit und Erzählen komplex, die Kunst provoziert die Realität – und die entsprechenden Rückkopplungsstösse werden zu einem Experiment über performative Sprechakte. Die rheinische Sprachfantasie ist gelegentlich wichtiger als Handlung. Dieser Roman ist eine Versuchsanordnung, sie erzählt von einer Wartesaalstimmung nach dem Ende der ‚Bonner Republik‘ und trifft damit das Gegenwartsempfinden. Durchaus in der Tradition von Heinrich Heines ironisch–satirischer Komik, die vor allem mit der Verschiebung von Sinnzusammenhängen und den darauf folgenden pointierten Schlußfolgerungen arbeitet, deckt Weigoni unter der Oberfläche fest zementierte stereotype Verhaltensmuster und scheinheilige Moralvorstellungen der alten BRD auf. Dabei macht er nicht vor tradierten Rollenbildern halt und lässt ein facettenreiches des Rheinlands entstehen. Beschwingte Unterhaltung ist das nicht, es ist eine Literatur, das man aushalten muß, um sie geniessen zu können.

 

 

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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Weiterführend →

Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay