Autor: Ralph Pordzik

Der innere Meridian 12

  Der wahre Schriftsteller ist nicht verpflichtet zu schreiben. Ihm genügt es, sich vorzustellen, dass seine Berufung ein überwältigendes Muss ist, der stumme Aufschrei eines unvermeidlichen und unbekannten inneren Anlasses. Dass er sich von den Ideen, für die er keine…

Heißzeit. Die Welt erscheint im Pyrozän

  Die sich zum Klima bekennen, das Schwinden der Eisschilde nicht leugnen, das einströmende Salz in der Umwelt, die sauren Ozeane, verhalten sich zur Zukunft; das bringt neben unerhörten und unverstan­denen Forderungen die Gefahr von Erstarrungen und Verkrampfungen mit sich.…

Der innere Meridian 11

Im Nichtschwimmerbecken getaufte Chlorhähnchen, das Fest der Beschneidung der Mutter Gottes (in Kurzburka mit Pilotenstiefeln), der Kontoauszug aus Ägypten und die Weihnachtsbotschaft, auf Anordnung des Präsidenten von Bethlehem nach Jerusalem verlegt: Es wurde zunehmend schwieriger, den Blick aus tief gemeißelten…

Der innere Meridian 10

Sie reisten ohne Ziel, aber jeder der beiden begleitete den anderen. Oft redeten sie in einem Ton, als wollten sie einander nur leise an etwas erinnern, als ahnten sie, dass alles, was sie jetzt noch erleben konnten, im nachhinein nur…

RHAPSODIE MIT SÄUGETIER ODER IRGENDWAS MIT DARWIN

Die Zweifel der Schmetterlinge, wer wollte sie hören? Sie formten bestimmt einen Brecher, würfen sich nackt auf unseren Augenstrand, Kieselspalter, Schmetterlippen, und wir trieben daneben, entblößt bis auf den Leim, kieloben die entwinkelten Hirne. Wir Gespenster. Ziehen uns Jeans und…

Der innere Meridian 9

Niemand konnte die Erde umfahren und dann behaupten, mit eigenen Augen gesehen zu haben, dass sie rund sei. Auch war nichts bekannt über den Lauf der Sonne bei geschlossenen Jalousien. Manche jedoch meinten sie in abgetragenen Kleidern allabendlich über den…

Der innere Meridian 8

Er war davon überzeugt, dass der Flügelschlag eines Kolibris einen Wirbelsturm auf der anderen Seite der Erde auslösen konnte. Er musste das einfach glauben, denn er selbst war ja der Kolibri.   *** Der innere Meridian, Aufzeichnungen von Ralph Pordzik,…

SEITENSTECHEN

Maßstabsgetreu saßen die Puppen im Schaufenster und ließen die Blicke der Zaungäste über sich ergehen. Den ganzen Tag über waren ihre Hautschuppen in die Dekoration gerieselt und hatten dabei eine Klangkulisse erzeugt, als wimmelte es im Gebäude vor auftauenden Maikäfern.…

Der innere Meridian 7

Er bewegte sich wie ein Scherenschnitt gegen einen leeren Weltenprospekt, ein Jongleur mit leeren Emballagen, der seine mutlose Pappkarton-Equilibristik einfach nicht in eine himmlische Form gestanzt bekam. *** Der innere Meridian, Aufzeichnungen von Ralph Pordzik, Würzburg: École Noire, 2019 Weiterführend…

Im Grab mit meinen lieben Konjunktiven

Noch nie hat jemand eine Landkarte von mir aufgeklappt. Die leeren Städte und versunkenen Titel, die man mit der Nasenspitze suchte, Vorstadtkinos, Hundeasyle, London ohne Nebel, ein Zirkuszelt aus Flugschatten und Schlaf, wo eine ewig schief gehende Sonne ihre eigenen…

Der innere Meridian 6

Wie sollte er die Welt auf seinen Schultern tragen, wo er doch kaum den weichen Stoff seines Hemdes ertragen konnte? *** Der innere Meridian, Aufzeichnungen von Ralph Pordzik, Würzburg: École Noire, 2019 Weiterführend → In den Aufzeichnungen von Ralph Pordzik…

Der innere Meridian 5

Einmal einen selbstlosen, antikapitalistischen Akt begehen, sich von einer einzigen Person abhängig machen, vollständig und ohne etwas zurückzufordern. Einmal um jemanden kämpfen, gegen den man nur verlieren kann. *** Der innere Meridian, Aufzeichnungen von Ralph Pordzik, Würzburg: École Noire, 2019…

Der innere Meridian 4

Dem April gelingt nichts. Keine Prosa, keine Poesie, nur hübsche Vokale mit Wasserfarben, Balladen auf Feldpostpapier, Papiertiger mit Eselsohren. Mäntel des Schweigens, günstig abzugeben. Vorsichtig drückt man sich am Tag aus, schlüpft morgens einmal in Gott, verabschiedet die Liebe einmal…

Der innere Meridian 3

Er hatte sich wieder einmal mit sich selbst verabredet und war dann doch nicht hingegangen. Er war eben nicht zu sprechen für sich, zu keiner Zeit, niemals. Immerzu fühlte er sich gekränkt. Er wurde beleidigt von Freunden, die ihn nicht…

Der innere Meridian 2

Im Schoß der schönen Frau, die an der Hochzeitsfeier ihrer Halbschwester teilgenommen hatte, lag der weiße Schwan als zerknüllte Papierserviette, doch die Beglückte schien davon ganz unberührt. Sie erlebte ihr eigenes Märchen, aber ohne die wirklichen Ereignisse darin. *** Der…

Der innere Meridian 1

  Vor seinen Studenten stand er oft geniert, wie ein beschädigtes Tier, als gehöre er da gar nicht hin. Alle ahnten die besonderen Gesten, die er sich wünschte und ihnen doch nicht vormachen konnte, die er nur parodierte. Und die…

Universitätsbildung

Universitätsbildung, neu sortiert und dann zur sparsamen Bewirtschaftung der kleinsten Lichter verpflichtet: all die selbstregierten, innerlich evakuierten Performanzbiester, deren Handlungen nicht mehr den Regeln eines progressiven Lebens, sondern denen der Darstellung folgten; ego-über­motivierte Nützlichkeitszombies, die ihre eigene Einverstandenheit nicht mehr…

NATURBEOBACHTUNG

  Den Tau in den Netzen fangen wie die Spinnen und sie fragen wie es sich lebt unter dem Schweigen der zerteilten Himmel, ohne Lot, im Regenwald der Sterne. Sie könnten es wissen. Sie oder Jesaja, der eine Jahreszeit verbrachte…

Den Sanduhren zum Gruß

  Unter dem Streiflicht Mirabilien, Perlen eine zarte Blendung: Sonne und Meer nur Chiffren verlorene Entwürfe kaum Sand, kein Meer, und ein Tag wächst strandlos an den nächsten. Dies ist dein Gelände dein unumstößliches Zeugnis. Hier steht dein Schweigen geschrieben,…

Die Überlebenden der Postkarten

  Die Fallen dieser Friedhöfe Das Maß der Hoffnung, ablesbar an verschlossenen Toren Wir stehen in unserem Schatten wie in einer Pfütze und rühren uns nicht.     *** Mit deutschen Untertiteln. Gedichte von Ralph Pordzik, Les Derniers Jours, 2017…

Bei Einbruch der Mimesis

meistens Flucht: die Bilder strengen Richter unterworfen, legen uns in Wortausklängen schlafen, so tief und einfach wie ein Augenleiden oder Gärten in der Normandie wo die Stille nah am Sommer der Zirkus bald vergessen der Fels rundum gefaltet ist. ***…

Tätigkeitsbericht im August 2015

Am Nachthimmel früh um zwei Uhr Sternschnuppen gezählt und bei jedem Lichtpunkt gewünscht, sich endlich nichts mehr wünschen zu müssen. Alles, was nicht Liebe war, besaß er ja schon, und mit jedem Wort seiner unmöglichen Liebe erhielt sich ein Schweigen.…

ZUGANG ZU WINDRÄDERN

Am Stadtrand die Zentrifugen schleudern den Horizont klein unermüdlich Machinen erinnern an Zukunft, die es nicht gibt,untröstlich in ihrer Aufrichtigkeit Flügel angeschminkt, verbeulte Gaben in der Hand,die panischen Säulen. Luft bäumt sich, verkrallt in taumelnd lose Leiber, die Heiterkeit wendet…

VORKRIEGSZEIT

  Noch gibt es Unordnung und Sensationen, in Cellophan gewickelte Vernichtung, eilige Rhapsoden in den Hinterzimmern. Haarfein zieht der Sekundenzeiger die dünne Linie zwischen uns und aller Zeit, die kommt. Auf den Märkten gibt es Fische mit verfärbten Kiemen und…

POSTHISTOIRE 1

  Die Erfindung des tiefen Tellersließ sich nicht umgehen. Ebenso wenig die Freiheitim Sommer der Bastille. Geschenkt die frühen Chiffren im Blut,der Aufruhr auf Kalenderblättern. Wir kannten jede Zeile,haben sie selbst geschrieben.     *** Verabredung mit meinem Publikum. Gedichte…

Am selben Ort

Gleich hinter der Mauer beginnen die Fragen, stehen die blauen Fichten, vergeht ein Tag. Alles ist hier so wie du es siehst, eine Schale Obst mit diesem besonderen Geruch, der nicht zurückkommt, Striche auf der Netzhaut, ungelesene Kornkreise im Nachbargarten.…

Geöffnete Briefe

Alles schon einmal gesagt und besser. Interjektionen Metaphern vorgezogen, Enzyklopädien aus dem Rätoromanischen. Langweilig, das meiste davon in Vokabeln. Der Anteil an Schuld, der uns zustand, ist aufgebraucht: wir haben ihn versetzt in Istanbul gegen die letzte Schale Glück. Ein…