Autor: Walter Benjamin

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation   XII. Wie alle Dinge in einem unaufhaltsamen Prozeß der Vermischung und Verunreinigung um ihren Wesensausdruck kommen und sich Zweideutiges an die Stelle des Eigentlichen setzt, so auch die Stadt. Große Städte, deren unvergleichlich beruhigende…

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Die Begründung der schönen Künste und die Einsetzung ihrer verschiedenen Typen geht auf eine Zeit zurück, die sich eingreifend von der unsrigen unterschied, und auf Menschen, deren Macht über die Dinge und die Verhältnisse verschwindend im Vergleich zu der unsrigen…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation   XI. Der Entfaltung jeder menschlichen Bewegung, mag sie geistigen oder selbst natürlichen Impulsen entspringen, ist der maßlose Widerstand der Umwelt angesagt. Wohnungsnot und Verkehrsteuerung sind am Werke, das elementare Sinnbild europäischer Freiheit, das in…

NORMALUHR

  Den Großen wiegen die vollendeten Werke leichter als jene Fragmente, an denen die Arbeit sich durch ihr Leben zieht. Denn nur der Schwächere, der Zerstreutere hat seine unvergleichliche Freude am Abschließen und fühlt damit seinem Leben sich wieder geschenkt.…

Der destruktive Charakter

Es könnte einem geschehen, daß er, beim Rückblick auf sein Leben, zu der Erkenntnis käme, fast alle tieferen Bindungen, die er in ihm erlitten habe, seien von Menschen ausgegangen, über deren »destruktiven Charakter« alle Leute sich einig waren. Er würde…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation   X. Aus den Dingen schwindet die Wärme. Die Gegenstände des täglichen Gebrauchs stoßen den Menschen sacht aber beharrlich von sich ab. In summa hat er tagtäglich mit der Überwindung der geheimen Widerstände und nicht…

Baudelaire oder die Straßen von Paris

Tout pour moi devient Allegorie. Baudelaire: Le Cygne Baudelaires Ingenium, das sich aus der Melancholie nährt, ist ein allegorisches. Zum erstenmal wird bei Baudelaire Paris zum Gegenstand der lyrischen Dichtung. Diese Dichtung ist keine Heimatkunst, vielmehr ist der Blick des…

Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei

Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation IX Die Menschen, die im Umkreise dieses Landes eingepfercht sind, haben den Blick für den Kontur der menschlichen Person verloren. Jeder Freie erscheint vor ihnen als Sonderling. Man stelle sich die Bergketten der Hochalpen vor,…

Linke Melancholie

Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch 1)   Kästners Gedichte liegen heute schon in drei stattlichen Bänden vor. Wer aber dem Charakter dieser Strophen nachgehen will, hält sich besser an ihre ursprüngliche Erscheinungsform. In Büchern stehen sie gedrängt und ein wenig…

Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen

I. Wer an die Niederschrift eines grösseren Werks zu gehen beabsichtigt, lasse sich’s wohl sein und gewähre sich nach erledigtem Pensum alles, was die Fortführung nicht beeinträchtigt. II. Sprich vom Geleisteten, wenn du willst, jedoch lies während des Verlaufes der Arbeit nicht…

TANKSTELLE

Die Konstruktion des Lebens liegt im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeugungen. Und zwar von solchen Fakten, wie sie zur Grundlage von Überzeugungen fast nie noch und nirgend geworden sind. Unter diesen Umständen kann wahre…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation VIII. Wer sich der Wahrnehmung des Verfalls nicht entzieht, der wird unverweilt dazu übergehen, eine besondere Rechtfertigung für sein Verweilen, seine Tätigkeit und seine Beteiligung an diesem Chaos in Anspruch zu nehmen. So viele Einsichten…

Die Technik des Kritikers in 13 Thesen

  I. Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf.   II. Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen.   III. Der Kritiker hat mit dem Deuter von vergangenen Kunstepochen nichts zu tun.   IV. Kritik muß in der Sprache…

Brechts Dreigroschenroman

Acht Jahre Zwischen Dreigroschenoper und Dreigroschenroman liegen acht Jahre. Das neue Werk hat sich aus dem alten entwickelt. Aber das geschah nicht in der versponnenen Weise, in der man sich das Reifen des Kunstwerks gewöhnlich vorstellt. Denn diese Jahre waren…

Die Waffen von morgen

Schlachten mit Chlorazetophenol, Diphenylaminchlorasin und Dichloräthylsufid. Die obigen Bezeichnungen werden im kommenden Kriege ebenso populär sein wie „Schützengraben“, „U-Boot“, „Dicke Berta“ und „Tank“ im vergangenen. Für die zungenbrecherischen chemischen Vokabeln werden gefällige Abkürzungen in wenigen Tagen aufgekommen sein. Und diese,…

VEREIDIGTER BÜCHERREVISOR

Die Schrift, die im gedruckten Buche ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos unterstellt. Und ehe der Zeitgenosse dazu kommt, ein Buch…

Der Mond

Das Licht, welches vom Mond herunterfließt, gilt nicht dem Schauplatz unseres Tagesdaseins. Der Umkreis, den es zweifelhaft erhellt, scheint einer Gegen- oder Nebenerde zu gehören. Sie ist nicht mehr die, der der Mond als Satellit folgt, sondern die selbst in…

Zum Bilde Prousts

I. [Erinnerung] Die dreizehn Bände von Marcel Prousts »A la Recherche du Temps perdu« sind das Ergebnis einer unkonstruierbaren Synthesis, in der die Versenkung des Mystikers, die Kunst des Prosaisten, die Verve des Satirikers, das Wissen des Gelehrten und die…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation VI Dem Ausländer, welcher die Gestaltung des deutschen Lebens obenhin verfolgt, der gar das Land kurze Zeit bereist hat, erscheinen seine Bewohner nicht minder fremdartig als ein exotischer Volksschlag. Ein geistreicher Franzose hat gesagt: »In…

»Dichtermut« — »Blödigkeit«

Über zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin Die Aufgabe der folgenden Untersuchung läßt sich in die Ästhetik der Dichtkunst nicht ohne Erklärung einordnen. Diese Wissenschaft als reine Ästhetik hat ihre vornehmsten Kräfte der Ergründung der einzelnen Gattungen der Dichtkunst zugewendet, unter…

Franz Kafka – Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages

Potemkin Es wird erzählt: Potemkin litt an schweren mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Depressionen, während deren sich niemand ihm nähern durfte und der Zugang zu seinem Zimmer aufs strengste verboten war. Am Hofe wurde dieses Leiden nicht erwähnt, insbesondere wusste…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation   V. »Armut schändet nicht.« Ganz wohl. Doch sie schänden den Armen. Sie tun’s und sie trösten ihn mit dem Sprüchlein. Es ist von denen, die man einst konnte gelten lassen, deren Verfalltag nun längst…

Krumme Strasse

Das Märchen redet manchmal von Passagen und Galerien, die beiderseits mit Buden voller Lockung und Gefahr bestellt sind. Als Knabe war mir so ein Gang geläufig; er hieß die Krumme Straße. Wo sie den schärfsten Knick hat, lag ihr finsterstes…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation   IV. Nicht umsonst pflegt man vom »nackten« Elend zu sprechen. Was in seiner Schaustellung, welche Sitte zu werden begann unter dem Gesetz der Not und doch ein Tausendstel nur vom Verborgenen sichtbar macht, das…

Karl Kraus

  Die Wucht dieser Sätze.. auf das in einem frivol angezettelten Weltkrieg untergegangene Habsburgerreich wirkt auch noch hundert Jahre später. Jens Malte Fischer     I. Allmensch Wie laut wird alles. Worte in Versen II Alte Stiche haben den Boten,…

Die Aufgabe des Übersetzers

Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden für deren Erkenntnis fruchtbar. Nicht genug, daß jede Beziehung auf ein bestimmtes Publikum oder dessen Repräsentanten vom Wege abführt, ist sogar der Begriff eines ›idealen‹ Aufnehmenden…

Robert Walser

Man kann von Robert Walser viel lesen, über ihn aber nichts. Was wissen wir denn überhaupt von den wenigen unter uns, die die feile Glosse auf die rechte Weise zu nehmen wissen: nämlich nicht wie der Schmock, der sie adeln…

Loggien

Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt, ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit. Nichts kräftigte die meine inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation III. Alle näheren menschlichen Beziehungen werden von einer fast unerträglichen durchdringenden Klarheit getroffen, in der sie kaum standzuhalten vermögen. Denn indem einerseits das Geld auf verheerende Weise im Mittelpunkt aller Lebensinteressen steht, andererseits gerade dieses…

Unglücksfälle und Verbrechen

Die Stadt versprach sie mir mit jedem Tag aufs neue und am Abend war sie sie schuldig geblieben. Tauchten sie auf, so waren sie, wenn ich an Ort und Stelle kam, schon wieder fort, wie Götter, die nur Augenblicke für…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation II. Eine sonderbare Paradoxie: die Leute haben nur das engherzigste Privatinteresse im Sinne, wenn sie handeln, zugleich aber werden sie in ihrem Verhalten mehr als jemals bestimmt durch die Instinkte der Masse. Und mehr als…

Der Erzähler

I. Der Erzähler – so vertraut uns der Name klingt – ist uns in seiner lebendigen Wirksamkeit keineswegs durchaus gegenwärtig. Er ist uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes. Einen Lesskow als Erzähler darstellen heißt nicht, ihn uns…

Gebrauchslyrik? Aber nicht so!

Das Chanson, wie es vom Montmartre zu uns heruntergekommen ist, war ein Feuer, an dem der Bohemien sich den Rücken wärmte, jederzeit bereit, einen Scheit zu ergreifen und ihn als Brandfackel in die Palais zu schleudern. Weil aber der Arme…

Der Nähkasten

Die Spindel kannten wir nicht mehr, die das Dornröschen stach und es in hundertjährigen Schlaf versenkte. Aber wie Schneewittchens Mutter, die Königin, am Fenster saß, wenn es schneite, so hat auch unsere Mutter mit dem Nähzeug am Fenster gesessen, und…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation I. In dem Schatze jener Redewendungen, mit welchen die aus Dummheit und Feigheit zusammengeschweißte Lebensart des deutschen Bürgers sich alltäglich verrät, ist die von der bevorstehenden Katastrophe – indem es ja »nicht mehr so weitergehen«…

Über den Begriff der Geschichte

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine…

Schmöker

Aus der Schülerbibliothek bekam ich die liebsten. In den unteren Klassen wurden sie zugeteilt. Der Klassenlehrer sagte meinen Namen, und dann machte das Buch über die Bänke seinen Weg; der eine schob es dem anderen zu, oder es schwankte über…

Haschisch in Marseille

Vorbemerkung: Eines der ersten Zeichen, daß der Haschisch zu wirken beginnt, »ist ein dumpfes Ahnungs- und Beklommenheitsgefühl; etwas Fremdes, Unentrinnbares naht … Bilder und Bilderreihen, längst versunkene Erinnerungen treten auf, ganze Szenen und Situationen werden gegenwärtig, sie erregen zuerst Interesse,…

Prinzipien der Wälzer oder Die Kunst, dicke Bücher zu machen

I. Die ganze Ausführung muß von der dauernden wortreichen Darlegung der Disposition durchwachsen sein. II. Termini für Begriffe sind einzuführen, die außer bei dieser Definition selbst im ganzen Buch nicht mehr vorkommen. III. Die im Text mühselig gewonnenen begrifflichen Distinktionen…

Zwei Blechkapellen

Nie mehr hat Musik etwas derart Entmenschtes, Schamloses besessen wie die des Militärorchesters, das den Strom von Menschen temperierte, der sich zwischen den Kaffeerestaurationen des Zoo die Lästerallee entlangschob. Heute erkenne ich, was die Gewalt dieser Strömung ausmachte. Für den…

Notizen Svendborg Sommer 1934

Die Freundschaft Benjamin–Brecht ist einzigartig, weil in ihr der größte lebende deutsche Dichter mit dem bedeutendsten Kritiker der Zeit zusammenkam. Und es spricht für beide, dass sie dies wussten Hannah Arendt Langes Gespräch in Brechts Krankenzimmer in Svendborg, gestern, kreiste…

Sonette (17)

Walter Benjamin ist einer der wenigen Menschen, die wir um ihrer Denkkraft willen nicht zugrunde gehen lassen dürfen. Max Horkheimer, 22. Januar 1936   Die Harfe hängt im Wind sie kann nicht wehren Daß deines Todes Hauch die Saiten rührt…

Über das Schreiben

  Die Schreibmaschine wird dem Federhalter die Hand des Literaten erst dann entfremden, wenn die Genauigkeit typographischer Formungen unmittelbar in die Konzeption seiner Bücher eingeht. Vermutlich wird man dann neue Systeme mit variablerer Schriftgestaltung benötigen. Sie werden die Innervation der…

Affentheater

Affentheater – dieses Wort hat für Erwachsene etwas Groteskes. Das fehlte ihm als ich zum ersten Mal es hörte. Ich war noch klein. Daß Affen auf der Bühne ungewöhnlich sein mußten, kam im Rahmen dieses Ungewöhnlichsten: der Bühne nicht zur…

Das Fieber

Das lehrte stets von neuem der Beginn von jeder Krankheit, mit wie sicherem Takt, wie schonend und gewandt das Mißgeschick sich bei mir einfand. Aufsehn zu erregen, lag ihm fern. Mit ein paar Flecken auf der Haut, mit einer Übelkeit…

PAPIER UND SCHREIBWAREN

  PHARUS-PLAN. Ich kenne eine, die geistesabwesend ist. Wo mir die Namen meiner Lieferanten, der Aufbewahrungsort von Dokumenten, Adressen meiner Freunde und Bekannten, die Stunde eines Rendezvous geläufig sind, da haben ihr politische Begriffe, Schlagworte der Partei, Bekenntnisformeln und Befehle…

MINISTERIUM DES INNERN

  Je feindlicher ein Mensch zum Überkommenen steht, desto unerbittlicher wird er sein privates Leben den Normen unterordnen, die er zu Gesetzgebern eines kommenden gesellschaftlichen Zustands erheben will. Es ist, als legten sie ihm die Verpflichtung auf, sie, die noch…

AUF HALBMAST

  Stirbt ein sehr nahestehender Mensch uns dahin, so ist in den Entwicklungen der nächsten Monate etwas, wovon wir zu bemerken glauben, daß – so gern wir es mit ihm geteilt hätten – nur durch sein Fernsein es sich entfalten…

FUNDBÜRO

  VERLORENE GEGENSTÄNDE. Was den allerersten Anblick eines Dorfs, einer Stadt in der Landschaft so unvergleichlich und so unwiederbringlich macht, ist, daß in ihm die Ferne in der strengsten Bindung an die Nähe mitschwingt. Noch hat Gewohnheit ihr Werk nicht…

GALANTERIEWAREN

    Unvergleichliche Sprache des Totenkopfes: völlige Ausdruckslosigkeit – das Schwarz seiner Augenhöhlen – vereint er mit wildestem Ausdruck – den grinsenden Zahnreihen. Einer, der sich verlassen glaubt, liest und es schmerzt ihn, daß die Seite, die er umschlagen will,…

ERSTE HILFE

  Ein höchst verworrenes Quartier, ein Straßennetz, das jahrelang von mir gemieden wurde, ward mir mit einem Schlage übersichtlich, als eines Tages ein geliebter Mensch dort einzog. Es war, als sei in seinem Fenster ein Scheinwerfer aufgestellt und zerlege die…

MEXIKANISCHE BOTSCHAFT

  „Je ne passe jamais devant un fétiche de bois, unBouddha doré, une idole mexicaine sans me dire: C’estpeut-être le vrai dieu.“      Charles Baudelaire Mir träumte, als Mitglied einer forschenden Expedition in Mexiko zu sein. Nachdem wir einen…

WAFFEN UND MUNITION

  Ich war in Riga, um eine Freundin zu besuchen, angekommen. Ihr Haus, die Stadt, die Sprache waren mir unbekannt. Kein Mensch erwartete mich, es kannte mich niemand. Ich ging zwei Stunden einsam durch die Straßen. So habe ich sie…

INNENARCHITEKTUR

  Der Traktat ist eine arabische Form. Sein Äußeres ist unabgesetzt und unauffällig, der Fassade arabischer Bauten entsprechend, deren Gliederung erst im Hofe anhebt. So ist auch die gegliederte Struktur des Traktats von außen nicht wahrnehmbar, sondern eröffnet sich nur…

Das Dornröschen

Wir leben im Zeitalter des Socialismus, der Frauenbewegung, des Verkehrs, des Individualismus. Gehen wir nicht dem Zeitalter der Jugend entgegen? Jedenfalls leben wir in einer Zeit, wo man keine Zeitschrift aufschlagen kann, ohne daß einem das Wort „Schule“ in die…

COIFFEUR FÜR PENIBLE DAMEN

  Dreitausend Damen und Herren vom Kurfürstendamm sind eines Morgens wortlos aus den Betten zu verhaften und vierundzwanzig Stunden festzusetzen. Um Mitternacht verteilt man in den Zellen einen Fragebogen über die Todesstrafe, ersucht auch dessen Unterzeichner, anzugeben, welche Hinrichtungsart sie…

ACHTUNG STUFEN!

  Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen: eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird.   ***

Ein Weihnachtsengel

Mit den Tannenbäumen begann es. Eines Morgens, als wir zur Schule gingen, hafteten an den Straßenecken die grünen Siegel, die die Stadt wie ein großes Weihnachtspaket an hundert Ecken und Kanten zu sichern schienen. Dann barst sie eines schönen Tages…

BAUSTELLE

  Pedantisch über Herstellung von Gegenständen – Anschauungsmitteln, Spielzeug oder Büchern – die sich für Kinder eignen sollen, zu grübeln, ist töricht. Seit der Aufklärung ist das eine der muffigsten Spekulationen der Pädagogen. Ihre Vergaffung in Psychologie hindert sie zu…

Das Karussell

Das Brett mit den dienstbaren Tieren rollte dicht überm Boden. Es hatte die Höhe, in der man am besten zu fliegen träumt. Musik setzte ein, und ruckweis rollte das Kind von seiner Mutter fort. Erst hatte es Angst, die Mutter…

DIESE ANPFLANZUNGEN SIND DEM SCHUTZE DES PUBLIKUMS EMPFOHLEN

  Was wird „gelöst“? Bleiben nicht alle Fragen des gelebten Lebens zurück wie ein Baumschlag, der uns die Aussicht verwehrte? Daran, ihn auszuroden, ihn auch nur zu lichten, denken wir kaum. Wir schreiten weiter, lassen ihn hinter uns und aus…

KURZWAREN

  Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen. Die Tötung des Verbrechers kann sittlich sein – niemals ihre Legitimierung. Der Ernährer aller Menschen ist Gott und der Staat ihr…

HANDSCHUHE

  Beim Ekel vor Tieren ist die beherrschende Empfindung die Angst, in der Berührung von ihnen erkannt zu werden. Was sich tief im Menschen entsetzt, ist das dunkle Bewußtsein, in ihm sei etwas am Leben, was dem ekelerregenden Tiere so…

NR. 13

Treize – j’eus un plaisir cruel de m’arrêter sur ce nombre. Marcel Proust   Le reploiement vierge du livre, encore, prête à un sacrifice dont saigna la tranche rouge des anciens tomes; l’introduction d’une arme, ou coupe-papier, pour établir la…

HOCHHERRSCHAFTLICH MÖBLIERTE ZEHNZIMMERWOHNUNG

  Vom Möbelstil der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gibt die einzig zulängliche Darstellung und Analysis zugleich eine gewisse Art von Kriminalromanen, in deren dynamischem Zentrum der Schrecken der Wohnung steht. Die Anordnung der Möbel ist zugleich der Lageplan der…

CHINAWAREN

  In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er „kann“. In der Improvisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt werden. Ein Tor befindet sich am Anfang eines langen Weges, der bergab…

Theologisch-politisches Fragment

  Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist…

FRÜHSTÜCKSSTUBE

  Eine Volksüberlieferung warnt, Träume am Morgen nüchtern zu erzählen. Der Erwachte verbleibt in diesem Zustand in der Tat noch im Bannkreis des Traumes. Die Waschung nämlich ruft nur die Oberfläche des Leibes und seine sichtbaren motorischen Funktionen ins Licht…

TANKSTELLE

  Die Konstruktion des Lebens liegt im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeugungen. Und zwar von solchen Fakten, wie sie zur Grundlage von Überzeugungen fast nie noch und nirgend geworden sind. Unter diesen Umständen kann…

Über das Schreiben

  Eine Periode, die, metrisch konzipiert, nachträglich an einer einzigen Stelle im Rhythmus gestört wird, macht den schönsten Prosasatz, der sich denken läßt. So fällt durch eine kleine Bresche in der Mauer ein Lichtstrahl in die Stube des Alchimisten und…

Der Lesekasten

Nie wieder können wir Vergessenes ganz zurückgewinnen. Und das ist vielleicht gut. Der Chock des Wiederhabens wäre so zerstörend, daß wir im Augenblick aufhören müßten, unsere Sehnsucht zu verstehen. So aber verstehen wir sie, und um so besser, je versunkener…

Von der Anekdote zur Twitteratur

  Die wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist die, sie in unserm Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen (so tut der Sammler, so auch die Anekdote).     *** Walter Benjamin ist ein Großmeister des Aphorismus, in…

Gesellschaft

Meine Mutter hatte ein Schmuckstück von ovaler Form. Es war so groß, daß man es auf der Brust nicht tragen konnte, und so erschien es jedesmal, wenn sie es antat, an ihrem Gürtel. Sie trug es aber, wenn sie in…

Die Farben

In unserem Garten gab es einen verlassenen, morschen Pavillon. Ich liebte ihn der bunten Fenster wegen. Wenn ich in seinem Innern von Scheibe zu Scheibe strich, verwandelte ich mich; ich färbte mich wie die Landschaft, die bald lohend und bald…

Die Mummerehlen

In einem alten Kinderverse kommt die Muhme Rehlen vor. Weil mir nun »Muhme« nichts sagte, wurde dies Geschöpf für mich zu einem Geist: der Mummerehlen. Das Mißverstehen verstellte mir die Welt. Jedoch auf gute Art; es wies die Wege, die…

Blumeshof 12

Keine Klingel schlug freundlicher an. Hinter der Schwelle dieser Wohnung war ich geborgener als selbst in der elterlichen. Übrigens hieß es nicht Blumes-Hof, sondern Blume-zoof, und es war eine riesige Plüschblume, die so, aus krauser Hülle, mir ins Gesicht fuhr.…

Der Fischotter

Wie man aus der Wohnung, wo einer haust, und aus dem Stadtviertel, das er bewohnt, sich ein Bild von seiner Natur und Wesensart macht, hielt ich es mit den Tieren des Zoologischen Gartens. Von den Straußen, welche vor einem Hintergrund…

Zwei Rätselbilder

Unter den Ansichtskarten meiner Sammlung gab es einige wenige, deren Schriftseite mir deutlicher in der Erinnerung haftet als ihr Bild. Sie trugen die schöne, leserliche Unterschrift: Helene Pufahl. Das war der Name meiner Lehrerin. Das P, mit dem er anhob,…

Verstecke

Ich kannte in der Wohnung schon alle Verstecke und kam in sie wie in ein Haus zurück, in dem man sicher ist, alles beim alten zu finden. Mir schlug das Herz, ich hielt den Atem an. Hier war ich in…

Markthalle Magdeburger Platz

Vor allem denke man nicht, daß es Markt-Halle hieß. Nein, man sprach »Mark-Thalle«, und wie diese beiden Wörter in der Gewohnheit des Sprechens verschliffen waren, daß keines seinen ursprünglichen Sinn beibehielt, so waren in der Gewohnheit meines Gangs durch diese…

Eine Todesnachricht

Man hat das déjà vu oft beschrieben. Ist die Bezeichnung eigentlich glücklich? Sollte man nicht von Begebenheiten reden, welche uns betreffen wie ein Echo, von dem der Hall, der es erweckte, irgendwann im Dunkel des verflossenen Lebens ergangen scheint. Im…

Erwachen des Sexus

In einer jener Straßen, die ich später auf Wanderungen, die kein Ende nahmen, nachts durchstreifte, überraschte mich, als es an der Zeit war, das Erwachen des Geschlechtstriebs unter den sonderbarsten Umständen. Es war am jüdischen Neujahrstage und die Eltern hatten…

Die Speisekammer

Im Spalt des kaum geöffneten Speiseschranks drang meine Hand wie ein Liebender durch die Nacht vor. War sie dann in der Finsternis zu Hause, tastete sie nach Zucker oder Mandeln, nach Sultaninen oder Eingemachtem. Und wie der Liebhaber, ehe er’s…

Steglitzer Ecke Genthiner

In jede Kindheit ragten damals noch die Tanten, die ihr Haus nicht mehr verließen, die immer, wenn wir mit der Mutter zu Besuch erschienen, auf uns gewartet hatten, immer unter dem gleichen schwarzen Häubchen und im gleichen Seidenkleide, aus dem…

Wintermorgen

Die Fee, bei der er einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenige erkennen darum später im eignen Leben die Erfüllung wieder. Ich weiß den, der…

Zu spät gekommen

Die Uhr im Schulhof sah beschädigt aus durch meine Schuld. Sie stand auf »zu spät«. Und auf den Flur drang aus den Klassentüren, die ich streifte, Murmeln von geheimer Beratung. Lehrer und Schüler dahinter waren Freund. Oder alles schwieg still,…

Abreise und Rückkehr

Der Lichtstreif unter der Schlafzimmertür, am Vorabend, wenn die andern noch auf waren, – war er nicht das erste Reisesignal? Drang er nicht in die Kindernacht voller Erwartung wie später in die Nacht eines Publikums der Lichtstreif unter dem Bühnenvorhang?…

Schmetterlingsjagd

Gelegentlicher Sommerreisen unbeschadet, bezogen wir, ehe ich zur Schule ging, alljährlich Sommerwohnungen in der Umgebung. An sie erinnerte noch lange an der Wand meines Knabenzimmers der geräumige Kasten mit den Anfängen einer Schmetterlingssammlung, deren älteste Exemplare in dem Garten am…