Wer streikt am besten?
Wie in jeder alljährlichen Tarifauseinandersetzung waren die vergangenen Wochen von den gegenläufigen Positionen der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in verschiedenen Branchen geprägt. Als ich von den Streiks der Vorfeldlotsen auf dem Frankfurter Flughafen erfuhr, wurde mir einmal mehr bewusst, dass wir in Deutschland seit rund eineinhalb Jahren eine neue Dimension in den Tarifauseinandersetzungen vorfinden: Es handelt sich um die Auseinandersetzung mit Spartengewerkschaften, die eine kleine Zahl von einflussreichen Spezialisten in ihren jeweiligen Unternehmen vertreten. Seien es die Lotsen am Frankfurter Flughafen, die Pilotenvereinigung Cockpit, die Ärztegewerkschaft „Marburger Bund“ oder die Gewerkschaft der Lokführer (GDL), die bereits ihre Streikmacht bewiesen haben.
Galt früher der Grundsatz „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“, so ist diese Voraussetzung heute nicht mehr gegeben. Einzelgewerkschaften, die bestimmte Arbeitnehmergruppen in einem Betrieb repräsentieren, können eigene Lohnforderungen für ihre Mitglieder aufstellen und diesen Forderungen jederzeit mit Arbeitskampfmaßnahmen deutlichen Nachdruck verleihen. Das gilt selbst dann, wenn für die Mehrheit der Arbeitnehmer im Betrieb ein gültiger Tarifvertrag zwischen dem Unternehmen und einer DGB-Gewerkschaft abgeschlossen wurde. Resultat: Der Betrieb wird trotzdem lahmgelegt. Möglich ist dies seit einem Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts Mitte 2010, das den Spartengewerkschaften erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein separates Streikrecht einräumt.
Brauchen wir jetzt gesetzliche Eingriffe, um einen dauerhaften Streik-Zustand in Deutschland zu verhindern? Das ist eine schwierige Abwägungsfrage. Grundsätzlich gilt: Die deutsche Tarifautonomie ist keine Einrichtung von gestern, sondern vor dem Hintergrund großer internationaler Herausforderungen so wichtig wie noch nie. Sie hat sich in der vergangenen Wirtschaftskrise bewährt und ist außerdem ein wirksamer Schutz vor politischen Eingriffen in die Lohnfindung. In Tarifverhandlungen reden Branchenexperten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern miteinander. Das sind Menschen, die etwas von ihrer Branche verstehen. Die Politik bleibt zu Recht außen vor. Tarifautonomie bedeutet jedoch auch, dass sich die Tarifpartner ihrer Verantwortung gegenüber den Betrieben und der Gesellschaft bewusst sind und sich am Gemeinwohl orientieren.
Was steht höher im Kurs – Gemeinwohl oder Einzelinteressen?
Die tief greifenden Veränderungen, die mit dem Aufkommen der Spartengewerkschaften in die Tarifverhandlungen Einzug halten, sind offensichtlich. Das Resultat ließ sich zuletzt am Frankfurter Flughafen besichtigen. Dabei sind die Verzögerungen im Flugverkehr nur die von außen sichtbaren Ereignisse, die das Unternehmen treffen. Spartengewerkschaften, die lediglich die Interessen von einzelnen Berufsgruppen in einem Betrieb gegenüber dem Arbeitgeber vertreten, wirken ebenso stark nach innen: Sie können das Miteinander im Unternehmen negativ beeinträchtigen. Können wir noch von Kollegialität sprechen, wenn die Mehrheit der Arbeitnehmer in einem Betrieb eine Lohnsteigerung von drei Prozent im Jahr erhält – aber eine kleine Gruppe von Spezialisten im selben Betrieb mit ihrer Spartengewerkschaft ein Lohnplus von zehn Prozent erstreiken kann? Werden die Arbeitnehmer in diesem Betrieb dann wirklich täglich an einem Strang ziehen und die gemeinsame Arbeit als „gemeinsame Sache“ ansehen? Eine ähnliche Frage drängt sich hinsichtlich der Leistungsgerechtigkeit auf: Stellen wir uns vor, ein Arbeitnehmer bekommt wegen kontinuierlich guter Leistungen eine Gehaltserhöhung von seinem Chef. Ein Lohn für sein persönliches Engagement. Zugleich gehört ein Kollege im selben Betrieb einer Gruppe von Spezialisten an, deren Spartengewerkschaft eine kräftige Lohnerhöhung durchsetzt. Diese Gruppe von Spezialisten kann sich ihre Lohnerhöhung im wahrsten Sinne des Wortes „ersitzen“ – durch Arbeitsniederlegung. Der Begriff einer „leistungsgerechten Bezahlung“ wäre innerhalb der Belegschaft nicht mehr vermittelbar.
Ein Betrieb – ein Tarifvertrag
Spartengewerkschaften können den Unternehmen also nicht nur einen betriebswirtschaftlichen Schaden zufügen – sie beeinträchtigen auch den Zusammenhalt in den Belegschaften. Letzteres ist auf lange Sicht wesentlich gefährlicher für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Gegen den Egoismus der Spartengewerkschaften müssen Vernunft und Maß gesetzt werden. Obwohl es mir schwer fällt, trete ich hier für eine gesetzliche Regelung ein. Diese Regelung sollte sich an das geltende Recht vor dem denkwürdigen Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2010 anlehnen. Grundsätzlich muss gelten: Ein Betrieb – ein Tarifvertrag. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), in der ich mich als Präsident des Verbandes der Systemgastronomie engagiere, hat bereits im vergangenen Jahr Position für eine gesetzliche Regelung bezogen. Arbeitsministerin von der Leyen greift das Thema nun auf und stimmt zurzeit eine Regelung in der Koalition ab. Hierbei ist sie nicht allein: Die SPD fordert als größte Oppositionspartei ebenfalls den Erhalt der Tarifeinheit. Die Chance ist gegeben, dass in dieses Thema nun endlich Bewegung hineinkommt.
Für mein Unternehmen bin ich froh, dass trotz einzelner Werbungsversuche anderer Gewerkschaften die NGG die Nummer eins bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist. Es mag für mich nicht immer angenehm sein, wenn der NGG-Vorsitzende Franz-Josef Möllenberg mit saftigen Lohnforderungen in die Tarifverhandlungen geht. Aber ich weiß, dass die NGG als Gewerkschaft das Wohl aller Mitarbeiter im Blickfeld hat und nicht nur eine bestimmte Gruppe. Dieser Wert der sozialen Marktwirtschaft sollte unbedingt gesichert bleiben.
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