Zum Tod von Bert Neumann : Der Souverän der Volksbühne
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Bert Neumann 1960 - 2015 Bild: Marcus Lieberenz / bildbuehne.de
Der Bühnenbildner Bert Neumann hat den Geist und das Bild der Berliner Volksbühne geprägt. Jetzt ist er mit 54 Jahren verstorben. Ein Nachruf des Volksbühnen-Dramaturgen Carl Hegemann.
„Ich hab’s: nadryw! Das schreiben wir in Kyrillisch an die Volksbühne.“ Das stand in der vorletzten SMS, die ich von ihm bekommen habe, vor genau einem Monat. Und das steht da jetzt auch über die Ferien auf der sogenannten Bauchbinde an der Front des Theaters unübersehbar: ein kryptisches Wort in kryptischer Schrift. Scheinbar altes östliches Geheimwissen. Nur wer Dostojewskij kennt und Russisch lesen kann, versteht es oder versteht es auch nicht. Das Wort gilt nämlich als unübersetzbar, und Swetlana Geier hat es in ihrer Neuübersetzung der „Brüder Karamasow“ auch einfach unübersetzt stehen lassen.
Nadryw bezieht seine Bedeutung aus dem Kontext, wie alle Wörter. Es bezeichnet eine Art Überspannung, das kann ein Einreißen der Haut sein, wenn man einen Pickel ausdrückt, aber auch ein psychisches Einreißen angesichts einer ungewissen Zukunft und einer lastenden Gegenwart, kann man bei Google lesen. Bei Dostojewskij markiert das Wort zutiefst unangenehme und höchst aufregende Seelenzustände. Es ist das Dostojewskijwort schlechthin.
So passt es zu Frank Castorfs Karamasow-Inszenierung, die in der kommenden Spielzeit im von Bert Neumann komplett asphaltierten Raum der Volksbühne ihre Berliner Premiere haben soll, wie auch zur gegenwärtigen Situation der Volksbühne selber, die in den nächsten zwei Spielzeiten ihrem erzwungenen Abschied, ihrem Ende nach 25 Jahren, entgegensieht. Denn dann soll, so ist es Wille der Politik, etwas ganz anderes kommen, das vermutlich mit Nadryw wenig zu tun hat.
Er setzte die Trends
Für mich war es eine große Freude, als Frank Castorf und Bert Neumann mich fragten, ob ich nach neunjähriger Volksbühnenabstinenz für diese letzten beiden Jahre wieder mit dabei sein will. Und nun nach einem Monat schöner gemeinsamer Arbeit dieser plötzliche, furchtbare, endgültige Abschied, von dem Menschen, ohne den dieses Theater am wenigsten vorstellbar ist. Bert Neumann hat den Geist und das Gesamtbild der Volksbühne seit 1992 nach innen und außen mindestens so stark geprägt wie der Intendant selbst. Er setzte von Anfang an die Standards. Er war es, der für Kontinuität sorgte und immer auch für den Bruch. Man kann die Phasen der Volksbühne nach den ästhetischen Wandlungen, die er der Volksbühne verschrieb, einteilen. Nur eine Phase fiel ab. Das waren die zwei Jahre, in denen er nicht für die Präsentation der Volksbühne nach außen verantwortlich war.
Die Bilder, die er kreierte, und die Assoziationen, die er auslöste, die Vorgaben, die er seinen Regisseuren machte, die Entscheidungen, mit denen er sie konfrontierte und mit denen sie sich auseinandersetzen mussten, waren richtungsweisend für jede einzelne Produktion und wirkten oft auch auf das Erscheinungsbild der Volksbühne in der Stadt zurück. Neumanns Arbeiten und Sichtweisen haben sich tief in das Bewusstsein Berlins und des Theaters überhaupt eingeschrieben.
Er war der Souveränste von allen, und keiner konnte ihm das Wasser reichen. Was er einbrachte, vertrat er cool und zurückhaltend und humorvoll. Es war immer verblüffend. Und eine große Herausforderung für die anderen. Es richtete sich nicht nach Trends oder nach der Mode. Es setzte Trends und beeinflusste die Mode und auch die Werbung stark. Nicht nur auf den Theaterbühnen wurde und wird er kopiert. Die vermeintliche Ost-Orientierung kam auch im Westen, der vom Neuen und Unwahrscheinlichen lebt, gut an. Er konnte seine Ideen wortgewandt begründen, aber er glaubte nicht an Worte, die in ihrer Kontextabhängigkeit immer auch etwas ganz anderes bedeuten können, wenn sie nicht eh gelogen sind.
Feinfühlig im Kollektiv
Das erste Buch, das seine Arbeiten dokumentierte, hatte den von Douglas Sirk entlehnten Titel „The Imitation of Life“. Die Imitation des Lebens, die nach der Wende auch im Osten signifikant wurde, holte er als Imitation der Imitation auf die Bühne. Dadurch wurde totes Leben wieder lebendig. Mit seinen Räumen, die unsere alltägliche Realität spiegelten und transzendierten und oft das gesamte Theater ausfüllten und teilweise nur dem Blick der Kamera zugänglich waren, schaffte er Sinnprovinzen, die sich variiert in anderen Räumen für andere Inszenierungen wiederfanden, wie die ihren Zustand ändernden Bungalows in Castorfs frühen Dostojewskij-Romanadaptionen. Oder die Holzobjekte in Originalgröße, vom Panzer bis zum Killerwal, die eine ganze Serie von Polleschabenden in den letzten Jahren prägten und die, zusammen präsentiert, eine gigantische Skulpturenausstellung ergeben würden.
Bert Neumann war viel mehr als ein Bühnenbildner, er war ein konsequent eigensinniger Künstler, der sich fern jeder Theaterklischees völlig autonom mit dem Material beschäftigte und der trotzdem die seltene Fähigkeit besaß, feinfühlig in kollektiven Zusammenhängen arbeiten zu können, ohne die geringste Dienstleistungsmentalität. Sein Einfluss auf die Arbeiten von Frank Castorf und René Pollesch im Besonderen, aber auch generell auf die Entwicklung des Theaters in den letzten zwanzig Jahren kann nicht überschätzt werden.
Über Krankheit spricht man nicht, das passte nicht zu ihm, er hat sie verdrängt, wir haben sie verdrängt, er wurde mitten aus dem Leben gerissen, er war voller neuer Pläne für den langen Abschied, die jetzt niemand mehr wird realisieren können. Ein unfassbarer abrupter Riss. Nadryw. Mit Bert Neumann ist die Volksbühne schon zwei Jahre vor ihrem von der Politik verfügten Ende gestorben.