Martin Walser : Über Rechtfertigung, eine Versuchung
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Martin Walser Bild: Franz Bischof
Die Universität Harvard hat Martin Walser eingeladen, eine Rede zum 9. November zu halten. Die Ansprache des Schriftstellers zielt ins Zentrum seines Selbstverständnisses.
1.
Gerechtfertigt zu sein, das war einmal das Wichtigste. Staaten legitimieren sich durch Gesetze. Regierungen durch Wahlen. Aber der Einzelne?
Das durchdringendste Beispiel einer Suche nach Rechtfertigung hat Kafka geliefert im „Prozess“-Roman. Josef K. wird eines Morgens verhaftet, ohne dass er etwas Übles getan hätte. Zur Verhandlung gegen ihn muss er in die Vorstadt, wo die Ärmeren wohnen. Alle Angeklagten, die dort vernommen werden, stammen, heißt es, aus den „höheren Schichten“.
Als Josef K. zum ersten Mal am Sonntag in einem dieser schlechtbeleuchteten Säle die Masse von Menschen bemerkt, die offenbar seine Vernehmung erleben wollen, hat er den Eindruck, es „handle sich um eine politische Versammlung“; in der ersten Fassung stand da, es handle sich um eine „sozialistische Versammlung“.
Es ist nur eine gelinde Trivialisierung zu sagen, der „Prozess“ sei der Roman einer Gewissenserforschung, ein Roman auf der Suche nach Rechtfertigung. Und der, dem diese Rechtfertigung so fehlt, dass er den Prozess förmlich auf sich zieht, das ist „der Prokurist einer großen Bank“. Josef K. sucht dann Hilfe überall, auch in der Kunst, schließlich in der Religion. Alles umsonst. Er kann, wie er ist und lebt, nicht leben.
Die Schande, die er als Parasit ist
Kafka hat den Werktag, die politische Spur, nicht ganz und gar getilgt. Trivialisiert könnte man sagen, Josef K. habe ein schlechtes Gewissen den Ärmeren gegenüber. Josef K. erwacht und wird verhaftet, Gregor Samsa erwacht und findet „sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“. Man hat sich angewöhnt und das auch in Illustrationen ausgedrückt, Samsa als Käfer zu sehen. Aber ein „ungeheures Ungeziefer“ ist doch noch einmal etwas anderes als so ein Käfer. Da steht nicht: Er war in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt, sondern: er „fand sich eines Morgens in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt.“
Wie es dazu kommt, dass der Tuchreisende Samsa sich als Ungeziefer erlebt, das wird sorgfältig erzählt. Er, der Handlungsreisende, wacht auf, sieht, dass er seinen Zug versäumt hat, gerät in Panik, er wird das Geld nicht verdienen, also ist er ein Parasit, also ein „ungeheures Ungeziefer“. Und die Umwelt tut das Ihre, ihn darin zu bestätigen. Bis auch er bereit ist, „freiwillig“ zu sterben, weil er nur so die Familie von der Schande befreien kann, die er als Parasit ist.
Fünfzig Jahre vorher lässt Dostojewski im Roman „Aus dem Dunkel der Großstadt“ einen Kanzleisekretär sagen: „Ich versichere Ihnen feierlichst, schon mehrere Male wollte ich ein Insekt werden, doch selbst dazu langte es nicht.“ Und fast einhundert Jahre davor schreibt Jean Paul in seinem Roman „Hesperus“: „ . . . ihm fiel in jede große Freude der Zweifel wie ein bitterer Magentropfen hinein, ob er sie verdiene“ und fährt fort, dass Kindern aus besseren Häusern dieser alles verbitternde Zweifel von Anfang an wegerzogen wird.
Und wie recht er da hatte, hat wiederum gute hundert Jahre später Thomas Mann seinen Tonio Kröger sagen lassen: „Es ist gerade genug, dass ich bin, wie ich bin und mich nicht ändern will und kann . . .“ Er sieht sich mit allem, was er fühlt und denkt, gerechtfertigt.