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Clemens Berger: Das Streichelinstitut : Streicheln bis zum Umfallen

  • -Aktualisiert am

Bild: Wallstein

Die Kunst der Menschen Zähmung und Tröstung: Clemens Berger entwirft in seinem ersten Roman die Idee eines "Streichelinstituts". Ganz Wien ist begeistert - und die Leser auch.

          3 Min.

          Ein Mann geht um in Wien, der die Menschen glücklich macht. In der Mondscheingasse kann man ihn besuchen, um sich eine Dreiviertelstunde lang streicheln zu lassen – no sex, wohlgemerkt. Das ist die eine Regel, die Sebastian und seine Freundin Anna festlegen, als sie die Idee für ein „Streichelinstitut“ während eines Sommerurlaubs ersinnen. Sebastian hat nämlich besonders zarte Hände, und Anna sagt ihm auf den Kopf zu: „Du könntest reich werden damit.“

          Jan Wiele

          Redakteur im Feuilleton.

          Im Hintergrund steht also nicht nur das Glück der anderen, sondern auch der handfeste Plan, Geld zu verdienen – Sebastian gehörte nämlich bislang zu der Gruppe, die man als akademische Prokrastinierer bezeichnen könnte. Zwei Dissertationen für andere hat er schon verfasst, nur an der eigenen hapert es noch. Als Streichler jedoch will er sich nun zum Homo oeconomicus wandeln – kein einfacher Schritt für ihn und Anna, die durchaus sozialistisch geprägt und mit allerlei Foucault, Agamben und auch Adorno beschlagen ist. Des Letzteren vielleicht bekanntestes Wort steht, als Frage und etwas zugespitzt, im Zentrum von Clemens Bergers Roman: Gibt es ein richtiges Leben im falschen Wiener Bezirk?

          Die Esoteriker rufen

          Sebastian muss für seine Mission nämlich tief ins Feindesland: Die Mondscheingasse erscheint ihm als Straße der Scharlatane, zwischen „Trommelkursen, Urschreitherapie und Rebirthing“ wird auch sein Angebot stehen müssen, um Erfolg zu haben. Seine potentielle Kundschaft sucht er im „traurigen, kulturell deklassierten Bürgertum“. Das philosophische Vakuum dieser Menschen will er durch seine Streicheleinheiten füllen – und nebenbei auch seine Taschen. Um zu zeigen, dass er es ernst meint, nennt Sebastian sich fortan Severin Horvath – und wird schnell zu einer lokalen Berühmtheit.

          Bei der inneren Verweigerungshaltung bleibt es freilich nicht lange, denn es kommen auch ganz andere Kunden als die erwarteten, und die Streicheltätigkeit hat sowohl auf Sebastian wie auch auf Anna und beider Beziehung unerwartete Auswirkungen. Dafür sorgt besonders Irene Fischer, die als zufriedene Kundin unternehmerisch wird und einen Expansionsplan für das Institut entwickelt. Neben Verwicklungen und Krisen, die teils unerhört, aber immer auch unerhört komisch sind, spielt am Ende auch eine allseits bekannte Krise des Jahres 2008 eine wichtige Rolle im Debütroman Clemens Bergers.

          Alles so schön schräg hier

          Die Leistung Bergers besteht darin, die zunächst grotesk anmutende Handlung mit so viel realistischer Problematik des Liebes- wie des Arbeitslebens zu umgeben, dass man ständig zwischen Freude über so viele gute Einfälle und Rührung durch die erzählte Geschichte schwankt. Bei allem Humor führt diese nämlich durchaus ernsthaft die Grenzsituation vor, in der sich menschliche sanfte Berührung vollzieht: Sie ist nur bedingt steuerbar, kann ungeahnte Emotionen und Erinnerungen hervorbringen. Und sie ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Handlung, die den Menschen schuldfähig macht.

          Besonderen Reiz hat dabei die Perspektive des erlebenden Ich-Erzählers. Geradezu emblematisch für die exklusive Sicht auf die Dinge, die sie manchmal bedeutet, vielleicht auch als eine Art Warnung, ist in den Roman die Beschreibung eines Bildes eingelassen. Das Selbstbildnis im Konvexspiegel des Malers Parmigianino wird dominiert durch eine übergroße Hand im Vordergrund – so stellt sich Sebastian die Hand eines Streichlers vor. Um ihn, um seine Gefühle und Bewertungen, dreht sich in seiner Ich-Erzählung naturgemäß alles, denn dies ist auch die Geschichte eines Egomanen.

          Ein Panoptikum an Patienten

          Gelungen ist dieser Roman bis in die Details der Personenkonstellation und der Sprache. Die höchst unterschiedlichen Personen, die die Dienste des Streichelinstituts in Anspruch nehmen, werden plastisch und interessant gemacht, wenngleich man bisweilen nur wenig von ihnen erfährt. Da ist beispielsweise der erst noch sehr zugeknöpfte Ministerialbeamte, der am Ende jeder Streicheleinheit „in homöopathischen Dosen Tränen“ verdrückt. Berger vermeidet es klug, zu viel zu erklären – sondern lässt die Personen lieber gekonnt selbst zu Wort kommen – die Äußerungen reichen von der telefonischen Kurzmitteilung über Tagebucheinträge bis zum Beziehungsstreitgespräch, bei dem jedes Wort sitzt. Durch Aussparungen entsteht immer wieder ein kalkulierter Interpretationsspielraum, der einen manche Passage mit geradezu detektivischer Aufmerksamkeit nochmals lesen lässt – mit Gewinn und Respekt vor solcher Kompositionskunst. So ist „Das Streichelinstitut“ nicht zuletzt für den Leser die reinste Liebesarbeit.

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