https://www.faz.net/-gr3-8vu

David Foster Wallace: The Pale King : Die Sinnlosigkeit des Glücks

  • -Aktualisiert am

Bild: dapd

In seinem nachgelassenen Romanfragment „The Pale King“ entwirft David Foster Wallace eine Jahrhundertfigur: einen Mann, der sich nicht langweilen kann. Damit gelingt ihm ein Glanzstück amerikanischer Prosa.

          7 Min.

          In David Foster Wallaces Romanfragment „The Pale King“, das im April im amerikanischen Verlag Little, Brown erschien, gibt es eine Figur, die sich, wenn alles mit rechten Dingen zuginge, als neue archetypische Figur in die Weltliteratur einfügen müsste. Allerdings ist sie nur eine Nebenfigur, sie lebt gerade einmal 65 Seiten lang, für die Dauer des magischen Kapitels „§46“ gegen Ende des Buches. Ihr Name: Shane Drinion. Eine Gestalt aus einem Denkuniversum, das erst in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren entstehen konnte, ein Konzentrationsgespenst, abstrakt und unmenschlich und dabei gleichzeitig intim und vertraut wie die eigenen fünf Sinne.

          Aber diese Figur wird wahrscheinlich übersehen werden, Shane Drinion wird sich zu den anderen Bewohnern des Romans gesellen. Denn er fügt sich mühelos unter seinen Gefährten ein, die ja alle in gewisser Hinsicht dasselbe Problem haben: Langeweile. Über diese Tatsache wurde bereits beim Erscheinen des Buches ausführlich berichtet (F.A.Z. vom 6. April). Die einzelnen, miteinander nur lose zusammenhängenden Kapitel des Buches konzentrieren sich auf verschiedene Spielarten menschlicher Reaktionen auf Langeweile, auf Strategien, mit ihr umzugehen, Auswege, Träumereien. Sogar eine Figur namens David Wallace begegnet ihr, in einigen selbstironisch auf hohen Fußnotenwellen daherschwimmenden Kapiteln, er sieht Menschen in Räumen, die unbeweglich auf ein Blatt Papier starren, ein Blick in den innersten Kreis der Hölle. Wir lernen ihn und andere Angestellte der Steuerbehörde in Peoria, Illinois (IRS), als Kinder, Jugendliche und Studenten kennen, wir erleben Besuche von Gespenstern, die selbst noch im Jenseits über das Konzept der Langeweile nachgrübeln, wir erleben unkontrolliert schwitzende und sich manisch selbst beobachtende Menschen in Orientierungs- und Einführungsgesprächen, stille Zusammenbrüche in Nebenzimmern, nur flüchtig beobachtet von Mitarbeitern, schreckliche Kindheitstraumata aus einer trostlosen Trailer-Park-Existenz, widerhallend in stillen Büroräumen.

          Glanzstück amerikanischer Prosa

          All das ist eine gute Vorbereitung des Lesers auf das Kapitel „§46“. Es spielt in einem Lokal namens „Meibeyer's“, in das viele IRS-Angestellte nach der Arbeit gehen, und es besteht fast ausschließlich aus dem Gespräch zwischen Drinion und einer gewissen Meredith Rand. Nachdem ich es fünfmal, einmal davon sogar laut, gelesen habe, bin ich davon überzeugt, dass es - wenn, wie gesagt, alles mit rechten Dingen zugeht - als eines der Glanzstücke amerikanischer Prosa in die Literaturgeschichte eingehen wird. In seiner enigmatischen Pracht ist es auf einer Stufe mit Benjys Kapitel in William Faulkners „The Sound and the Fury“, der Liebesszene in Harold Brodkeys „Innocence“ und der kleinen Geschichte von der unsterblichen Glühbirne „Byron“ in Thomas Pynchons „Gravity's Rainbow“.

          Shane Drinion gilt als „a very solid Fats and Scorp examiner but a total lump in terms of personality, possibly the dullest human being currently alive“. Das Auftreten dieses womöglich fadesten lebenden Menschen wirkt unbeteiligt, aber immer konzentriert. Er hört jedem, der spricht, mit gleicher Aufmerksamkeit zu. Ihm gegenüber sitzt Meredith Rand, eine Angestellte der „Problem Resolution“-Abteilung. Sie ist eine umwerfend hübsche Frau, die genau weiß, dass alle Männer im Raum gequälte Blicke auf sie werfen. Sie beginnt ein Gespräch mit Drinion. Small Talk, nichts Besonderes. Sie spielt vielleicht ein bisschen mit ihm, erzählt ihm, dass sie ihn interessant findet. Gerade ihn, der nie von irgendjemandem interessant gefunden wird. Er registriert es als Kompliment - und analysiert auf eine respektvolle, freundliche Art die Beweggründe, die sie haben könnte, ihm so etwas zu sagen.

          Eine Art Anti-Bartleby

          Weitere Themen

          Heiligabend als Halbschwesterndrama

          „Weihnachtstöchter“ im ZDF : Heiligabend als Halbschwesterndrama

          Im ZDF müssen drei „Weihnachtstöchter“ über akute Geldnot hinweg zueinander und ihren Frieden finden. Die Damen Cukrowski, Uhlig und Woll schlagen sich prächtig, während die Männerfiguren zur Unterkomplexität neigen.

          Topmeldungen

          „Je suis Charlie“ – Ich bin Charlie: Gedenken an die Opfer des Attentats auf die Redaktion des französischen Satiremagazins im Januar 2015

          „Charlie Hebdo“-Prozess : Die Idee, die man nicht töten kann

          Der „Charlie Hebdo“-Prozess sollte den Riss heilen helfen, der seit den islamistischen Anschlägen im Januar 2015 durch die französische Gesellschaft geht. Doch er hat viele Hoffnungen nicht erfüllt. Am Mittwoch wird das Urteil erwartet.

          Kritik an Tempo : Warum die EU den Impfstoff gründlicher prüft

          In Deutschland wird Kritik laut, weil andere Länder bei der Zulassung des Corona-Impfstoffs von Biontech schneller vorgehen. Gesundheitsminister Spahn macht jetzt die Arzneimittelagentur Ema dafür verantwortlich.
          Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) im September 2020 in Berlin

          EU-Migrationspolitik : Seehofers erloschener Funke

          In ihm sei noch einmal „ein richtiger Funke entzündet worden“, sagte Horst Seehofer, als er im Juli den Vorsitz im Rat der EU-Innenminister übernahm. Doch in der Asyl- und Migrationspolitik hat Berlin seither nicht viel erreicht.
          Zwei russische Soldaten im Jahr 2000 in einem Chemiewaffenlager in der russischen Stadt Gornyj

          Nawalnyjs Vergiftung : Ein Cocktail nach dem Geschmack des Geheimdienstes

          Rechercheure haben neue Erkenntnisse zum Anschlag auf Alexej Nawalnyj vorgelegt – demnach trank er wohl einen vergifteten Cocktail. Sie glauben auch, dass es bis heute ein geheimes russisches Chemiewaffenprogramm gibt.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Abonnieren Sie unsere FAZ.NET-Newsletter und wir liefern die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.