John Banville: Unendlichkeiten : Tausche Geschichte gegen Ewigkeit
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Bild: Kiepenheuer und Witsch
Alles Leben vor dem Tod: John Banville lässt die Götter im Roman „Unendlichkeiten“ ein großes Spiel mit den Sterblichen treiben.
Die Götter sind in John Banvilles Roman „Unendlichkeiten“ zwar quicklebendig, aber stark heruntergekommen. Sie mischen beim Treiben der Erdbewohner mit, glauben aber nicht daran, dass Erkenntnis frei macht, und fürchten die Wahrheit wie der Teufel das Weihwasser.

Redakteur im Feuilleton.
Man liest das und denkt: Es ist misslich, wenn die Götter zu Relativisten werden. Allein ihre Robustheit als Götter lässt sie in diesem Roman die Wahrheit aushalten, an der die Menschen zugrunde gehen. So empfiehlt auch Hermes, die Erzählerstimme, nichts anderes als das nietzscheanische Als-ob, wenn er erklärt: „Gerade die Unfähigkeit der Sterblichen, sich die Dinge so vorzustellen, wie sie wirklich sind, ist es ja, die ihnen überhaupt erst erlaubt zu leben, würde doch ein einziger unverstellter Blick auf die Totalität der Welt sie augenblicklich vernichten, ganz so, als wehte sie ein Schwaden tödlichsten Faulschlammgases an.“ Daraus spricht nicht der Erkenntnisoptimismus des absoluten Geistes, an dem teilzuhaben die Menschen aufgerufen wären, sondern tiefer Defätismus. Banvilles Götter sind durch Schaden klug - und skeptisch geworden.
Man kann sich den Bruch mit der mythologischen Überlieferung, den der nur vom Hund Rex erkannte Hermes hier verkörpert, nicht tief genug vorstellen. In den antiken Philosophenschulen, bei den Epikureern, den Stoikern und den Kynikern, herrschte Einigkeit, dass man die Perspektive des Alls einzunehmen hat, den Blick von oben, um die Dinge in ihren richtigen Proportionen zu sehen. Man nahm damit teil am Blick der Götter selbst, den sie, unbeteiligt am Weltgeschehen, in ihrer ewigen heiteren Gelassenheit auf die Unendlichkeit des Raumes, der Zeit und der Welten werfen. Und nun dieses erkenntnistheoretische Desaster, dass der Blick auf die Totalität nicht therapiert, sondern krank macht, vernichtet - jedenfalls die Menschen, die nicht über die Widerstandskraft der Götter verfügen: „Wir sehen“, sagt Hermes, „all dies jeden Moment in seiner ganzen Schrecklichkeit, doch uns ficht es nicht an; das eben ist’s, was uns zu Göttern macht.“ Es ist nicht so, dass die Götter mit ihrem Durchblick die Welt im Sein erhalten. Sondern sie finden Strategien, um trotz ihres Durchblicks zu überleben. Das ist ein Unterschied, der in dem „reinen Roman“, als welchen Banville die „Unendlichkeiten“ begreift, den Unterschied macht. Menschen bleiben, so legt uns der große irische Erzähler nahe, auf den Tod als Elixier des Lebens angewiesen.
Das klassische Ineinander von Natur und Übernatur
Warum Roman in Reinkultur? Weil hier ein Erzähler schalten und walten kann wie ein Gott, Welten aus dem Nichts der Phantasie erschafft und sie wieder in dieses Nichts zurücksinken lässt, sobald er aufhört, ihnen seine Stimme, die Stimme des Hermes, zu leihen. Die Handlung, vorderhand streng nach der Einheit von Ort und Zeit erzählt, spielt sich an einem einzigen Tag in einem einzigen Haus ab, entgleist aber lustspielartig immer wieder in Slapstickszenen und luftiger Götterdramaturgie. Der alte Adam Godley liegt nach einem Schlaganfall im Sterben, die Familie (Frau Ursula, Sohn Adam, Tochter Petra) eilt herbei. Als Mathematiker war Godley mit seinem Konzept der Unendlichkeit zu Ruhm gelangt, das nun, im Zwischenreich von Leben und Sterben, die Probe aufs Exempel besteht. Banville zufolge ist diese mathematische Theorie der Unendlichkeiten eine Luftnummer, die sich wissenschaftlicher Darlegung entzieht. Jedenfalls soll mit ihr die Antithese zu Plancks „Relativitätsschwindel“ formuliert werden: In der sogenannten „Brahmahypothese“ lässt Godley die gesamte Schöpfung aus dem zerlaufenen Dotter vom goldenen Brahma-Ei entstehen.
Immerhin ermöglicht diese wüste mathematische Theorie ein Ineinander von Natur und Übernatur, wie wir es aus dem klassischen Drama kennen. Hier dergestalt, dass Zeus und Hermes ungehinderten Zugang zum Himmelszimmer genannten Sterbezimmer Godleys erhalten und den mythologischen Kern des Romans zur Entfaltung bringen können: die Variation von Kleists „Amphitryon“. Die Geschichte von Jupiter, der in Gestalt des thebanischen Feldherrn Amphitryon zur Erde kam, um eine Nacht mit dessen Gattin Alkmene zu verbringen, gehört in den Umkreis der Herakles-Mythen und hat mehrere literarische Anverwandlungen erlebt. Auch Banvilles Zeus wünscht, dass die schöne Helen, Gattin von Godleys Sohn Adam, zwischen (flammendem) Liebhaber und (erloschenem) Gemahl unterscheiden möge, als der Götterkönig in Gestalt des jungen Adam im Morgengrauen mit ihr schläft, ohne dass sie wüsste, wie ihr geschieht.