Thomas von Steinaecker: „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen (...)“ : Das nackte Antlitz der Gegenwart
- -Aktualisiert am
Bild: S. Fischer Verlag
Thomas von Steinaeckers neuer Roman ist ein großartiges Porträt unserer Zeit. Gegen diese Krise ist selbst eine Versicherungsangestellte machtlos.
Das Wetter - von der kleinen atmosphärischen Verschiebung bis zum donnernden Wolkenbruch - ist seit jeher ein unmissverständliches erzählerisches Mittel. Sei es als Indikator für die Verfasstheit der Figuren, sei es als Allegorie einer höheren Instanz oder als Öffnung des Deutungshorizonts. In jüngster Zeit verweisen atmosphärische Schwankungen oft noch auf etwas anderes: auf ein fehlerhaftes System, das zunächst das Klima störungsanfällig macht, um schließlich selbst zu kollabieren.
Wenn nun also Thomas von Steinaecker seinen Roman „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen“ mit einem überraschenden Kälteeinbruch beginnen lässt, dann handelt es sich nicht mehr um ein Vorzeichen, sondern bloß noch um ein symbolisches Nachwehen dieses systemimmanenten Fehlgehens. Schnee bedeckt die Stadt, als Renate Meißner die Treppe aus der Münchner U-Bahn heraufsteigt.
Ins Erzählgefüge eingewobene Wirklichkeitspartikel
Der Roman setzt ein am 1. Oktober 2008 - im September 2008 ist mit der Lehman-Pleite die Finanzkrise auf ihrem vorläufigen und bildträchtigsten Höhepunkt angelangt. Steinaecker erwähnt die Krise nicht explizit, lässt lediglich den Blick seiner Ich-Erzählerin flüchtig über eine Trauergemeinde schweifen. Und während Renate Meißner noch meint, den Schmerz der Anwesenden in dunklen Mänteln und mit gesenkten Häuptern beisammen gehen, auch in sich selbst zu spüren, realisiert sie schlagartig, dass es sich nicht um Trauernde handelt, sondern um Angestellte auf dem Weg zur Arbeit.
Es ist mehr als höhere Ironie, wenn es sich bei diesem 1. Oktober 2008 um den ersten Arbeitstag von Renate Meißner in einer neuen Stellung handelt. Es ist das Prinzip, mit dem Steinaecker Gegenwart erzählt. Das Aufblitzen von Wirklichkeitspartikeln, die eingewoben sind in das Erzählgefüge und von denen man mitunter nicht mit letzter Sicherheit sagen kann, ob man sie tatsächlich gerade gelesen oder gesehen hat, weil sie das Bewusstsein nur vage streifen. Das gilt auch für die Fotografien, die Steinaecker eingefügt hat. Sie verdoppeln auf gespenstische Weise das Erzählte, als vermeintlicher Beweis einer Authentizität, von dem man weiß, dass er keiner sein kann.
Zugleich ist in dieser Anfangssequenz ganz klassisch das Figurenschicksal vorweggenommen. Der erste Arbeitstag von Renate Meißner ist nur das retardierende Moment, auf das der endgültige Abstieg mit ruhiger Zwangsläufigkeit folgt. Renate hat sich nicht freiwillig in die Münchner Niederlassung der Cavere-Versicherungsgesellschaft versetzen lassen. Dieses Musterexemplar von Karrierefrau, dieser Ausbund an Rationalität, die jede ihrer Handlungen und Äußerungen kalkuliert und jede Handbewegung ihrer Kollegen evaluiert und alles umgehend in ein Netz von Kosten-Nutzen-Abwägungen und Statistiken einspeist, genauso wie sie mit Unerbittlichkeit gegen ihren Körper alle Geschäftstermine auf High Heels erledigt, ist nicht etwa über ihre hohen Absätze gestolpert, sondern, oh Hohn des Schicksals, über einen Mann. Ihr Frankfurter Chef hat sie nach einer Affäre doppelt vor die Tür gesetzt und aus seinem privaten und beruflichen Dunstkreis heraus nicht nur aufs berufliche Abstellgleis befördert, sondern in einen Zug gesetzt, der unaufhaltsam gegen die Wand fährt. Ausgerechnet einer Frau wie ihr hätte das nicht passieren dürfen.
Die Figuren erliegen dem medialen Schein
Renate Meißner, ein typisches Kind ihrer Zeit, ist ein tragischer Charakter. Diese kinderlose Zweiundvierzigjährige ist äußerlich von makelloser Härte, während sie innerlich vibriert vor Angst und Einsamkeit, auch während sie Tabletten schluckt, die sie aufgereiht auf den Nachttisch legt, um nicht herauszufallen aus den Sicherheitsgerüsten von Kalkül und Statistik, mit denen sie ihr Leben zusammenzuhalten sucht. Das Jenseitige der Vernunft ist bei Renate Meißner längst ins Pathologische umgeschlagen. Das Stoffhäschen, das sie an ihrem Computer befestigt, mag man noch für einen infantilen Spleen halten. Wenn sie aber Pfandflaschen aus Papierkörben klaubt, kann man das subkutane Grauen kaum verdrängen.