https://www.faz.net/-gqz-6y94x

Über das wissenschaftliche Sachbuch : Denken zwischen Mülltrennung und Notaufnahme

Wo die Bücher ohne Ansehen ihres Inhalts überdauern: in der Bibliothek. Bild: dapd

Tausend Titel und dahinter keine Welt: Mit der Qualitätsdichte wissenschaftlicher Sachbücher unserer Epoche ist es nicht gut bestellt. Überlegungen zum Strukturwandel des geistigen Lebens.

          7 Min.

          Vor fünfzig Jahren, im Jahr 1962, erschien von Claude Lévi-Strauss „Das wilde Denken“, in dem der französische Ethnologe seine Kritik am historischen Bewusstsein von Gesellschaften formulierte, die an den Fortschritt glauben. Im selben Jahr brachte Theodor W. Adorno seine „Einleitung in die Musiksoziologie“ heraus, damals in der Reihe „rowohlt enzyklopädie“, mithin als populäres Sachbuch. Ebenfalls 1962 legte Umberto Eco seine Studie über „Das offene Kunstwerk“ vor, Thomas S. Kuhn seine „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ und Karl Popper seine „Vermutungen und Widerlegungen“. Aus dem Nachlass des Philosophen John Austin wurden die epochemachenden Vorlesungen „How to do Things with Words“ herausgegeben. Jürgen Habermas veröffentlichte den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“.

          Aus der Sicht des Buchmarktes war das die Produktion einer einzigen Saison. Man muss die Auflagenzahlen dieser Titel dabei gar nicht anführen, es ist auch so klar, dass es sich um bleibende Beiträge zu ihren Fächern und zu dem handelte, was man später den „intellektuellen Diskurs“ nennen würde.

          Ein annus mirabilis

          Zieht man jahrweise Stichproben aus der Folgezeit, dann liest sich eine fast willkürlich und nur unter Berücksichtigung weniger Disziplinen zusammengestellte Liste für die halbe Dekade so: 1963 erschienen Michel Foucault, „Die Geburt der Klinik“; Carl Schmitt, „Theorie des Partisanen“; Leo Strauss/Alexandre Kojève, „Über Tyrannis“; Peter Szondi, „Der andere Pfeil“; 1964: Niklas Luhmann, „Funktion und Folgen formaler Organisation“; Jean-Paul Sartre, „Die Wörter“; Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, „Die Illusion der Chancengleichheit“; Peter Blau, „Exchange and Power in Social Life“; 1965: Noam Chomsky, „Aspekte der Syntax-Theorie“; Peter Laslett, „The World We Have Lost“; Ralf Dahrendorf, „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“.

          1966, in einem annus mirabilis: Michel Foucault, „Die Ordnung der Dinge“; Theodor W. Adorno, „Negative Dialektik“; Louis Dumont, „Homo hierarchicus“; Algirdas Greimas, „Sémantique structurale“; Hans Blumenberg, „Die Legitimität der Neuzeit“; Mary Douglas, „Purity and Danger“; und 1967 dann noch: Jacques Derrida, „Grammatologie“; Erving Goffman, „Interaktionsrituale“; Roland Barthes, „Die Sprache der Mode“; Dieter Henrich, „Fichtes ursprüngliche Einsicht“.

          Die Kritik lobt, was bald vergessen ist

          Wir wollen nicht mit Listen bedeutender Bücher langweilen. Wir wollen nur auf eine Frage aufmerksam machen, die sich angesichts dieser dichten Abfolge folgenreicher Texte aufdrängt. Dies Frage lautet: „Und wir?“ Denn es unterliegt ja keinem Zweifel, dass irgendwann in den vergangenen Jahrzehnten die Frequenz des Vorbildlichen stark abgenommen hat. Wer heute die wissenschaftlichen Bücher einer Saison in den Blick nimmt, kommt nicht um diese Einsicht herum. Oder auf welche zwanzig, dreißig Werke aus den zurückliegenden fünf Jahren sollten wir wetten, dass sie in fünfzig Jahren noch erinnert werden? Die Kritik lobt - hier wie auch in der Literatur - bestenfalls im Bewusstsein, dass bald vergessen sein wird, was sie lobt. Schlimmstenfalls lobt sie, ohne daran zu denken.

          Weitere Themen

          „Land“ (OV) Video-Seite öffnen

          Trailer : „Land“ (OV)

          „Land“, Reg. Robin Wright. Mit: Robin Wright, Demián Bichir, Sarah Dawn Pledge. Start: 12.02.2021 (Amerika).

          Topmeldungen

          Von der Riester-Rente hatte man sich einst mehr Komfort im Alter erhofft.

          Riester-Rente : Vier verschenkte Jahre für deutsche Sparer

          Die Koalition wollte die private Altersvorsorge einfacher und billiger machen. Dafür hatte sie zwei Varianten zur Auswahl. Doch auf den letzten Metern verlässt die Politik der Reformwille. Sie hat sich für keine von beiden entschieden.
          Polizisten patrouillieren am 22. Januar in Kitzbühel in Tirol.

          Gefahr durch Mutante : Österreich erwägt Abriegelung Tirols

          Österreich will die Ausbreitung der südafrikanischen Corona-Mutante verhindern. Fachleute warnen vor einem „zweiten Ischgl“. Der Tiroler Landeshauptmann warnt vor übertriebenen Maßnahmen.
          Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, die Bundesvorsitzenden der SPD, kurz vor Beginn des Koalitionsausschusses vor dem Bundeskanzleramt

          Weitere Pandemie-Hilfen : Ein Corona-Paket ohne Wumms

          Union und SPD haben geräuschlos getagt und diverse Hilfsmaßnahmen verkündet. Das Ergebnis ist eine merkwürdige Mischung aus Großzügigkeit und Sparsamkeit.
          Sigrid Graumann, Alena Buyx und Volker Lipp präsentieren die Empfehlungen des Ethikrates

          Ad-hoc-Empfehlung : Ethikrat gegen Lockerungen für Geimpfte

          Der Ethikrat spricht sich dagegen aus, dass staatliche Freiheitsbeschränkungen zum aktuellen Zeitpunkt individuell zurückgenommen werden. Sobald dem Gesundheitssystem kein Kollaps mehr drohe, müssten die Einschränkungen für alle aufgehoben werden.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Abonnieren Sie unsere FAZ.NET-Newsletter und wir liefern die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.