Falsches Gerede von der Krise : Klassische Musik ist tot? Von wegen!
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Musiker des Würzburger Mozartfestes stehen 2016 im Kaisersaal der Residenz vor dem Publikum. Bild: dpa
Die Krise der Klassik wird regelmäßig heraufbeschworen: Doch die Nachfrage ist groß wie nie zuvor. Nicht nur ihre Zuhörer sind zahlreich – sondern auch die Formen der Darbietung.
Sie könne jedes Konzert in der erzbischöflichen Residenz dreimal verkaufen, sagt Evelyn Meining, die Intendantin des Würzburger Mozartfestes. Die Nachfrage nach Karten sei viel höher als die Platzkapazität; von einem Publikumsschwund könne keine Rede sein. Die Dresdner Musikfestspiele verzeichnen einen Anstieg ihrer Karteneinnahmen von 1,4 auf 1,54 Millionen Euro bei einer Auslastung von 91 Prozent. Gestiegene Kartenpreise im vergangenen Jahr hätten keine Auswirkungen auf die Nachfrage gehabt. Die Händel-Festspiele in Halle vermelden 2018 einen Besucherrekord von 58.000 Menschen; Gleiches hört man vom Bachfest in Leipzig, wo wegen des bislang einmaligen „Kantaten-Rings“ 79.000 Hörer zusammenkamen und zu einem Anstieg der Kartenverkäufe um 54 Prozent beigetragen haben. Nun soll man bekanntlich keiner Statistik trauen, die man nicht selbst gefälscht hat, aber alle diese Festivals unterliegen ja der Kontrolle von Steuerprüfern oder Landesrechnungshöfen; da hat die Trickserei Grenzen.

Redakteur im Feuilleton.
Wo ist sie also, die „existenzielle Krise“ der klassischen Musik, von der der Dirigent Kent Nagano in seinem Buch „Erwarten Sie Wunder!“ erzählt und die Berthold Seliger jüngst in seinem Buch „Klassikkampf“ (F.A.Z. vom 9. Februar) wieder beschworen hat? An der Empirie lässt sie sich nicht festmachen. Die Statistiken des Deutschen Musik-Informationszentrums, die jedermann zugänglich sind, verzeichnen zwar zwischen 2005 und 2011 einen Rückgang des Interesses am Besuch klassischer Musikfestivals von 12,1 auf 8,0 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung über vierzehn Jahre. Doch seitdem hat sich der Trend umgekehrt. Inzwischen liegen wir wieder bei 10,5 Prozent. Die Rede vom „Publikumsschwund“ der klassischen Musik lässt sich durch Tatsachen aber nicht verwirren. Wie in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 8. August 2016) dargelegt, hören in Deutschland so viele Menschen klassische Musik wie nie zuvor. Seit 1871 hat sich der Anteil jener Bevölkerungsgruppe, die Konzerte und Opernaufführungen besucht, verzehnfacht und in absoluten Zahlen etwa versechzehnfacht.
„Man trifft sich zum Date im Konzert“
Nicht nur die Festivals mit ihrem zeitlich begrenzten Eventcharakter profitieren von der steigenden Nachfrage; auch die Abonnements bei festen Ensembles wachsen. Bernhard Heß, der Direktor des Rias-Kammerchors in Berlin, verzeichnet seit 2011 eine Zunahme bei den Abonnements von 65 Prozent. Trotz gestiegener Platzkapazität liege die Auslastung momentan sehr hoch bei 88, 4 Prozent – und das nicht wegen „neuer Formate“ oder urbanem „Konzertdesign“, sondern aufgrund sachbezogener, aus der Musik und der Kulturgeschichte entwickelter Konzertprogramme. Als Berthold Seliger im Januar auf Deutschlandfunk Kultur mit der Beobachtung konfrontiert wurde, das Publikum in Berlin sei in den Altersklassen gut gemischt und zahlreich, versuchte er sich mit der Bemerkung aus der Affäre zu ziehen, Berlin sei eine „Insel“.
Nun vermeldet aber auch das Theater Osnabrück, das jüngst durch eine recht mutige Spielplangestaltung mit Opernraritäten und Uraufführungen auffiel, für die Saison 2016/17 eine Rekordauslastung von mehr als 85 Prozent. Marcus Rudolf Axt, der Stiftungsvorstand und Intendant der Bamberger Symphoniker, erzählt, dass auch in Bamberg die Abonnentenzahlen für sein Orchester seit 2016 wieder wachsen: „Und es sind vor allem die Studenten aus der Universität, die kommen. Es wird wieder schick, auszugehen. Die jungen Frauen ziehen Abendkleider an, die jungen Männer binden Krawatten um. Man trifft sich zum Date im Konzert.“
Nicht nur für Besserverdienende
Die von Seliger und anderen immer wieder hervorgebrachte Behauptung, klassische Musik sei ein Distinktionsmerkmal von Eliten, die ihre Herrschaft sichern wollen, lässt sich nicht bestätigen. Die wirtschaftliche Elite jedenfalls bildet dort nicht den Löwenanteil. Bei den Besuchern von Festivals mit klassischer Musik gibt es, nach sieben Einkommensklassen gestaffelt, laut Statistik des Musik-Informationszentrums nahezu eine Gleichverteilung, also ein fast einkommensunabhängiges Interesse. Der Anteil von Menschen mit einem monatlichen Nettoeinkommen von weniger als 1500 Euro liegt mit 12,1 Prozent sogar um ein Prozent höher als bei allen, die über mehr als dreitausend Euro pro Monat verfügen. Dass klassische Musik etwas für Besserverdienende sei, die Rituale ihrer Machtbefestigung benötigten, ist ein Vorurteil. Nur die Verbindung von höherem Schulabschluss und Interesse für klassische Musik ist signifikant belegbar. Doch Bildungsstand und Einkommen korrelieren schon lange nicht mehr; und als Herrschaftselite ist das Bildungsbürgertum bereits im Kaiserreich zerrieben worden.
Es sind offenbar gebildete, nicht immer zahlungskräftige oder besonders mächtige Menschen, die klassische oder ganz neue Musik hören, wie jene Psychotherapeutin Patricia, die zu den Wittener Tagen für neue Kammermusik fuhr (F.A.Z. vom 2. Mai), um den Kopf von den „Sprachhülsen“ ihres Alltags zu befreien. Zu diesen Sprachhülsen gehört auch das empirieresistente Gerede von der „Klassikkrise“.