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FAZ.NET-Fernsehkritik: Leiharbeiter bei Amazon : Made in China

  • -Aktualisiert am

Am Versandhändler Amazon kommt kaum jemand vorbei Bild: dpa

Die ARD hat eine berührende Reportage über die Leiharbeiter beim Internetriesen Amazon gezeigt. Das Geschäftsmodell beruht auf Einschüchterung und Misstrauen.

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          Was passiert, wenn in einem System alle Nachteile haben und nur einer profitiert? Sollte man es dabei belassen oder es ändern? Sollte es vor allem derjenige ändern, der die Regeln bestimmt und trotzdem zu den Verlierern gehört? Diese Fragen scheinen einfach zu beantworten. Warum ist es dann aber möglich, dass wir am Beispiel Amazon einen Konzern haben, der als Einziger einen Nutzen aus den geltenden Regeln zieht und trotzdem niemand etwas ändert? Warum das so ist, konnte am Mittwochabend in der ARD auch nicht geklärt werden. Das lag aber nicht an der Weigerung des Unternehmens, Fragen zu beantworten - diese müssten in diesem Fall gar nicht erst gestellt werden. Dafür wurde in der Reportage „Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon“ deutlich, wie es hinter den Fassaden dieses Internet-Riesen aussieht. Mit einem Umsatz von 6,5 Milliarden Euro kontrolliert er mindestens 20 Prozent des deutschen Online-Handels und in gleicher Größenordnung den Buchmarkt.

          Volkswirtschaftlich gesehen ist es völlig gleichgültig, wo jemand seine Bücher oder Schuhe bestellt. Am Ende muss sich immer ein Käufer finden, der diese Produkte bestellt. Aus den Erlösen werden die Löhne, die Sozialversicherungsabgaben und die Steuern bezahlt. Der Rest ist der Gewinn des Unternehmens. In der „Sozialen Marktwirtschaft“ sollen am Ende alle ihren Nutzen haben. In ihr muss niemand mit dem Mittel der Einschüchterung arbeiten. Nur: Warum braucht Amazon dann eine Sicherheitsfirma namens H.E.S.S? Mitarbeiter dieser Firma, so wurde in dem Beitrag deutlich, bewegen sich im rechtsextremen Milieu und bedrohten die recherchierenden ARD-Journalisten. Vielleicht, weil nur so das Amazon-Geschäftsmodell sicherzustellen ist? Mit der „sozialen Marktwirtschaft“ hat das jedenfalls nichts mehr zu tun.

          Einschüchterung als Geschäftsmodell

          Die beiden Filmautoren, Diana Löbl und Peter Onneken, schilderten akribisch, wie Einschüchterung bei Amazon als Geschäftsmodell funktioniert. Das Unternehmen betreibt in Deutschland sieben Distributionszentren, in denen vor allem Leiharbeitnehmer beschäftigt werden. Die Einschüchterungskette beginnt schon bei deren Anwerbung im europäischen Ausland. Statt eines versprochenen Beschäftigungsverhältnisse bei Amazon kommt kurz vor Vertragsbeginn eine Leiharbeitsfirma namens „Trenkwalder Personaldienste GmbH“ ins Spiel. „Bei Trenkwalder steht der Mensch im Mittelpunkt – das ist der Kern einer vertrauensvollen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Mitarbeitern und Kunden“, so formuliert es das Unternehmen auf seiner Firmenhomepage. Was das heißt? Sie bieten der spanischen Kunstlehrerin Silvina einen Arbeitsvertrag an – mit reduzierten Konditionen. Untergebracht werden die Mitarbeiter etwa für das Amazon-Logistikzentrum in Bad Hersfeld in einem insolventen Freizeitpark. Dafür verantwortlich ist die CoCo Job Touristik GmbH & Co. KG. Immerhin kann sich einer darüber freuen: Laut einem Bericht der Hersfelder Zeitung vom 15.12.2012 freute sich der Insolvenzverwalter des Freizeitparks über die „tolle Geschichte“ und die „dringend benötigte Liquidität“.

          Amazon, hier das Logistikzentrum in Los Angeles, dominiert den Internethandel
          Amazon, hier das Logistikzentrum in Los Angeles, dominiert den Internethandel : Bild: dpa

          Was die „tolle Geschichte“ für die Leiharbeiter bedeutet, erzählen die Autoren in atmosphärisch dichten Bildern. Sie hatten das, was guter Journalismus braucht: Zeit. Sie mieteten sich ebenfalls in dem Freizeitpark ein und es gelang ihnen, die Wirklichkeit europäischer „Wanderarbeiter“ zu skizzieren. Ein Begriff, der ansonsten für chinesische Verhältnisse benutzt wird. In der Struktur unterscheiden diese sich aber nicht vom Amazon-Geschäftsmodell. Was in China die armen Landprovinzen sind, ist in der EU Süd- und Osteuropa. Von der Unterbringung über den Bustransfer bis zur Überwachung durch die Sicherheitsfirma werden tausende Mitarbeiter zu bloßen Objekten degradiert. Sie werden nur für ein Ziel gebraucht: Den Geschäftserfolg von Amazon sicherzustellen.

          „Eine Kleinigkeit in dieser Maschine“

          Diese Wanderarbeiter sind keine klassischen Arbeitnehmer, wie es in den Lehrbüchern der sozialen Marktwirtschaft formuliert wird, mit Rechten und Pflichten. Sie werden zu einer „Kleinigkeit in dieser Maschine“, so drückte es die Kunstlehrerin aus Spanien aus. H.E.S.S sei allgegenwärtig - und die Einschüchterung funktioniert in der Weise, wie es einer ihrer Mitarbeiter formulierte: „Das ist unser Haus. Das sind unsere Regeln. Ihr müsst das machen, was wir sagen.“ Das geht, gut dokumentiert, bis zur Verletzung der Privatsphäre. Wer sich wehrt, muss mit Entlassung rechnen. Ein Verdi-Funktionär schilderte die Folgen dieser Einschüchterungskultur und des institutionalisierten Misstrauens: „Sie“, die Wanderarbeiter, „sagen gar nichts, fressen den Frust in sich hinein.“ Sie brauchen das Geld und hoffen auf eine Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Diese Hoffnung ist trügerisch und endete bei Silvina mit der Entlassung kurz vor Weihnachten.

          „Ich bin nicht für diese Sklavenarbeit“, so formulierte es einer der Fahrer, die jeden Tag den Bustransfer erledigen. Nur ist er selber eine bloße Kleinigkeit in dieser Amazon-Maschine. Der Konzern ist der größte Profiteur, seine Handlanger heißen Trenkwalder,  CoCo Job Touristik GmbH & Co. KG und H.E.S.S. Amazon ist bekannt für seine kreative Buchhaltung und weist für sein Deutschland-Geschäft Verluste aus. Das schadet nicht nur dem deutschen Staat, sondern allen Wettbewerbern, die sich gegenüber ihren Mitarbeitern fair verhalten.

          Diese Maschine hat die Politik gebaut

          Volkswirtschaftlich bringt das keinen Nutzen: Man kann seine Bücher beim örtlichen Buchhändler kaufen. Nur hat nicht Amazon diese Maschine gebaut, sondern die deutsche Politik. Sie erst hat den chinesischen Wanderarbeiter in Deutschland möglich gemacht. Warum das so ist, konnte am Mittwochabend in der ARD nicht geklärt werden. Die Frage ist aber auch überflüssig geworden. Die Politik kann es nämlich wieder ändern - und schon heute damit anfangen. 

          „Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon“ lief am Mittwoch um 22:45 Uhr und ist in der Mediathek der ARD zu sehen.

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