Oskar Negt, Sozialphilosoph : Ein Achtundsechziger wird achtzig
- -Aktualisiert am
Oskar Negt bei sich zuhause: Philosoph in Hannover Bild: dpa
Kein anderer Philosoph dieses Landes hat ein derartiges Gespür für die Probleme der Arbeitswelt. In besonnenem Ton hat Oskar Negt einen Marxismus ohne dogmatische Verhärtung entwickelt und gelehrt. Heute feiert er achtzigsten Geburtstag.
Mit einer vergleichenden Arbeit über die Gesellschaftslehren von Hegel und Auguste Comte wurde er 1962 von Adorno promoviert. 1970 gab Oskar Negt den Diskussionsband „Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels“ heraus. Als sich Max Horkheimer 1971 über die Zukunft der „Kritischen Theorie“ äußerte, brachte er als Nachfolger für Adornos Lehrstuhl zwei Namen ins Gespräch. Der eine war der des unlängst verstorbenen Alfred Schmidt, eines Philosophen des Materialismus, der andere aber der des Gesellschaftstheoretikers Oskar Negt.

Freier Autor im Feuilleton.
Es kam anders. Schmidt übernahm die Rolle, im Bürgertum (unter anderem als Freimaurer) die „humanistischen“ Grundgedanken der Frankfurter Schule in gemäßigter Form weiter zu vertreten. Negt aber, der schon 1970 nach Hannover berufen worden war, wirkte in die Arbeiterbewegung hinein, klassischen demokratisch-sozialistischen Ideen treu. Den Gewerkschaften schrieb er ins Stammbuch, sie möchten weiterhin den Utopien Raum in ihrer Ideenwelt geben. Es dürfte unter gewerkschaftsnahen Denkern keinen geben, der so wie Negt in der klassischen deutschen Philosophie zu Hause ist (sein Buch „Kant und Marx“ erschien 2005), und keinen Philosophen, der so nahe Fühlung zu den Problemen der Arbeitswelt hält.
Nahe Königsberg wurde er geboren; nach dem Krieg kam seine Familie in ein dänisches Auffanglager. Spät hat er sich dazu geäußert; es bleibt ein Problem der Linken, dass sie - wie auch Günter Grass, der erst 2004 in seinem Roman „Im Krebsgang“ über die Tragödie des Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“ schrieb - zunächst für Jahrzehnte das Thema der Vertreibungen gemieden hatte.
Negt war ein Achtundsechziger ohne den rohen Habitus, den viele der Matadore pflegten. Selbst scharfe Thesen äußerte und äußert er in einem besonnenen, ostpreußisch-verlangsamten Ton, und das nicht ohne Witz. Wir erinnern uns eines beiläufigen Wortes von ihm, das wir als Inbegriff skeptischer Weisheit schätzen lernten: Menschen ändern gelegentlich ihre Ansichten, sagte er, aber nur selten ihre Motive.
Großen Erfolg hatte Oskar Negt bei seiner Zusammenarbeit mit Alexander Kluge, der aus der gleichen Frankfurter Pflanzstätte kam. „Geschichte und Eigensinn. Geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen - Deutschland als Produktionsöffentlichkeit - Gewalt des Zusammenhangs“, 1981 erschienen, ein fast 1300 Seiten starker Wälzer, wurde geradezu ein Kultbuch der langsam in die Glaubenskrise geratenden Linken. Der Vorgängerband „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (1972, ebenfalls gemeinsam mit Alexander Kluge verfasst), behauptet noch heute einen beachtlichen Verkaufsrang. Neben dem phantasierenden, sehr sprunghaft denkenden Kluge bewährte sich Negt als strengerer Arbeiter des Begriffs; man kann es im Netz sehen, wenn beide ein Gespräch über Hegel führen.
Am 1. August feiert Oskar Negt seinen achtzigsten Geburtstag. Sein Verlag (Steidl) schenkt ihm zum Fest eine Werkausgabe in neunzehn Bänden. Schöner kann es für einen Philosophen nicht kommen. Hegel hat (bei Suhrkamp) gerade mal einen Band mehr.