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Überwachung : Kontrolle außer Kontrolle

Die Staatsmacht probt die Einrichtung der Gedankenpolizei für das Welthirn Internet. Was Sicherheit herstellen soll, vermehrt die Unsicherheit gewaltig.

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          Der demokratische Staat darf nicht arglos sein. Kontrollieren muss er, was in seinem Einflussbereich geschieht, gerade auch dann, wenn er Bürgerrechte schützen will. Aber seine Vollzugsorgane müssen ebenfalls kontrolliert werden. Manchmal stellt sich dann heraus, dass die übermütige Abwehr mutmaßlicher Gefahren Schlimmerem die Tür öffnet.

          Wer sich unverdächtig wähnt, wird sagen: „Sollen sie nur spähen, ich habe nichts zu verbergen.“ Äußerungen dieses Zuschnitts machen einen vornehmen Bogen um die bildkräftigen Ausdrücke der Computersicherheitssprache. Die spricht von Ratten, nämlich RATs (Remote Access Tools), wenn Rechner der Verfügung ihrer Anwender entzogen werden. Die spricht von Zombies, um die mit dergleichen infizierten Rechner zu bezeichnen. Fahnder, so hat die Republik am Sonntag erfahren, haben Ratten losgelassen, um Zombies zu züchten. Staatliche Hoheitsträger haben damit gegen Direktiven des Bundesverfassungsgerichts verstoßen.

          Die Code-Automaten, die sie dazu benutzt haben, sind zu kapern. Wer damit überwacht wird und sich aufs Programmieren versteht, dem öffnet sich ein Füllhorn von Daten anderer Überwachter. Dies gibt nach der ersten Analyse durch den Chaos Computer Club, dem die betroffenen Stellen damit den Hinweis auf eine ernste Sicherheitslücke verdanken, der Affäre den Beigeschmack einer Gaunerkomödie. Am Freitag sind zuständige Stellen durch eine in diesen Belangen erfahrene Mittelsperson vom Stand der Dinge unterrichtet worden, so dass Missbrauchsspielräume gesperrt werden können.

          Rechtlich bindende Ideen

          Jeder Biedersinn, der „nichts zu verbergen“ hat, krankt angesichts dieser Tatbestände nicht nur an fehlendem Unrechts- und Grundrechtsbewusstsein, sondern vor allem an einer 2011 mit nichts mehr zu entschuldigenden Informationsverarbeitungsschwäche. Die ist im Begriff, zum Ferment umfassender sozialer Desintegration auszuwuchern. Denn in der deutschen Verfassung steht nicht, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, die Medienfreiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz seien hehre Ideale, fromme Wünsche oder tolle Ideen. Da steht, und zwar am Anfang, damit man es nicht vor lauter Websurfer-Augenmüdigkeit überliest, die genannten sittlich hochstehenden Einrichtungen „binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“.

          Bertolt Brecht wollte wissen, was der Überfall auf eine Bank sei gegen die Gründung einer Bank. Jetzt kann man fragen: Was ist ein Telefonabhörskandal gegen Keylogger, die erlauben, alles zu registrieren und zu speichern, was jemand auf einer Computertastatur anstellt, von der Passworteingabe über private Textentwürfe bis zu Online-Kommentaren oder Formulareinträgen? Was ist ein Voyeur gegen jemandem, der Screenshots fremder Bildschirme im willkürlichen Überwachungstakt abfragen kann? Was sind James Bonds Mikrokameras gegen einen Portscanner?

          Verborgene Echokammern

          Die Freizügigkeitsgarantien, Persönlichkeitsschutzmaßregeln und Sicherheitsversprechen der Bundesrepublik gelten auf einem Territorium, das nicht allein von physischen Kontrollpunkten zur Erstellung individueller Bewegungsprofile seiner demokratischen Souveräne, sondern auch von verborgenen Echosammelstellen der Umleitungsaktivitäten unübersehbar zahlreicher Proxyserver punktiert ist. Dieses Gemeinwesen findet Gefallen an den kommerziellen und Sicherheitsvorzügen von Radio Frequency Identification Chips und Biometrie, an elektronischer Bonitätsüberprüfung von Kreditsuchenden und Closed Circuit TV im öffentlichen Raum.

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