Kirstin Breitenfellner
Vita
Wuchs in Kufstein/Tirol und ab 1972 in Bensheim an der Bergstraße (Deutschland) auf.
Sie studierte Germanistik, Philosophie und Russisch an den Universitäten Heidelberg und Wien und lebt und arbeitet seit 1989 als Autorin, Literaturkritikerin, Journalistin und Yogalehrerin in Wien.
Werke (Auswahl): Bevor die Welt unterging. Roman. Wien 2017 (Picus), reger reigen. Gedichte. Wien 2017 (Passagen), Lisa und Lisa dürfen bleiben. Kinderbuch, ab 7, Wien 2016 (Picus), Wir Opfer. Warum unsere Kultur den Sündenbock braucht. München 2013 (Diederichs), Die Überwindung des Möglichen. Roman. Berlin 2012 (Edition Voß im Horlemann Verlag), Das Echo des Fischs heißt Schiff! Kinderbuch, ab 5, Wien 2012 (Picus), Robbe Emma haut ab oder Was ist ein Roboter? Kinderbuch, ab 3, Wien 2012 (Edition Atelier), Falsche Fragen. Roman. Innsbruck 2006 (Skarabæus), das ohr klingt nur vom horchen. Gedichte. Innsbruck 2005 (Skarabæus), Der Liebhaberreflex. Roman. Innsbruck 2004 (Skarabæus)
Auswahlbibliografie


Textfläche
Der Liebhaberreflex
Thomas war der erste Liebhaber, den ich kennen lernte, ein Frauenmann, ein Mann, der erst wirklich lebt, der sich nur selbst erlebt, wenn er seine Wirkung bei Frauen spürt. Nicht auf Frauen. Der Frauenmann ist nicht eitel wie der Macho, er fühlt sich nicht gut, weil er Frauen zu gefallen, sondern weil er in ihnen Gefühle zu erwecken vermag. Er ist süchtig nach den Gefühlen von Frauen und vervollkommnet im Laufe der Jahre die Kunst, Gefühle zu erwecken, bis zu einem Stadium, in dem weder er selbst noch die Frau sagen könnten, ob die Leidenschaft, die Romantik zwischen ihnen gewachsen und aufgeblüht ist oder im Reagenzglas gezüchtet wurde. Der Liebhaber hat etwas von einem Wissenschaftler, aber noch mehr von einem Künstler, einem Virtuosen, der Kunst am lebenden Objekt bevorzugt, an Objekten, die man nicht anfassen, aber trotzdem oder vielleicht gerade deswegen umso besser formen kann: Gefühlen.
Ich hielt mich für unbestechlich. Es kam mir nicht der leiseste Verdacht, dass es sich um ein Spiel handeln könnte. Ich wusste vor allem nicht, dass man sein Herz öffnen, sich ganz fallen lassen kann und dennoch ohne Einsatz spielen. Das Spiel, in das ich wie in eine Wirklichkeit eintrat, hat mich verdorben und korrumpiert. Ich leide, Jahre später, immer noch an den Nachwirkungen. In den Augen des alternden Schauspielers, den behexenden, verzaubernden Samtaugen, die ich fürchte, indem ich mich vor mir selbst fürchte, habe ich Thomas wiedergesehen. Ja, ich habe ihn geliebt. Und er war glücklich mit mir. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Vielleicht zum letzten Mal in seinem Leben. Denn ich bin überzeugt, dass auch in ihm etwas zerbrochen ist damals. Ich bin überzeugt, dass er immer noch damit beschäftigt ist, das nicht zu sehen. Er kann Spiel und Wirklichkeit immer noch nicht auseinander halten.
In der ersten Zeit nach der Trennung dachte ich, dass Thomas eine Chance, seine letzte Chance verpasst hätte. Aber womöglich hat er niemals eine besessen. Vielleicht war er auch gar nicht glücklich, und ich habe mir das nur eingebildet. Vielleicht hatte er seinen Spaß – und basta.
Neben dem Studium las ich damals schon Korrektur, seit kurzem auch bei einer kleinen Theaterzeitschrift. Es war mein dritter Tag.
”Das ist also die neue Lektorin.”
Ich erschrak, als ich plötzlich einen Mann in der Türe stehen sah, der aussah wie Robert Redford in seinen besten Jahren, und das sind bei einem Mann, der länger braucht als eine Frau, um den Kopf von den größten Flausen zu reinigen, die Mittvierziger. Der Mann strahlte, zeigte seine Fältchen, die in einem Kreis um seine kastanienbraunen Augen wuchsen, fuhr sich durch das dichte, dunkle Haar und blickte sich dann neugierig, aber entspannt im Raum um.
Die Hauptwaffe des Liebhabers ist sein angeborener Charme, dessen Wirkung er eines Tages verblüfft entdeckte. Schon seine Kindergärtnerin konnte ihm nicht böse sein. Da sein Charme dem Liebhaber alle Türen geöffnet hat, hat er nie die Notwendigkeit verspürt, sich anzustrengen oder andere Qualitäten zu entwickeln. Ein Liebhaber ist kein Karrierist und Ehrgeizling, er bleibt auf der Ebene stehen, auf die ihn seine natürlichen Fähigkeiten gespült haben, und das ist immer eine Ebene zu hoch für seine beruflichen Fähigkeiten. Dort ist er zufrieden und wird von seinen Mitarbeitern wegen seiner Umgänglichkeit auch gerne geduldet.
Thomas war Chef vom Dienst, Finanz- und Personalchef des ”Theaterbretts”. Er hatte kein Bewerbungsgespräch mit mir geführt, sondern mich einfach auf eine Empfehlung telefonisch engagiert. Ich hatte seine Stimme gleich sympathisch gefunden.
”Das ist also die neue Lektorin”, sagte er und schaute mich erwartungsvoll an. ”Hoffentlich ist sie mit dieser kleinen Kammer zufrieden.”
”Korrektorin”, konterte ich halb lachend, halb verlegen mit Betonung auf dem ersten O und hoffte, ihm nun nicht den Unterschied erklären zu müssen.
Aber er grinste mich nur an und musterte mich kaum verhohlen von unten bis oben, wobei seine Augen wie zufällig an meinen Brüsten hängen blieben. Ich wurde rot. Nach dem Weckerläuten hatte ich ein bisschen zu lange nachgedöst und dann schnell in irgendwelche Klamotten springen müssen. Oft schimpfe ich mit mir, dass ich so wenig Zeit darauf verwende, mich zu stylen, wie man heutzutage sagt, aber ich habe einfach nicht genug Zeit für so etwas. Jeans, Shirt, Jacke, ein bisschen Lippenrot und dann noch schnell eine Kette oder einen Ring – das ist mein übliches Katzenstyling, wenn es keinen besonderen Anlass gibt oder ich morgens mit dem Bedürfnis aufwache, mich schön zu machen.
”Eine hübsche Kette haben Sie da, Frau Korrektorin”, sagte er, ebenfalls das erste O betonend, ”sehr, wie soll ich sagen, ungewöhnlich.”
Ich liebe ausgefallenen Schmuck, dicke Ringe und Ketten mit großen vereinzelten Elementen (die einzige Extravaganz, die ich mir leiste), und fühlte mich sofort erkannt. Ich sah zum Fenster hinaus, aber Thomas’ mittelgroße, leicht athletische Gestalt stand auf meiner Netzhaut, und ich wurde sie nicht mehr los.
Ich wusste damals noch nicht, wie das Spiel, das Verführungsspiel, das Ekstasespiel, das Spiel des Aufgewühltwerdens, funktioniert, eigentlich nicht einmal, dass es auch in Wirklichkeit und nicht nur in Fernsehserien und Romanen existiert. Ich wusste nicht, dass manche Männer einen sechsten Sinn für die geheimen Vorlieben und Schwächen von Frauen entwickelt haben und dass es nur bedingt mit Einfühlungsvermögen zu tun hat, wenn man sich von ihnen erkannt fühlt.
Trotzdem wusste ich schon in diesem ersten Moment, der das Bild von Thomas’ Gestalt, seinem sympathischen, schalkhaften Lachen in meine Netzhaut eingebrannt hatte, in dem ich aus dem Fenster sah und nicht wusste, ob ich lachen oder weinen, davonlaufen oder ihm in die Arme stürzen sollte, dass dieser Mann mir das Herz brechen würde. Ich sah seinen Ehering und wusste, dass die Beziehung zum Scheitern verurteilt war, wie man so schön sagt. Dass ich am besten gleich wieder gehe. Aber ein kleiner erlebnishungriger Dämon flüsterte mir zu: Warum nicht? Man muss Erfahrungen machen, man darf sich nicht verschließen vor dem Leben. Ich blieb.
Falsche Fragen
Die Frau, fast noch ein Mädchen, stieg mit einem Bein, einem hellrosafarbenen Gazellenbein, das nie einen Sonnenstrahl gesehen zu haben schien, auf die unterste Stufe einer Leiter. Die Leiter war weiß, das Haar der Frau ebenfalls, weißblond und zu einem strengen Schwanz zusammengebunden. Sie trug ein hautenges, kurzes Strickkleid und hing mit einer Hand an der Leiter, die ins Nichts führte, in der anderen hielt sie eine kleine orangefarbene Handtasche aus glänzendem, glattem Leder, verziert mit Pferdehufen und Steigbügeln.
Komm mit, forderte ihr Blick, egal wohin. Der Blick des Betrachters jedoch, denn es konnte nur ein Mann sein, der sie ansah, war nicht auf ihre Augen gerichtet, sondern auf ihr Gesäß, das klein und kantig war wie ein Knabenpopo.
Wie wollte sich die Frau, das Mädchen, das vorgab zu wissen und sich dort auf eine mehr als riskante Kletterpartie einließ, festhalten an der Leiter, breit und rutschig, mit nur einer Hand? Und was befand sich in der Handtasche? Was war dort oben, jenseits des Bildes, wo kam man dort an?
Maya zog sich die Haube tiefer ins Gesicht. Sie hatte keinen Grund, sich zu verstecken, aber hier konnte sie jederzeit erkannt werden, und Maya hatte keine Lust auf neugierige Fragen und mitleidige Blicke. Sie sah sie vor sich, fremde Augen, die ihren von der Sonne dunkel gewordenen Teint taxierten und sie für eine aus dem Bergland hielten, eine bedauernswerte Gestalt, die sich von einer dubiosen Religion unterdrücken ließ.
Maya spuckte auf dem Boden. Verachtung lag darin, für die Frau auf der Leiter, die ins Nichts stieg, ätherisch schön und nutzlos, die ihr Leben verschwendete, ein Racheengel an sich selbst. Verachtung für all die anderen, die sehen konnten und nicht wissen wollten. Ein Schwindel setzte sich auf ihre warmen Ohren, und für einen kurzen Augenblick überwältigte sie der Wunsch, die Haube herunterzureißen. Dabei war es hier deutlich kühler als zu Hause im Bergland. Und die Haube dämpfte immerhin den fürchterlichen Lärm der Autos.
Maya hatte den ganzen Tag noch nicht gespuckt, wahrscheinlich hatten die Schlacken schon ihren Kreislauf erreicht. Sollten sie Maya doch ruhig für primitiv halten, sie, die nichts wussten von der Strahlung und den Schlacken, nichts wussten von der Erlösung. Sollten sie auf Leitern klettern, mit abgemagerten Körpern und leeren Handtaschen. Sie würden schon sehen, was sie davon hatten. Dass sie nirgendwo ankamen, dass sie abstürzen mussten.
Maya ging auf die Kreuzung zu, da bog ein Wagen ohne zu blinken links ab und schnitt einem Radfahrer in kurzen, engen Hosen den Weg ab. Maya sprang zurück auf den Gehweg. Ihr Herz schlug Alarm. Sie schloss die Augen, atmete kurz durch, zählte bis fünf und wollte wieder auf die Straße treten, als ein weiterer Radfahrer klingelnd auf sie zufuhr. Er machte keinerlei Anstalten auszuweichen.
Dagegen war der Verkehr im Bergland ja harmlos, obwohl sich dort niemand an die Regeln hielt. Dort wussten alle, wo sie hinwollten, was sie dort suchten und wozu sie unterwegs waren. Deswegen kamen alle irgendwie durch in diesem nur scheinbar heillosen Gewusel. Wahrscheinlich war das der Unterschied.
Hier fuhren alle drauflos, schnell nach vorne, nach Hause oder irgendwohin, ohne daran zu denken, was sie dort anfangen würden mit der gewonnenen Zeit. Ohne zu bemerken, dass es sich nicht lohnte, schnell anzukommen, wenn man unterwegs unter die Räder kam, dass es keinen Sinn hatte, seinen Körper vor ein Metallgerät zu werfen, weil Gott das nicht vorgesehen hatte.
Maya flüchtete rückwärts, in Richtung Campus, und setzte sich auf eine Bank. Neben ihr saß ein Pärchen in entrückter Umarmung. Das Mädchen trug einen knielangen Rock und ein kurzes Top. Maya fror. Fingen sie jetzt auch noch an, die Jahreszeiten zu leugnen und die Naturgesetze?
Maya kramte in ihrem Rucksack nach dem Stadtplan. Das Sozialmedizinische Zentrum war mit der Straßenbahnlinie fünf zu erreichen, sie konnte hier am Campus die Dreierlinie nehmen und dann zwei Stationen später umsteigen. Hatte Bernd Helga davon informiert, dass sie kam? Und würde ihre Mutter überhaupt in der Lage sein zu verstehen?
Die Überwindung des Möglichen
Alles zeigte sich in einem bestimmten Licht. Aber sah es auch wirklich so aus, wie es sich zeigte? Oder gab es so eine Wirklichkeit gar nicht? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, wie immer, wenn sie über das Licht nachdachte, über die Beleuchtung und das Bildermachen. Schließlich waren Fotografien ja nur eine Aufzeichnung von Lichtwellen, die von Gegenständen reflektiert wurden. Eine materielle Spur des Gegenstands, aber nicht dieser selbst.
In ein paar Minuten würde sie den Laden schließen und mit der U-Bahn zu dem Markt jenseits des mehrspurigen Gürtels fahren, der die Innenstadtbezirke einkreiste und hinter dem die Hochburgen der Migranten begannen, flankiert von Villenvierteln, die ins Grüne einer hügeligen Waldlandschaft ausliefen.
Wenn die Stände schlossen und die Waren gerade weggeräumt wurden, während schon die ersten Lampen brannten, die gegen die Helligkeit von oben noch nicht richtig ankamen und bedauernswerte, kleine, zum Dekorativen verdammte Lichtkegel bildeten, die aussahen wie Vergnügungspark-Girlanden oder eine Karussellbeleuchtung, konnte Tinka auf ihren Fotos diese schwer greifbare Stimmung erzielen, zwischen Realität und Traum.
Dieses Mal hörte sie die Ladenglocke. Eine Frau schob ihren Rücken von hinten durch die Eingangstür, etwas klemmte offenbar. Als Tinka begriffen hatte, dass es ein Kinderwagen war, hatte die Frau diesen schon rückwärts hereingezogen. Das Kind schlief. Die Frau rastete die Bremse ein und ließ den Wagen vor Tinka stehen.
Sie sah müde aus. Mit einem „Ich schau mich nur mal um“ begann sie ihren Rundgang durch den Laden. Tinka betrachtete das Kind, seinen willenlos zur Seite gerutschten runden Kopf und seine verschmierten Wangen, auf denen Nahrungsreste eingetrocknet waren. Auch der Wagen war voll verkrusteter Spuren, vermutlich vom Sandkasten.
Am Fußsack, dessen Reißverschluss offen stand, klebten Bananenreste. Die dicken, polstrig eingekerbten Finger des Kindes umklammerten einen halben Keks, die Krümel des restlichen halben hatten sich auf Jacke und Schal verteilt.
Sein weicher Mund war, da sein Köpfchen zur Seite gerutscht war, zusammengedrückt, nach vorne geschoben und glänzte dunkelrot, die Wangen leuchteten, und die feinen Haare in der Stirn flimmerten mit jedem Atemzug. Tinkas Gedanken wollten soeben zu einer Schlussfolgerung ansetzen über die Hilflosigkeit und das Älterwerden, da klingelte schon wieder die Ladenglocke.
Das Kleine ließ einen spitzen, jammernden Ton fahren und fing an zu plärren, ohne die Augen zu öffnen. Mit einer einzigen Bewegung hatte die Mutter, die gerade das Porzellankindchen mit den verrosteten Schultergelenken in die Hand genommen hatte und fragen zu wollen schien, was es kostete, dieses wieder hingestellt, war zum Wagen gesprungen, hatte das nun stärker schreiende Kind herausgenommen, die Bremse gelöst und den Wagen energisch Richtung Tür geschoben.
Tinka, die ihr Preisangebot gerade innerlich von zwanzig auf achtzehn Euro reduziert hatte, von konnte eben noch dazwischen springen und mit einem „Warten Sie, ich helfe Ihnen“, die Türe öffnen. Mit heftigen, wütenden Schritten eilte die Frau, das Kind fest umklammert, mit der anderen Hand den Wagen schiebend, davon. Tinka schaute ihr erschrocken nach und unterdrückte den Impuls, ihr nachzulaufen.
Als sie in den Laden zurückkam, stand ein junger Mann darin.
„Hier ist es aber duster“, meint er und sah sich suchend um.
Bevor Tinka reagieren konnte, hatte er schon den Lichtschalter gefunden. Die zwei langen Neonröhren, die Tinka nur in Notfällen anschaltete, gaben knackende Geräusche von sich und flackerten so heftig, dass Tinka schon drauf und dran war, sie wieder abzudrehen. Sie überlegte noch, ob ein Sprung oder auch nur Gang zum Lichtschalter nicht übertrieben wirken würde, da ergoss sich schon das grelle, unfreundliche Licht über sie, das von Schmeicheln nichts wusste und Gesichter entweder bleich oder gerötet aussehen ließ.
„Jetzt sieht man erst den ganzen Staub“, sagte der junge Mann trocken, und Tinka wusste nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte.
Reger Reigen
ein ort
die liebe sei ein ort der zweirealitäten
verbündet ohne wort imaginiert als träten
ein wir in den raum ganz ohne regelwerk
im keim ein traum ergebnislos und unverwehrt
unwiederbringlich unverhofft die zukunft
pflanzt als same sich selbst unbekannt und
kaum vorhersehbar so klar ins jetzt die form
ein schweben war balance ganz feurig keine norm
ein halbakt zog sie hin sank kopf auf stirn
exakter klinkt sich rhythmus ein in stamm und hirn
entzündet gegen die wahrscheinlichkeit
gesetz und segen seelenheimlich kleid und leid
der sinn umschifft die bucht das buch noch ungeschrieben
spurt sich ein und sucht den augenblick durchtrieben
nicht durchdacht so überlebensvoll und planlos sorgenfrei
die haut aus weitung eben toll berührt und nebenbei
die gegenwart begegnung kein schicksal eine wahl
wen die liebe findet aufgedeckt ein augenmahl
die auszeit eine regung aufgeschreckt die ruhe kündigt
wenn die liebe zündelt lippenweise und gebündelt
versteckt
sie lässt den raum
der heimlichkeit unheimlich auf
die angst so unverdeckt
verschlankt und fast verreckt
und kaum siehst du gefangen
dich selbst und selbst umgangen
im nacken kein vergehn
so teuer kommt zu stehn
ein spiel aus sicherheit, genuss
ganz wolkenleer ein schuss
ins offene, ins allverlangen
bodenlos ins auszubangen
lichtend
sie blankt herauf
die wolken leuchten auf
so feucht im lauf
aus not so händeleer
nackt auf dem meer
begehren und begehr
reibt ein so glatt geboren
im morgenschein verloren
taglicht ausgesetzt und wild verschworen
der begegnung einem luftblatt satt
im glanz und doch der erdennacht vermacht
verherzend
verherzend ergreift sich die faust eine brust
flicht zaumweich ins haarkleid erregung
ins auge so taub setzt das ohr auf unendlich
je süßer die schmerzen getrost die empfängnis
erscheint das gesicht aufgeblättert und bloß
schaut körpernd das ich reißt sich los
eine furcht bleich die hoffnungsbewegung
zu greifen sanglich bogengroß die lust
verschlichtend
es schichtet schwer sich ein
die ordnung löst sich kein
versprechen ein so klein
das chaos droht der stille stil
verwickelt in verletzung, sag, ich will
und los die furcht so kümmerlich subtil
nicht einfach kaum so neu der raum
nicht einfach wahr und doch so klar
im gleichgewicht so federlicht und schlicht
verfließend
sie fließt nicht ein
erwartung still genossen
auf sicht gebeten scheint
das ich so umverschlossen
es ist und nie ganz mein
im blick ganz ausgegossen
vielfältig ein gesicht so rein
aus schmerzen neu gestoßen
zu halten fast zu klein
die pflanze ich im großen
in ehren acht auf dein und sein
rinnt aus so unverflossen
Bevor die Welt unterging
Sie hatte Anders schon lange beobachtet. Wie er tanzte und da- bei seine schlaksigen Glieder lässig um sich warf, wie er, einer plötzlichen Eingebung folgend, in die Knie ging, die Hüften seitwärts schwang und sich wieder emporschnellen ließ.
Sein Gesicht lächelte dabei ohne Unterbrechung, aber so, als ob er davon nichts merken würde. Er sah aus, als ob er für sich alleine tanzte, nicht für die anderen, so wie die meisten auf der Tanzfläche, die heimlich Blicke auf das Stufenpodest warfen oder es bewusst ignorierten. Denn dort saßen die anderen, die Feiglinge, Zuschauer und Juroren.
Die Unsicheren, die nur so taten, als ob sie tanzten, versuchten, nirgends anzustoßen, während sie von einem Fuß auf den anderen trippelten, mit steifen Hüften und in sich gewandten Blicken.
Anders tanzte, wie man nur tanzen konnte, wenn es keine Re- geln gab. Wie man nur tanzen konnte, wenn man nicht dachte. Judith sollte Anders drei weitere Monate lang beobachten, bis sie sich zum ersten Mal auf die Tanzfläche trauen würde.
Sie würde tanzen wie er und sich dennoch zum ersten Mal frei fühlen. Sie würde tanzen, bis sie ihren Kopf nicht mehr spürte, nur noch die Glieder, die taten, was sie wollte, und doch der Musik gehorchten, in ihren Rhythmus schlüpften und hüpften vor Freude.
Judith würde ihren Kopf schütteln, bis die Bilder verschwammen und sie sich zum ersten Mal mit Leben füllte. Sich eins mit dem Leben fühlte. Was immer das war, das Leben. Tanzen war wie Drogen, nur besser.
Sie wusste, dass Anders kiffte, aber das machte ihr nichts aus. Sie würde es einmal probieren und dann wissen, dass es nichts für sie war. Sie würde steif daliegen, mit Ameisen von Angst im Kopf und einem Krampf in den Gliedern, ausgeliefert und eingesperrt in ihre Gedanken, die wie gefährliche, innovative Insekten versuchten, ihr Gehirn umzubauen.
Sie nannten es stoned, und Judith hatte keine Ahnung, was daran gut sein sollte. Ab da würde sie sich weigern zu kiffen, umso mehr, je mehr sie sich damit aus der Gemeinschaft aus- schloss. Sie wollten Freaks sein, frei sein und unangepasst, aber wenn jemand nicht mitmachte, waren sie gekränkt.
Sei spontan! Wenn Judith diesen Wahlspruch hörte, der Befreiung und Zwang so perfide vereinte, schnürte es ihr die Brust zusammen. Sei spontan, das hieß, dass man tun sollte, was sie taten.
»Ich hatte gestern das Gefühl, dass du dich ein wenig zurück- gezogen hast«, hieß es dann später, in den WGs, vor allem von jenen, die davon ausgingen, dass alles, was man besaß, auch ihnen gehörte, und wenn es die eigene Seele war, was umgekehrtaber nicht galt, und wenn es nur den von der Mutter geschickten Gugelhupf betraf.
Rückzug war nicht erlaubt, gefordert war, loszulassen, sich einzubringen, engagiert zu sein, authentisch zu sein. Was immer das war.
(…)
Judith und Anders gingen im Wald, sie versuchten zu begreifen, was das alles bedeutete. Dass der Wald starb und die Menschen ihn nicht retten wollten, dass sie einander liebten und die Welt nicht verstanden.
Den Politikern fiel nichts Besseres ein, als Atomsprengköpfe und Mittelstreckenraketen aufzustellen und das Nachrüstung zu nennen statt Wettrüsten, als das Abschreckung und Gleichgewicht des Schreckens zu nennen statt Drohung.
Die Mächtigen, die Politiker und die Wissenschaftler und die Industriebosse, bauten Atomkraftwerke und Atomraketen und Atombunker, die nichts helfen würden, immer neue Fa- briken und immer höhere Schornsteine, die den sauren Regen in Gebiete verteilten, in denen es gar keine Industrie gab.
Sie waren nicht sicher. Der Wald starb schleichend. Er log sie an mit seinem heimeligen Rauschen und seiner grünen Pracht. Der Atomschlag hingegen würde mit einem Schlag oder vielmehr Blitz kommen, ohne Ankündigung und ohne Chance, ihm zu entgehen. Der radioaktive Staub würde lautlos auf sie herabrieseln und sein Tod in sie hineinkriechen und aus ihnen herauseitern.
Sie hielten einander im Arm, Hänsel und Gretel in einem Wald, der immer lichter wurde, zwei von vier Milliarden Hoff- nungen, über die die Mächtigen nur lachten.
»Ich weiß jetzt, warum man sagt, dass Liebe aus dem Herzen kommt«, sprach Anders’ Stimme in Judiths Verzweiflung wie eine Nachricht von einem fremden Stern.
Judith sah ihn erstaunt an.
»Da ist so ein Druck auf dem Herzen«, sagte Anders und sah sie an mit seinen braunen Augen, voll Kindlichkeit und Kummer, »so ein Druck, dass ich vor Glück am liebsten laut schreien würde.«
Anders konnte Dinge aussprechen, die Judith unter dem Herzen drückten und die sie nicht einmal auf das Papier ihres Tagebuchs brachte.
Sie war so glücklich wie noch nie in ihrem ganzen langen kurzen Leben. Ihr Herz ging auf, als Anders unter ihr T-Shirt fuhr und ihre Brüste streichelte, an ihnen sog wie ein Ertrin- kender. Einer, der von seiner Kindheit noch nicht genug hatte und schon mit dem Tod flirtete, und wenn es auch nur der kleine Tod war, den sie Orgasmus nannten. Seine Hose war nass, als sie nach Hause gingen.
Judith verabschiedete sich an der Ecke von Anders. Sie wollte ihn ihren Eltern morgen vorstellen. Es war besser, wenn sie ihn erst sahen, bevor sie etwas über ihn und seine Familie erfuhren. Alle mochten Anders. Anders musste man einfach mögen.