Im Büro wird es nicht mehr richtig hell. Es gab aber auch schon lange keine Nacht mehr. Die Zeiger der Wanduhr sind bei Viertel nach sieben stehen geblieben, ich weiß nicht, ob morgens oder abends. Ich habe die Tische zu einem langen Rechteck in der Mitte des Raums zusammengeschoben. Es sieht alles nicht mehr sehr ordentlich aus. Zeitschriftenstöße, Bücher und Aktenordner, in der Mitte eine Kuhle, in der ich schlafe. Ich verlasse das Büro nicht mehr, weil ich beunruhigt bin. Die schwarzen Retro-Telefone drängen sich auf einem Fleck zusammen und winseln immer wieder in leisen Sirenentönen, aber ich habe schon lange nicht mehr abgenommen. Es kam immer nur ein seltsames Knarren aus den Hörern, die Anrufe scheinen nicht mir zu gelten.
Frau Falter kommt in unregelmäßigen Abständen. Sie schmeisst den Laden. Ob sie gemerkt hat, dass ich den Zweck des Büros und meiner Anwesenheit hier vergessen habe? Eigentlich sollte ich mich beglückwünschen. Ich habe eine Mitarbeiterin, die so tüchtig ist, dass ich fast alles an sie delegieren konnte. Nur die Funktion des Entscheiders liegt noch bei mir. Weil ich schon lange nichts mehr esse, werde ich immer schlanker und wirke immer jünger. Ich spreche mit Frau Falter nicht über Privates, aber ihre Blicke zeigen Anerkennung. Sie macht die Termine für die Auswahlverfahren. Die Interviews finden in einem kleineren Raum neben dem Büro statt. Meine Aufgabe ist es, nach den Terminen zu entscheiden, wer nach Wolfratshausen kommt und wer nach Murnau. Ich muss nicht dabei sein. Es gibt einen großen Einwegspiegel, durch den ich die Interviews beobachten könnte, aber das tue ich schon lange nicht mehr. Ich setze mich dann in die andere Ecke des Büros und höre, was über den Lautsprecher kommt. Die Zahl der Kandidaten ist in letzter Zeit stetig gestiegen, deswegen sind wir zu Sammelinterviews übergegangen, man könnte sie auch Auditions nennen.
Was die jungen Leute sagen: welche Ausbildung sie hatten, welche Praktika, welche Herausforderungen sie annehmen wollen, und was bei ihnen schon amputiert wurde, ihre Biographien, das ist ja oft sehr ähnlich. So kommen nette Chöre mit sieben oder neun Stimmen zusammen, manche Informationen erklingen unisono, dann wieder lösen sich Arien heraus, zuletzt mündet alles in ein aufgeregtes Durcheinanderreden. Ich habe ein gutes Gehör und traue mir schon zu, dass ich erkennen kann, welche Arie von Nummer acht kommt, welcher Misston von Nummer fünf, und ob Nummer drei am Stimmengewirr beteiligt ist oder sich eher zurückhält. Erst nach der Zuweisung der Nummern nach Wolfratshausen oder nach Murnau erfahre ich die Namen. Das sichert meine Objektivität, denn schon ein Name kann einen ja beeinflussen, selbst wenn man das Gesicht eines Menschen nicht gesehen hat. Ich erfahre dann, dass Lily W. nach Murnau kommt, Thomas F. nach Wolfratshausen, und wohin Susa K. kommt.
Meine Unruhe, von der ich anfangs sprach, rührt daher, dass ich nicht weiß, was mit den jungen Leuten in Murnau und Wolfratshausen geschieht. Ich hätte Gelegenheit, Frau Falter zu fragen, wenn sie sofort nach meinen Entscheidungen an den Shredder geht und die Unterlagen vernichtet. Doch dazu fehlt mir mittlerweile der Mut.
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