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Autorenbuch Anja Kümmel Auszug – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Anja Kümmel

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Auszug

(Auszug aus: Träume digitaler Schläfer)


Dies ist kein Test! Dies ist kein Test!, pulsierte unter Ashurs geschlossenen Lidern. Es konnte die Worte sehen – Nachbilder des Monitors vielleicht, direkt in sein Hirn projiziert – schenkte der Warnung jedoch keine Beachtung.
 

Viol hatte Amari als tote Koordinate bezeichnet – ein Ausdruck, der sicher nichts Besorgniserregendes verheißen sollte, und der Ashur trotz allem einen Schrecken einjagte. Dagegen hätten sich die Koordinaten, die Elfs Aufenthaltsort anzeigten, mindestens einmal geregt. Aus irgendeinem irrationalen Grund fand Ashur das tröstlich.

 

Viol schickte es durch dünne Schichten krispen Eises, die von Zeit zu Zeit aus dem Nichts auftauchten. Es war schwer, die verwirrenden Zeichen adäquat zu verarbeiten. Die ersten Male, da es auf die Eis-Konstruktionen zusteuerte, verkrampfte sich jeder Muskel seines Körpers. Seine Sinne riefen ihm die Textur des grünen Sesselbezugs ins Bewusstsein und versuchten gleichzeitig, ihm auf irgendeine Weise des analogen Erkennens zu vermitteln, dass es im Begriff war, ein winterlich beschlagenes Fenster zu durchbrechen. Etwas, das den Anschein erweckte, hart und scharfkantig zu sein.

 

Dies ist kein Test! Dies ist kein Test!

 

Afferente Geisterfahrer in efferenten Bahnen. Unzählige Kollisionen, gleich den Explosionen im Innern eines Fusionsmotors. Erstaunlich schnell passte sich Ashurs Wahrnehmung dem veränderten Sensorium des Gitters an. Das kakophonische Gezeter, das zwischen Muskeln, Augen, Ohren, Haut und Hirn entbrannt war, trat rasch in den Hintergrund, um schließlich ganz zu verklingen. Die synästhetische Orgie war beendet.

 

Schichten um Schichten der Eiskristalle tauchten auf, und Ashur gewöhnte sich daran, mit Leichtigkeit hindurch zu gleiten wie durch eine vertikale Wasseroberfläche im gravitationslosen Raum. Bald schon bekam dieses schwerelose Schwimmen eine beinahe tranceartige Qualität. Kaum noch spürte Ashur, wie sich Viols Hand von Zeit zu Zeit auf seine Schulter legte, und auch seine schweißigen Finger auf den Armlehnen des grünen Sessels nahm es kaum mehr wahr.

 

Das Gleiten durchs Eis begann Ashur Spaß zu machen. Dagegen war das Gitter geradezu öde. Enttäuschung machte sich in ihm breit, als das High der fremdgesteuerten Bewegung und der Sinneserweiterung abgeklungen war.

 

Koordinatenmatrix, wie das Negativ eines Schachbretts, so weit das Auge reichte. Himmelloser Horizont. Je schneller Viol Ashurs Identität bewegte, desto stärker wurde das Gefühl, sich überhaupt nicht zu bewegen. Die Gitterstruktur raste dahin, verschwamm zu einer monochromen Fläche. Ab und an tauchten konturenlose Unregelmäßigkeiten auf, wie minimal gegeneinander verschobene Raster in schlecht gerenderten Innenräumen. Doch nie schaffte Ashur es, die Moirés zu klaren Bildern zusammenzusetzen. Viol hatte es darüber aufgeklärt, dass es eine Weile dauern würde, bis sein Sensorium sich gänzlich an die veränderten Reize im Netz adaptiert hätte. Auch für ein von Geburt an Gehörloses, das nach einer späten Operation wieder hören lernt, wirkten zunächst alle von außen einströmenden akustischen Signale wie ein einheitliches schrilles Pfeifen.

 

Ashur raste dahin, mit der inneren Empfindung des Stillstands, unter ihm das zu uferlosem Grau verwischte Gitter. Eine Luftspiegelung tauchte auf, die sein gesamtes Blickfeld einnahm und dessen molekulares Zittern sich verdichtete, je näher Ashur kam. Strukturen kräuselten das Gitter. Fügten sich, kurz bevor Ashur sie erreichte, zu einer Wand kristallener Eisblöcke. Massives Eis, in das Ashur binnen Millisekunden hineinknallen würde!

 

Sein untrainiertes, im grünen Sessel zurückgelassenes Bewusstsein kreischte auf. Versetzte seinen Körper abermals, obwohl wie durch Watte, in höchste Alarmbereitschaft.

 

Es war zu spät. Ashur trat in die Mauer ein.

 

Reflexartig wollte es die Augen schließen, doch das ging nicht. Die Wand nahm es auf, wie zäher Schleim. Elastisches Eis, stellte es überrascht fest, von dem eine ferne Kühle ausging, die seine Haut kaum erreichte. Ein Gewicht auf seiner linken Schulter. Ashur löste sich aus der mentalen Verkrampfung, versuchte, seine Umgebung nüchtern zu scannen.

 

Die Struktur, die es umfing, schimmerte bläulich. Der beruhigende Druck auf seiner Schulter hielt an. Es raste nicht mehr, sondern floss, zäh wie das liquide Kristallgebilde selbst. Gerade als es sich zu fragen begann, wie dick die Eismauer sein mochte, war es wieder draußen. Merkte es zunächst an der relativen Wärme. Das Gitter hatte keine Temperatur, fühlte sich jedenfalls nicht kalt an, wie das sonderbare Eis, das es eben durchdrungen hatte.

 

Instinktiv registrierte Ashur, dass es sich im Innern von El Paraiso befand. Etwas veränderte sich. Ashur begann zu sehen.

 

Ein purpurner Himmel zog auf, angestrahlt von einer nicht vorhandenen Sonne, die Ashurs Orientierungssinn zufolge irgendwo in seinem Rücken stand und gerade unterging. Blutende Wolkenknäuel rasten vorbei, als hielte jemand voller Ungeduld die Fast-Forward-Taste gedrückt. Ashur hatte keine Möglichkeit, das Schauspiel anzuhalten. Einen Moment lang völlige Dunkelheit, als das Licht in einem letzten hastigen Schluck verging. Dann öffnete sich erneute Farbenpracht. Diesmal ein Panorama, das Ashur die Gitterstruktur vergessen ließ. Zuerst war da ein sanft gerippter Meeresspiegel, auf den es hinab blickte, wie von einer leichten Anhöhe.

 

Die Bilder wurden intensiver. Jetzt spürte Ashur auch einen kühlen, salzigen Windhauch. Und mit ihm eine unerklärliche Sehnsucht, die nicht seine eigene war. Durch wessen Augen schaute es? Hatte es gelernt, wie ein Netzläufer zu sehen?

 

Gleichzeitig war da weiterhin das Gefühl, gelenkt zu werden, bewusster und zielgerichteter sogar, nach dem Durchdringen des Eises um El Paraiso. Zum ersten Mal, seit Viol es ins Netz geschickt hatte, und im selben Maße, wie es zu sehen begann, wurde der Wunsch stärker, Viol abzuschütteln, den Blick zu richten, wohin es wollte.

 

Viols Willen folgend schwebte Ashur über das Wasser, während seinen Füßen vorgegaukelt wurde, sie stünden auf festem Grund. Indes war die fremde Sehnsucht durch alle Poren seines semipermeablen Seins gedrungen und breitete sich in ihm aus, als sei sie dort zu Hause. Die Sehnsucht kannte ihr Ziel genau. Wie das Endorphin seinen Geist mit einer einzigen Flutwelle in eine Tabula rasa verwandelt hatte, überschwemmte sie sein Ich – sofern man behaupten konnte, dass nodale Modi ein Ich besitzen.

 

Schneller ging es voran, immer schneller. Die Sehnsucht transformierte sich, je mehr sie zu einem Teil seiner Netz-Konfiguration wurde, in kinetische Energie. Ashur, über das Wasser fliegend, ging auf in eine windschnittige Spindel, deren Stirnseite magnetisch war. Doch bevor sich die kybernetische Transformation gänzlich vollziehen konnte, verschwand die Vision des Meeres. Die Gitterstruktur kehrte zurück. Sie war nicht mehr zweidimensional und bewegungslos, sondern schien auf unerklärliche Weise zu leben. In periodischen Schwankungen sirrten die Koordinaten und wölbten sich. Mehrere Male war Ashur kurz davor, erkennen zu können, was dort aus der zweiten Dimension in die dritte drängte.

 

War dies das legendäre Paradies? Die oft zitierte Hölle? Ein Scheppern hallte aus den Tiefen der Matrix – die Rückkopplung seines eigenen Lachens.

 

Wo ein Echo war, musste irgendetwas sein, ein Widerstand … Kaum hatte Ashur dies gedacht, flogen Bilderfetzen in sein Hirn – Flashbacks vergessener Erinnerung?

 

Es lag auf kahlem Steinboden. Schnitt. Es lag noch immer. Spürte jetzt den Boden. Er war hart und kalt. Schnitt. Noch immer lag es, dieses Mal auf Stroh. Schnitt. Es war nicht allein. In seinem Rücken ein rauer, hoher Singsang unverständlicher Worte. Schnitt. Ein altmodisches, bauchiges Gefäß, aus dem Flüssigkeit sickerte. Schnitt. Nichts. LANGE. Nichts. Schnitt. Etwas stimmte nicht. Es gelang ihm nicht, den Kopf zu heben. Schnitt. Da war eine Stimme, die es kannte. Tiefer, volltönender. Schnitt. Von der anderen Seite. Es versuchte zu verstehen, was sie sagte. Schnitt. Sie sagte ... Schnitt. Immer kam die Dunkelheit zu schnell. Ashur war zurück im Netz. Einige Augenblicke lang war ihm, als sei es nicht allein in seiner digitalen Konfiguration.

 

Das magnetisierte Gezogenwerden hielt an. Ashur konnte nun immer gezielter Unregelmäßigkeiten in der Matrix erfassen. Es näherte sich einem Knotenpunkt, der besonders intensiv zu leben versuchte. Von ihm ging die Bilderflut aus.

 

Das Sirren ballte sich; es nahm eine stereoskopische Form an, erhob sich, bewegte sich auf Ashur zu.

 

Es war nicht Elf. Nicht das Elf, das Ashur in der Schwebebahn gesehen hatte. Und doch war es Elf. Ashur erkannte es an seinem Gefühl. Die Bilder zuckten schneller.

 

Druck an der Schläfe. Schnitt. Kälte. Schmerz. Hände um den kahlen Schädel.Schnitt. Ein Murmeln in den Mauern.

 

Ashur merkte erst, dass seine Identität still stand, als die Konfiguration, von der es wusste, dass sie Elf war, beinahe bei ihm angekommen war. Jener Teil von ihm, der im grünen Sessel saß, rief: „Viol, ich hab Elf gefunden! Ich stehe direkt vor ihm! Ich könnte es berühren!“

 

Aber im Netz war sein Ruf nicht zu hören. Er wurde überdeckt vom white noise, der von der Struktur ausging, die auf Ashur zukam. Sie war ihm nun sehr nah. Sah Elf es nicht? Würden sie zusammenstoßen? Elf würde ihm ausweichen, sicherlich, abdrehen, kurz bevor ...

 

Der white noise schluckte alles.

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