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Autorenbuch Dirk Werner Kusch mit Freunden – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Dirk Werner

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Kusch mit Freunden


„Hast du das gehört?“ Alfons packte meinen Arm.
„Nein. Was denn.“ – Er wies auf den kleinen Lautsprecher, der in jedem Zimmer über der Tür angebracht ist. Eine helle Frauenstimme sagte optimistisch: „Lassen Sie auch manchmal den Kopf hängen? Blasen Sie Trübsal? Wissen Sie nicht ein noch aus? – Dann seien Sie herzlich eingeladen zu ,Kusch mit Freunden', am kommenden Montag, Beginn 20 Uhr…“
„Kusch mit Freunden.“ Alfons bewegte bedächtig seinen Kopf. Dann sah er mich an. „Wollen wir da hingehen?“
Seine Frage traf mich mitten ins Herz. So mitten rein. Und dennoch – ich dachte dasselbe wie er.
„Ich habe mein Testament gemacht“, sagte Alfons. „Schon lange. Und du…“ Er brauchte nicht weiter zu sprechen. Er wusste, dass meine Kinder nicht mehr zu mir ins Heim kamen, seit bei mir nichts mehr zu holen war.
„Aber ,Kusch mit Freunden’ – hieß der Verein nicht anders?“, versuchte ich noch eine kurze Ausflucht.
„Vielleicht mussten sie ihn umbenennen“, flüsterte Alfons. „Vielleicht werden sie beobachtet und verfolgt…“ Er warf sich auf den Fußboden und starrte unter mein Bett: „…seit er diesen alten Frau in Würzburg ins Jenseits geholfen hat.“ Dann lag er dort eine Weile. Schließlich erhob er sich stöhnend und kopfschüttelnd. „Wir haben Glück. Da ist keiner“, flüsterte er, ehe er mich verließ und in sein Zimmer ging, das gleich neben meinem liegt.
Am Montag gingen wir fünf vor acht in den kleinen Essensaal gleich neben dem Fahrstuhl. Vier Frauen saßen schon in dem Zimmer, jede für sich an einem Tisch. Wir quetschten uns auf zwei Stühle in die hinterste Ecke, und nachdem uns jede der Frauen lange und traurig betrachtet hatte, kehrte wieder Ruhe ein.
„Was wird’n das hier“, fragte ich Alfons – leise, falls eine der Frauen  „Kusch mit Freunden“ insgeheim ausspionierte. Ich wies auf die beiden leeren DIN-A4-Blätter vor uns.
„Darauf wirst du nachher schreiben, dass es nicht Herrn Kuschs sondern allein deine Idee war, hierher zu kommen. Und dass er dir nur ein bisschen seelischen Beistand dabei geleistet hat – mehr nicht“, wisperte Alfons zurück.
„So“, machte ich. „Aber…“ Ich zeigte auf die Malkästen. Alfons klappte seinen auf und wies auf die Farbtabletten in ihren Fächern. „Davon acht Stück, aufgelöst“, er zeigte auf das Wasserglas, „und du bist hinüber.“ – Ich zog ein Gesicht. Noch nie hatte ich von einem Suizid durch Wasserfarben gehört.
„Vielleicht ist das eine besonders schmerzarme Methode“, setzte er beruhigend hinzu.
„Und die hier.“ Über das Fernsehen und die Zeitung hatte ich ein paar vage Informationen über Herrn Kuschs Aktivitäten erhalten. Aber Faserstifte? Sie lagen auf jedem Tisch herum, ein paar von ihnen waren hinten angekaut, von manchen fehlten die Kappen.
„Davon reichen sechs“, versetzte Alfons. „Die Farben sind hochgiftig. Und die Flecken gehen nicht wieder raus.“
Ich hatte die Nase voll. Ich wollte es doch lieber noch einmal mit meinen Kindern versuchen. Aber Alfons machte gleich weiter. Er griff sich den Radiergummi von der Tischplatte, hielt ihn mir vors Gesicht und steckte ihn sich dann in den Mund. Eine Weile kaute er angestrengt darauf herum, dann verschluckte er ihn. Oder tat er nur so? Jedenfalls fing er an, auf seinem Stuhl herum zu zappeln, griff sich mit beiden Händen an die Gurgel, und seine Augen tränten und traten hervor. Von den Frauen rührte sich niemand. Keine drehte sich nach uns um. Sie verhielten sich so, wie man es von Hochdepressiven erwartet.
Unversehens kehrte Alfons aber zu uns Lebenden zurück. Er nahm den nassen Radiergummi aus seinem Mund, legte ihn wieder an seinen Platz und murmelte: „Also wirklich, das ist ein scheußlicher Tod.“
„Vielleicht sollten wir jetzt lieber gehen?“, fragte ich ihn. Es war fünf nach acht.
„Nicht bevor wir uns mit den Möglichkeiten hier vollständig auseinander gesetzt haben“, kehrte Alfons’ Lebensmut zurück. Er nahm zwei der angespitzten Bleistifte in seine Fäuste und tat so, als würde er sie sich beidseits in die Ohren rammen. Mir war schon ganz schlecht, aber er führte mir auch noch vor, wie man seinem Leben ein Ende bereitet, indem man sich die Stifte von vorn bis weit in die Augenhöhlen spießt.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein junger Mann trat ein. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, einen Dreitagebart und eine scheußlich moderne Brille.
„Ist das der ehemalige Hamburger Innensenator“, fragte ich Alfons, der die Stifte von seinen Augen nahm.
„Ich weiß nicht“, sagte er. „Vielleicht einer seiner Freunde.“
Der Mann kam zu uns herüber. Behutsam nahm er Alfons die Stifte aus den Händen. Dann richtete er das Wort an alle im Raum.
„Guten Abend. – Die Tristesse hat Sie alle hergeführt. Das Graue des Alltags. Die Schwere des Alters, die auf Ihren Schultern lastet… Und vielleicht auch die Sorge vor einer ungewissen Zukunft.“
Er machte eine Pause und klappte einen Farbkasten auf. „Darum lade ich Sie herzlich ein zu ‚Tusch mit Freunden’. Jeden Montag wollen wir uns treffen, um gemeinsam Spaß an Farben und Formen zu finden. Für den Anfang malen Sie einfach, was Ihnen einfällt.“
Alfons und ich starrten uns an.
„Kann’s auch ein Baum sein“, fragte er den jungen Mann.
Der nickte erfreut. „Selbstverständlich.“
„Mit einem starken Ast?“
Mir schien es, als hätte der junge Mann vor Begeisterung fast in die Hände geklatscht.
„Mit einer Schlinge dran?“, fragte Alfons auch noch, ehe ich ihn endlich aus dem Zimmer zog.
Vor seiner Zimmertür verabschiedeten wir uns.
„Heute Abend kommt ein Dokumentarfilm über Dostojewski. Bei arte. Muss ich
unbedingt sehen.“
„Na, ich doch auch“, sagte ich, ehe ich in mein Zimmer ging.
Keiner von uns beiden guckt arte. Wir gucken beide ZDF. Vielleicht ist das aber ein Zeichen von Depression.

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